Bretagne 2015 – 5. Tag: Von Brioches, Altglas-Philosophie und gefüllten Blasen

Wache morgens mit einem leichten Kratzen im Hals auf. Schlucke ein, zwei Mal und ja, es ist eindeutig ein Hauch von Schmerz zu spüren. Hoffentlich ist keine tödliche Männergrippe im Anmarsch und rafft mich dahin wie ein siechendes Tier. Die Freundin teilt meine Befürchtungen allerdings nicht ganz und sieht das Ganze mit wenig Empathie und dafür umso mehr Pragmatismus. Sie findet es tröstlich, dass die Nähe zum Meer wenigstens eine günstige Seebestattung ermögliche.

Verzichte sicherheitshalber auf das heutige Joggen, um dem geschwächten Leib nicht zu viel zuzumuten. Der Bonner Freund drückt ein paar halbherzige Worte des Bedauerns aus, scheint aber nicht besonders unglücklich zu sein.

Esquibien. Morgenromantik.

Esquibien. Morgenromantik.

Absolviere statt des Laufs mit dem Rad die Berg-Tour zum Bäcker. Warum das für meinen Körper besser sein soll als das Laufen, weiß ich auch nicht. Aber am fünften Urlaubstag sollte man auch nicht mehr allzu viel logisches Denken erwarten. Zumindest nicht von mir. Wobei die Erwartungen diesbezüglich auch im normalen Arbeitsalltag bei mir nicht allzu groß sein sollten.

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Nach dem üblichen schweißtreibenden Fünfzehn-Minuten-Ritt durch die bretonische Berglandschaft steure ich die Bäckerei vom ersten Tag an. Ob sich die fröhliche Bäckersfrau an den schwitzenden radebrechenden Deutschen erinnert? Ich weiß es nicht. Sie lässt sich auf jeden Fall nichts anmerken und begrüßt mich genauso freundlich wie alle anderen Kunden.

Bestelle zunächst – im Gegensatz zu gestern – unfallfrei Baguettes und Croissants. Euphorisiert durch diesen unerwarteten Erfolg in der französischen Parlierkunst, verlasse ich die gewohnten Pfade. Auf der Theke steht nämlich ein köstlich aussehendes Brioche. Wenigstens glaube ich das, bin mir aber nicht sicher. Meine Gier macht mich leichtsinnig und ich frage mit gespielter Souveränität: „Il est Brioche?“

Um zu unterstreichen, dass es sich um eine Frage handelt, gehe ich am Ende des Satzes mit der Sprachmelodie nach oben und werde außerdem etwas lauter. Möglicherweise etwas zu laut. Höre mich an wie ein blökender Widder, der „Brioche“ rülpst.

Dies scheint in der Bretagne aber nicht unüblich zu sein und die Verkäuferin stört sich nicht weiter daran. Ohnehin ignoriert sie meine Frage und antwortet mit einer Gegenfrage. Ob ich einen ganzen oder einen halben Laib von was immer es ist haben möchte. Verstehe die Frage nicht. Warum sollte man von etwas, das so lecker duftet und appetitlich aussieht, nur die Hälfte kaufen?

Gebe der Bäckersfrau daher zu verstehen, dass ich gedenke, das ganze Brioche zu erwerben, indem ich sage: „Totalimente.“ Ist das überhaupt Französisch? Oder doch Italienisch? Sehr wahrscheinlich keins von beidem. Mache daher noch unterstützend mit meinen Händen eine kreisrunde Bewegung um das Brioche herum. Die Verkäuferin kapiert, was ich will, und packt den ganzen Laib ein. Ich sollte mein Geld als Pantomime verdienen!

Verlasse glücklich mit meinen Backwaren den Laden und radle gen Ferienhaus. Beflügelt durch das verlockend duftende Brioche in meinem Rucksack fahre ich mit ungewohnter Leichtigkeit die steilen Berge hinauf. Denke über eine späte Karriere als Profi-Radfahrer nach.

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Bei unserem ausgiebigen und reichhaltigen Frühstück erweist es sich es von Vorteil, dass ich das ganze Brioche gekauft habe. Es bleibt nichts von ihm übrig. Genauso wenig vom Baguette und den Croissants. Das gute Wetter sollte für die nächsten Tage somit gesichert sein.

Frühstückstisch. Gedeckt.

