Trete morgens früh auf die Terrasse und lasse den Blick über den Garten hinaus aufs Meer schweifen. Die Luft ist klar, der Himmel wolkenlos, die Sonne scheint. Ein Tag, wie geschaffen, um ganz Besonderes zu leisten. Um Helden zu zeugen, um Kontinente zu entdecken, um Medizin gegen unheilbare Krankheiten zu entwickeln oder um eine Rhinozerosherde die atlantische Küste entlang zu treiben.
Esquibien. Ein Tag für ganz besondere Großtaten.
Da unsere Familienplanungen bereits abgeschlossen sind, die Erde weitestgehend kartographiert ist und wir über keine nennenswerten medizinisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisse verfügen, entscheiden sich der Bonner Freund und ich für die letzte Option: Wir wollen einen letzten 10-Kilometer-Urlaubslauf einlegen, romantisch und größtenteils ebenerdig verlaufend die Küste entlang in westliche Richtung und dann über die Dörfer zurück nach Esquibien.
Euphorisiert durch die Aussicht eine phantastische Aussicht auf das Meer während des Laufens genießen zu können (Mal wieder ein Formulierung, für die mich zukünftige Generationen von Germanistikstudentinnen und –studenten bewundern werden.), traben der Bonner Freund und ich los. Da ich meine Brille beim Joggen nicht trage – aus Angst, zu stolpern und die Brille irreparabel zu beschädigen, wobei das brillenlose Laufen die Sturzwahrscheinlichkeit überhaupt erst erheblich erhöht – läuft der Bonner Freund vorweg und weist uns den Weg. Kein leichtes Unterfangen bei den eng verschlungenen Pfaden, die häufig steil und noch häufiger steinig und uneben sind. In unserer kleinen Zwei-Mann-Expedition ist der Bonner Freund somit der Kopf, ich bin der Hintern. Eine Arbeitsteilung, die mir gefällt.
Die immer noch in Mitleidenschaft gezogene Rippe ist über den holprigen, steinigen Weg nicht erfreut. Sie schmerzt und fragt, ob ich den Arsch offen hätte, so eine Strecke zu laufen. Der Arsch ist beleidigt, sagt, er habe mit der Streckenwahl nichts zu tun und man solle sich gefälligst an das Kleinhirn wenden. Das Kleinhirn grunzt unwirsch. Eigentlich ist alles wie immer.
Nach gut sechs Kilometern ist der Küstenweg zu Ende und über verschlungene Landstraßen geht es zurück zum Ferienhaus. Zunächst müssen wir eine giftige Steigung von ungefähr 250 Metern bewältigen. Die heutige Laufrunde scheint doch weniger eben zu sein, als gedacht. Gefühlt zieht sich der Anstieg über mehrere Kilometer. Und beim Laufen sind gefühlte Anstrengungen weit aussagekräftiger als gemessene Distanzen. Semi-trainierte, underperformende Hobby-Läufer wissen, wovon ich schreibe.
Im letzten Jahr waren wir die gleiche Strecke schon einmal gelaufen. Und hatten uns dabei hoffnungslos verlaufen. Auch heute wäre es im besten Fall euphemistisch, im schlimmsten Fall gelogen, wenn ich behaupten würde, ich wüsste, wo wir uns gerade befinden. Ich schiebe meine Orientierungslosigkeit auf die fehlende Brille. Als Weitsichtiger bewege ich mich damit argumentativ allerdings eher auf dünnem Eis. Sehr dünnem Eis. Quasi auf Wasser.
Tatsächlich bin ich nämlich ein absoluter Bewegungslegastheniker, wie es ihn auf dieser Erde kein zweites Mal gibt. Geben Sie mir eine voreingestellte Strecke auf der Google Map-App und statten Sie den zurückzulegenden Weg mit blinkenden, neonfarbenen Richtungspfeilen aus – ich würde in die falsche Richtung laufen.
Schaue dem Bonner Freund ins Gesicht. Er strahlt orientierungsmäßig große Zuversicht aus. Ohne Brille erkenne ich seine Mimik allerdings nur schemenhaft und täusche mich womöglich. Vielleicht denkt er, ich wüsste, wo wir lang müssen und verlässt sich auf mich. Für eine solch spektakuläre Fehleinschätzung kennt er mich allerdings schon zu lange.
Just in diesem Moment biegen wir auf eine Straße, die selbst ich erkenne. Wir legen sie seit fast vierzehn Tagen täglich zurück, wenn wir vom Einkaufen nachhause fahren. Der restliche Weg zieht und zieht sich, Kurve um Kurve bis wir schließlich nach vierzehn Kilometern das Ferienhaus erreichen. Die Laufuhr des Bonner Freundes zeigt allerdings nur zehn Kilometer zurückgelegte Distanz an. Wahrscheinlich ein Fehler in der Matrix.
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Das Frühstück gestaltet sich aufgrund des gestrigen Geburtstags recht kuchenlastig. Damit die Speisenauswahl nicht zu einseitig ist, backt die Bonner Freundin noch einen Berg ihrer köstlichen Pancakes (Das restliche Mehl und ein paar Eier mussten noch verbraucht werden.).
