Das Unglück nahm bereits gestern Abend seinen Lauf. Als der Bonner Freund fragte, ob wir morgen – als heute – joggen gehen wollen. Nach der gestrigen Velo-Höchstleistung, wollte ich „Nein“ sagen. Aus meinem Mund kam aber ein „Ja“. Das machen Männer so. Man will ja keine Schwäche zeigen, sondern täuscht Leistungsfähigkeit, Tatendrang und Willensstärke vor. Wie so ein Vollidiot!
Stehen also früh morgens auf der Terrasse und dehnen uns. Das Wetter ist traumhaft schön. Für Südostasien in der Regenzeit. Sonst eher nicht. Es nieselt ziemlich stark und ist sehr neblig. Schaue dem Bonner Freund in die Augen. Er zuckt nicht, ich auch nicht. Das heißt, keiner macht einen Rückzieher und wir laufen tatsächlich. Verdammt!
Esquibien. Wolkenlos bei 29 Grad.
Verlassen unser Grundstück und galoppieren mit der Eleganz und Grazie altersschwacher Shetland-Ponys den Berg hinunter. Die ersten Minuten vergewissern wir uns gegenseitig über unseren mangelnden Trainingsfleiß der letzten Monate, wie unsere Ausdauer darunter gelitten hat und wie weit entfernt wir doch von unserem Idealgewicht sind (Wobei sich dieses angestrebte Gewicht nicht an offiziellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung orientiert, sondern am Presswurstgrad von Anzugshosen.). Unser stampfender Schritt, das rasselnde Keuchen und die leicht spannenden Laufshirts unterstreichen unsere Rede eindrucksvoll.
Wir laufen die gleiche hügelige Strecke, die ich gestern mit dem Rad zurückgelegt habe. Der malerische Blick aufs Meer und das pittoreske Hafenstädtchen Audierne, dem wir entgegenjoggen, entschädigen für unsere körperlichen Mühen.
Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Der Nebel ist so stark, dass man noch nicht einmal den Strand erkennen kann. Außerdem hecheln wir so kurzatmig den steilen Anstieg hinauf, dass unser virtueller Kortex derart beeinträchtigt ist, dass wir unsere Umwelt ohnehin nur schemenhaft wahrnehmen.
Nach gut fünfeinhalb Kilometern haben wir ein Einsehen mit unseren geschundenen Körpern und machen uns auf den Rückweg. Wieder geht es bergauf, bergab, bergauf, bergab. Immer wieder und wieder. Alle entgegenkommenden Läufer weichen uns respektvoll aus. Wir interpretieren dies als extreme Höflichkeit und Gastfreundschaft, bis wir feststellen, dass sie sich vor unseren durch die Anstrengung zu Fratzen verzerrten Gesichtern fürchten.
Als wir wieder am Strand vorbeikommen, schlägt der Bonner Freund vor, dass wir unten an der Wasserlinie entlang laufen könnten. Möchte wieder „Nein“ sagen, aber mein Sprachzentrum gehorcht mir nicht mehr. Stoße einen Grunzlaut hervor, den der Bonner Freund als Zustimmung deutet und sofort den Weg zum Strand einschlägt. Stolpere ihm willen- und würdelos durch den tiefen nassen Sand hinterher.
Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir die knapp 400 Meter Strand hinter uns gebracht und schlagen den Teufelsanstieg zu unserem Ferienhaus ein. Der Bonner Freund verschärft plötzlich das Tempo und springt mit der Leichtigkeit einer jugendlichen Gazelle, die ich ihm ehrlicherweise nicht zugetraut hätte, den Berg hoch.
Möglicherweise hat er bei seinen Beschreibungen über seinen mangelhaften Trainingszustand doch ein wenig übertrieben. Aus Rache könnte ich mit einer letzten Kraftanstrengung von hinten in seine Beine grätschen und über ihn drüber laufen. Aber mein Körper ist zu schwach, um den diabolischen Plan in die Tat umzusetzen. Erreiche erschöpft und ausgepowert wie nach einem olympischen Marathonlauf das Ferienhaus und möchte meine Laufschuhe verbrennen. Belohnen uns anschließend mit einem reichhaltigen Frühstück, bei dem wir die doppelte Kalorienmenge zu uns nehmen, die wir beim Laufen verbraucht haben. Wie so Spitzensportler!
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Nach dem Frühstück hat das Wetter gewechselt von schottischem Hochmoor zu Hamburger Herbst. Beschließe, meiner mir bis dahin unbekannten künstlerischen Ader und Naturverbundenheit zu frönen und gehe in den Garten, um dort Spinnennetze zu fotografieren, die dekorativ mit Tau, Regentropfen und feuchtem Nebel benetzt sind. Die vierjährige Tochter der Bonner Freunde begleitet mich interessiert. Sie besitzt großes Talent im Auffinden der Spinnennetze. Und zeigt sie mir alle. Und besteht darauf, dass ich sie alle fotografiere. Jedes einzelne. Von denen es sehr viele gibt in dem 250 Quadratmeter großen Garten. („Das kannst du fotografieren.“, „Und das.“, „Und das da auch noch.“). Sehen Sie bald mehr davon auf unserem gemeinsamen Fotoblog: „Tekla und ihre 1.000 Freundinnen – Spinnennetze in der Bretagne“. Das wird das nächste große Ding!