Frühstückstisch. Gedeckt.

Heute führt sich der Wettergott, aber noch wie eine launische Diva auf. Für einen Strandbesuch ist es vormittags noch zu bewölkt und windig. Da nach den ersten vier Urlaubstagen mehr Sand im Haus als am Strand vorhanden ist, muss erst einmal überall gesaugt und gewischt werden. Außerdem steht auch noch ein Großeinkauf für die nächsten Tage an.

Der Bonner Freund schlägt vor, dass die Frauen das Haus übernehmen und die Männer zum Supermarkt fahren. Erstaunlicherweise geht der Vorschlag durch.

Als erstes schreiben wir die Einkaufsliste auf einem DIN A4-Blatt zusammen (Vorder- und Rückseite). Stelle dabei fest, dass wir die Ernährungspyramide revolutioniert haben. Unser täglicher Urlaubs-Speiseplan besteht zu großen Teilen aus fettigem, kohlenhydratreichem und süßem Essen. Eine Art inverse Atkins-Diät, bei der Low-Carb strikt abgelehnt wird.

Vitaminreiche Lebensmittel sind dagegen auf unserem Zettel eher unterdurchschnittlich vertreten. Schreibe daher fürs gute Gewissen noch ein paar Alibi-Äpfel auf die Liste.

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Auf dem Weg zum Supermarkt wollen wir das Altglas entsorgen, das sich in den ersten Tagen angesammelt hat. Wir packen eine nicht gerade kleine Plastiktasche, die bis oben hin und darüber hinaus mit Flaschen gefüllt ist, in den Kofferraum. Als der Bonner Freund und ich um die erste Kurve biegen, fällt die Tasche samt Flaschen um und ein durchdringender Alkoholgeruch breitet sich im Auto aus. Ein bisschen wie früher, als man mit 18 nach einer Fete wochenlang leere Bierkisten in seinem Auto rumkutschierte und es in der Karre stank, wie in einer billigen Hafen-Pinte. Habe ich mal von einem Freund gehört.

Am Supermarkt versenken wir dann die Flaschen mit möglichst großem Radau in den Containern. Frage mich dabei, ob es eigentlich sozial akzeptierter ist, täglich kleine Mengen von leeren Alkoholflaschen wegzuwerfen oder in längeren Zeitabständen große Mengen von Flaschen wegzubringen. Und zählt in Frankreich Wein überhaupt als Alkohol? Oder stempeln einen nur die leeren Bierflaschen als saufenden Assi ab? Fragen über Fragen der Glascontainer-Philosophie.

Stelle beim Betreten des Supermarkts fest, dass wir unsere Einkaufsliste zuhause vergessen haben und die Einkäufe aus dem Kopf rekonstruieren müssen. Es gelingt uns dennoch, an alles zu denken. Außer an Strohhalme. Die brauchen wir zum Hugo trinken. Aber ich bin mir sicher, dass wir das Zeug auch so hinunter bekommen.

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Nachdem die Einkäufe alle zuhause verstaut sind, hat sich das Wetter so weit aufgeklart, dass wir zum Strand fahren können. Diesmal suchen wir uns einen anderen Strand aus, damit man nicht in einen öden Urlaubstrott verfällt und geistig vollkommen degeneriert, sondern mental ausreichend stimuliert wird. Wie so Tiere im Zoo, die immer erst eine Aufgabe lösen müssen, damit sie Futter erhalten. Da wir ungern einen Purzelbaum schlagen wollen, bevor wir etwas zu essen bekommen, soll stattdessen eine Strandveränderung einen inspirierenden Reiz setzen.

Wir fahren daher zum Strand von Plouhinec, einem 4.000-Seelen-Dorf gegenüber von Audierne, dessen größte Sehenswürdigkeiten diverse Kirchen und Kapellen sind und wo das Leben auch sonst pulsiert. Der Strand von Plouhinec ist aufgrund des hohen Wellengangs bei Surfern sehr beliebt und bietet gleichzeitig genügend Sandstreifen, um sich als Familie mit seinem gesamten Strand-Hab und Gut auszubreiten.

Strand von Plouhinec. Gefährlich.

Strand von Plouhinec. Gefährlich.