Brotlose Kunst. Mit Brot.
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Nach dem Frühstück fahren wir nach Pointe du Raz, ein felsiges Kap ganz im Westen der Bretagne. Dort gibt es einen bei Surfern sehr beliebten Strand mit hohen Wellen, aber gleichzeitig genügend Liege- und Spielfläche für Familien.
Erkläre mich am Strand bereit, mit der 4-jährigen Bonnerin und ihrer Strandküche zu spielen. Als erstes backen wir Sandkucken. Muss zunächst einen Schock verdauen. Die Kleine erklärt mir, sie mag keinen Käsekuchen. Muss mich mal mit ihren Eltern über die kulinarische Erziehung unterhalten. Blumenkohl verschmähen, Rosenkohl ablehnen und Broccoli verweigern ist ja vollkommen in Ordnung, aber keinen Käsekuchen zu mögen ist ein Sakrileg. Die Tochter meint, ich solle mich nicht so anstellen, sie möge schließlich auch keinen Käsekuchen. Mache mir eine mentale Notiz, sie zu enterben.
Für mich sind in der Strandküche wie schon letztes Jahr in erster Linie niedere Hilfsdienste vorgesehen („Du holst mit dem Eimer Wasser. Mir ist das zu kalt.“). Das Arbeiten in der Strandküche ist sehr realistisch. Genau wie in Restaurantküchen unter der Ägide von Sternenköchen herrscht ein rauer, wenig motivierender Ton („Du kannst das nicht richtig. Ich mache das lieber.“). Gewerkschaftliche Rechte werden in der Strandküche mit Füßen getreten („Du darfst noch keine Pause machen. Du bist noch nicht fertig.“) und mit Lob wird gegeizt („Meine Kuchen sehen viel besser aus als deine.“).
Tageswerk. Sandkuchen.
Schließlich ist irgendwann dann doch Feierabend („Wir müssen das jetzt aufräumen.“ – ‚Wir‘ heißt selbstverständlich, dass ich das Sandspielzeug wegräumen muss.).
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Gehe anschließend mit der Freundin ans Wasser, die Surfer begutachten, die sich in den Wellen versuchen. Wir beurteilen kritisch Stil, Technik und Athletik der – in den meisten Fällen – Möchtegern-Wellenreiter. Weder die Freundin noch ich standen jemals auf einem Surfbrett. Das hindert uns jedoch nicht daran, in unserem Urteil hart, schonungslos und vernichtend zu sein („Alles Amateure hier.“).
Pointe du Raz. Ohne Wellenreiter.
Wie so ein bräsiger, adipöser Fußball-Fan, der Bier saufend und Chips in sich hinein stopfend auf dem Sofa lümmelt und sich darüber aufregt, wenn Mario Götze in der 115. Minute nicht mehr in der Lage ist, an der Seitenlinie einen Sprint voll durchzuziehen, während seine eigene größte sportliche Leistung darin besteht, die fünf bis sieben Meter bis zur Küche zurückzulegen, um sich ein neues Bier zu holen und die Schüssel mit den Chips neu aufzufüllen.
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Werde später noch einmal von der 4-Jährigen in die Strandküche abkommandiert („Du darfst noch einen Kuchen mit mir backen.“). Während wir so vor uns hinsandkuchenbacken, beobachten wir die zahlreichen Sandflöhe, die fröhlich über den Strand hüpfen.
Sandfloh. Dick.
Die 4-Jährige möchte wissen, warum es Sandflöhe überhaupt gibt. Bin evolutionär nicht so bewandert und weiß keine rechte Antwort darauf. Und Peter Lustig ist auch mal wieder nicht zur Stelle, wenn man ihn einmal braucht. Versuche mich daher selbst an einer Erklärung. Die Aufgabe der Sandflöhe bestehe vielleicht darin, mit ihren Zähnen den Strand umzugraben, damit wir besser Sandkuchen backen können.
Die 4-Jährige ist nicht überzeugt und präsentiert einen eigenen Erklärungsansatz. Die Sandflöhe seien dazu da, um Menschen zu ärgern, und seien von den Räubern erfunden worden. Eine Theorie, die vielleicht noch ein paar kleinere Lücken und wissenschaftstheoretische Ungenauigkeiten aufweist, aber immer noch besser ist als mein lahmer Erklärungsversuch.
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Zum Abendessen essen wir Ratatouille mit Couscous. Mein Körper ist maximal verwirrt. So viel Gemüse und so wenig Fleisch. Gleichzeit ist er sehr dankbar, dass das vitaminreiche Essen hilft, den drohenden Skorbut zu vertreiben.
Die körperliche Verwirrung hält auch beim abendlichen Kniffeln an. Erziele mit 132 Punkten den absoluten Low-Score in diesem Urlaub und mich trennt nur noch ein Punkt vom letzten Platz in der Gesamtrechnung.
Dafür scheint später der Mond voll und hell. Das ist genau so schön, wie einen Einhand-Kniffel zu werfen. Glaube ich zumindest, denn mir ist das noch nie gelungen.
Mond. Voll.
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