Spinnennetz. An Tau.
Nachdem wir eine ganze Weile Spinnen und ihre Netze gesucht und fotografiert haben, will die Vierjährige wissen, wie das mit den Spinnenfäden funktioniert („Kommen die aus dem Po?“), warum Spinnen acht Arme haben („Können die dann gleichzeitig essen und spielen?“) und warum sie in Netzen leben („Die haben kein richtiges Haus, oder?“). Alles sehr berechtigte Fragen, auf die ich keine Antworten weiß („Warum kennst du dich damit nicht aus?“).
Halte auf den benachbarten Feldern und Wiesen nach einem vergammelten Bauwagen Ausschau, in dem Peter Lustig haust. Das wäre jetzt sehr hilfreich. Der wüsste bestimmt Bescheid. Oder er würde irgendeinen Spinnenexperten so penetrant belästigen, bis dieser ihm alles erklärt, Hauptsache er wird den alten Kauz wieder los.
Weil ich keinen Peter Lustig zur Hand habe und es außerdem wieder stärker regnet, gehen wir zurück ins Haus und gammeln ein wenig rum. Weil das viele Nichtstun hungrig macht, besorgen wir im Ort Kuchen für ein ausgiebiges Kaffeetrinken.
Obstsalat. Bretonische Art.
Es gibt Schokoladen-Kouign Amman. Eine bretonische Kuchenspezialität, die aus Schichten von Brioche-Teig, gesalzener Butter, Zucker und Schokoladenmasse besteht. Eine Art zusammengepresster Crêpes mit einer Kaloriendichte im nicht mehr messbaren Bereich und mit vierstelliger Weight-Watchers-Punktzahl. Vermute, dass Kouign Amman übersetzt ‚Bretonisches Senkblei‘ heißt. So liegt es zumindest im Magen.
Bin nach dem Verzehr eines Stücks geneigt, zu glauben, dass es doch einen Gott gibt und er in Form eines Kouign Ammans auf die Erde gekommen ist, um die Menschheit zu beglücken (sofern sie keine Diätassistenten und Ernährungswissenschaftler sind). Wäre in diesem Fall sofort bereit, mich für ein Theologie-Studium einzuschreiben und regelmäßig zum Gottesdienst zu gehen, um Kouign Amman zu huldigen. Gedanken, die man halt so hat, wenn sich kein Blut mehr im Hirn, sondern nur noch im Magen befindet.
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Mit unserem Kaffeetrinken haben wir eigentlich unseren Kalorienbedarf für die nächsten zwei Wochen abgedeckt. Da unser Urlaub aber unter dem Motto ‚Essen wie Gott in Frankreich‘ und nicht unter der Devise ‚Diäthalten wie Gott in Frankreich‘ steht, grillen wir zwei Stunden später.
Der Sohn ist Feuer und Flamme und lässt sich vom Bonner Freund in die Kunst des Grillens einweisen. Wie man die Kohlen aufschichtet, wie man sie anzündet, wann die Glut heiß genug ist, wie man erkennt, dass das Grillgut gar ist und was ein Grillbier ist. Er darf sogar einen Schluck von meinem Bier probieren („Das schmeckt total bitter.“). Aber das ist unser Geheimnis und soll nicht weiter vertieft werden.
Grill. Feurig.
Begeistert assistiert der Sohn beim Grillen, indem er im Akkord Würstchen, Fleisch- und Gemüsespieße sowie Putensteaks zum Grill bringt. Damit leistet er einen wesentlich wertvolleren Beitrag zum Abendessen als ich, der nur neben dem Grill steht, Bier trinkt und ein paar schlaue Sprüche abgedroschene Phasen absondert.
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Das obligatorische abendliche Kniffeln fällt eher unspektakulär aus. Zumindest für mich, denn ich werde an dem Abend nur Dritter. Das ist für Sie bestimmt nicht sonderlich interessant und deswegen erspare ich Ihnen die Details.
Bevor wir ins Bett gehen, sagt der Bonner Freund, dass morgen endlich gutes Wetter sein soll. Wenigstens laut seiner Wetter-App. Da könnten wir doch wieder laufen gehen und das gleich mit dem Brötchenholen verbinden. Sage „Nein“, aber es hört sich anscheinend wie „Klar, warum nicht.“ an. Der Bonner Freund freut sich und wird mich morgen umd 7 Uhr wecken. Gute Nacht!