Die Strandidylle ist für mich allerdings ein wenig eingetrübt durch den Umstand, dass ich beim Verlassen des Ferienhauses dachte, eigentlich sollte ich noch schnell auf Toilette gehen. Und dann dachte, so dringend ist es doch noch nicht. Am Strand stellt sich jetzt heraus, dass der erste Gedanke richtig, der zweite dagegen falsch war. Meine Blase ist zum Bersten gefüllt und ich muss dringend aufs Klo. Sehr dringend.

Es gibt für mich drei Optionen, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien:

  1. Eine öffentliche Toilette aufsuchen: Diese Option scheidet aus, da es am Strand von Plouhinec keine öffentlichen Toiletten gibt.
  2. Ins Wasser gehen und sich erleichtern: Diese Option ist ebenfalls nicht praktikabel, denn das Wasser ist entschieden zu kalt. So kalt, dass ich gar nicht wüsste, woraus ich pullern sollte.
  3. Somit bleibt nur noch die letzte Option übrig: In die bretonische Natur gehen und der eigenen Natur freien Lauf lassen (Ein tolles Wortspiel, für das ich gerne einmal den Pulitzer Preis entgegen nehmen werde.).

Allerdings ist auch die dritte Option nicht so einfach in die Tat umzusetzen, denn die bretonische Natur zeichnet sich durch sehr viel Landschaft bei gleichzeitiger fast vollkommener Abwesenheit von Bäumen aus, die als Sichtschutz beim öffentlichen Urinieren fungieren könnten.

Bretonische Landschaft. Ohne Bäume.

Bretonische Landschaft. Bäume Mangelware.

Laufe daher eine gefühlte Ewigkeit über Feld- und Wanderwege (und da es immer stärker pressiert, fühlt sich diese Ewigkeit noch viel länger an). Finde endlich einen ausreichend hohen und dichten Strauch, der mir genügend Schutz bietet, um mein kleines Geschäft zu verrichten. Selten fühlte ich mich geistig und körperlich so erleichtert.

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Kehre an den Strand zurück und erkläre mich bereit, mit dem Sohn und der 4-jährigen Bonnerin ans Wasser zu gehen und sie bei den hohen Wellen zu beaufsichtigen. Die beiden stürmen sofort mit lautem Gebrüll ins kalte Meer. Stecke selbst erstmal einen Fuß ins Wasser und die Kälte lässt mich auf einen Schlag zehn bis fünfzehn Jahre altern. Das bedeutet, ich kann in knapp zehn Jahren in Rente gehen, was ja gar nicht so schlecht ist.

Dann schwappt mir eine Welle bis an den Oberschenkel, was fast einen Herzstillstand bei mir auslöst. Dies würde zwar das sofortige Ende der Erwerbsarbeit bedeuten, aber so richtig geholfen wäre damit auch keinem.

Der Sohn springt derweil begeistert in die Wellen und die 4-Jährige planscht enthusiastisch an der Wassergrenze. Fröhlich beginnt sie mich nasszuspritzen und ignoriert quietschend meinen Protest. Ob es wohl die Freundschaft mit den Bonner Freunden aushält, wenn ich ihre jüngste Tochter an bretonische Ziegenhirten verkaufe? Verzichte lieber auf das Experiment und sage, dass wir jetzt alle aus dem Wasser müssten und nachhause fahren.

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Abends wird (mal wieder) gegrillt, um unsere Ernährungsrevolution nicht zu gefährden.

Bretonische Grillplatte

Bretonische Grillplatte

Gerne würde ich schreiben, dass wir auch heute Abend wieder aufs Kniffeln verzichtet haben. Dann müsste ich aber unterschlagen, dass dem Bonner Freund ein Kniffel mit einem Wurf gelungen ist. Und so etwas darf man nicht verschweigen. Wenn einer einen Einhand-Kniffel wirft, haben ihm nämlich alle anderen Mitspieler zu huldigen. So will es das Gesetz.

Für morgen sagt die Wetter-App eine Regenwahrscheinlichkeit von 85 Prozent voraus. Das kann ja heiter werden (Auch für dieses Wortspiel nehme ich irgendwann gerne den Pulitzer-Preis entgegen).

Wetter von morgen. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 15 Prozent regnet es nicht.

Wetter von morgen. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 15 Prozent regnet es nicht.

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Alle Artikel der „Bretagne 2015″-Serie finden Sie hier.


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