Bretagne 2014 – 8. Tag: Vom Winde verweht

Werde durch den Regen, der an den Rollladen prasselt und vom Wind, der an demselbigen rüttelt, geweckt. Heute ist eigentlich ein Lauftag mit dem Bonner Freund angesetzt. Hoffe, dass er einknickt und wir das Laufen bei dem schlechten Wetter ausfallen lassen.

Wetter. Laufunfreundlich.

Wetter. Laufunfreundlich.

Treffen uns im Wohnzimmer, wo knurrend der Morgengruß ausgetauscht wird. Tragen beide bereits unsere Laufklamotten und tauschen uns darüber aus, wie schlecht das Wetter sei, so unwirtlich und laufunfreundlich. Zeigen aber beide kein Zeichen der Schwäche, dass der andere dahingehend interpretieren könnte, dass wir nicht loslaufen wollen.

Nur die Vorbereitungsschritte dauern alle etwas länger: Schuhe werden sehr sorgfältig gebunden, Bänder ausgiebig gedehnt und Laufuhren akribisch kontrolliert. Treten schließlich auf die Terrasse, wo uns der Wind den Regen ins Gesicht peitscht. Da jedoch keiner von uns Anstalten macht, diesen Wahnsinn abzubrechen, laufen wir los.

Kaum sind wir am Gartentor angelangt, verzieht der Bonner Freund schmerzverzerrt das Gesicht. Die offene Blase am kleinen Zeh, sie reibe ganz fürchterlich. Es gehe heute beim besten Willen nicht.

Erstaune mich selbst, indem ich antworte: „Dann werde ich das Los des langen Laufs einfach für dich mittragen, mein Freund!“ Bin irritiert. Nicht nur wegen der schwülstigen Ausdrucksweise, sondern noch mehr wegen des Inhalts meiner Aussage.

Eine passende Antwort wäre gewesen: „Komm‘, stütz dich bei mir auf. Ich trage dich zurück ins Haus.“ Oder: „Das hat wirklich keinen Sinn. Lass‘ uns lieber im Haus einen Kaffee trinken.“ Aber nein, wir nehmen uns kurz und fest in den Arm, weinen ein bisschen und ich mache mich tatsächlich alleine auf den Weg.

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Komme beim einsamen vor mich Hinjoggen schnell zu der Erkenntnis, dass alleine laufen doch sehr viel weniger Spaß macht als zu zweit. Da ist niemand, an dem man die Frequenz seiner Schritte anpassen kann und auch niemand, mit dem man gemeinsam rhythmisch keuchen kann. Und niemand ist dabei, der über deine witzigen Bemerkungen lacht.

Könnte mir ja selbst beim Laufen ein paar Witze erzählen. Aber dazu ist meine Persönlichkeit doch noch nicht gespalten genug, dass ich mich mit mir selbst unterhalte. Mit meinem Spiegelbild vielleicht, aber nicht mit mir.

Probiere es trotzdem mal aus. Stelle fest, dass die Pointen meiner humoristischen Bonmots weit weniger witzig sind als gedacht. Der Bonner Freund lacht trotzdem immer. Auch das macht eine gute Freundschaft ja aus: über die schlechten Witze des anderen zu lachen.

Trabe mit meinen trüben Gedanken weiter durch Wind und Nieselregen. Ohne den Bonner Freund fehlen beim Laufen einfach die positiven Vibes. Wundere mich erneut über meine Wortwahl. Scheine mich nicht zwischen Walther von der Vogelweide und schlechten Viva-Moderatoren aus den 90er Jahren entscheiden zu können.

Drehe nach ungefähr fünf Kilometern um und mache mich auf den Rückweg. Treffe kurz danach auf einen älteren, zahnlosen und leicht verwirrten Mann, der meiner frühmorgendlichen sportiven Leistung durch einen Schwall unverständlicher Worte Anerkennung zollt. Winke ihm zu und bedanke mich mit einem fröhlichen „Merci, mon ami, merci!“ zu.

Überlege, die Konversation zu einer ausgiebigen ‚French Challenge‘ auszudehnen. Für meine eigene Reputation könnte es von Vorteil sein, sich mit Jemandem zu zeigen, der noch ein wenig verrückter erscheint als ich selbst. Dann hielten mich die Leute hier doch für geistig gesund.

Bin allerdings besorgt, dass möglicherweise aber der Senior mit dem verbesserungswürdigen Zahnstatus als der Normalere gelten könnte und ich als der Spinner von uns beiden durchgehe. Nehme daher von einer ausgiebigen Unterhaltung lieber Abstand und laufe weiter meines Wegs.

Sehe plötzlich am Horizont einen Läufer mit greller neongelber Regenjacke. Entwickle daraufhin unnötigen männlichen Ehrgeiz und beschließe, dass es mein heutiges Laufziel sein soll, den Mann mit dem fragwürdigen Farbgeschmack zu überholen.

Erhöhe die Schrittfrequenz und nehme Tempo auf. Komme dem gelben Läufer tatsächlich immer näher und habe ihn kurz vor dem Strand fast eingeholt. Ungünstigerweise biegt er nun aber in den Strandweg ein.

Habe eigentlich keine Lust auf einen Sandlauf. Da ich mir aber vorgenommen habe, ihn zu überholen, muss ich wohl oder übel auch den Strandweg wählen.

Ein Vorsatz ist nun mal ein Vorsatz ist nun mal ein Vorsatz. Schon wieder so eine merkwürdige Wortwahl. Wahrscheinlich hat der Wind mir das Hirn zu stark durchgepustet.

Quäle mich über den tiefen rutschigen Sand. Mein neonfarbenes Verfolgungsopfer scheint den sandigen Untergrund eher gewohnt zu sein. Der Abstand zu ihm vergrößert sich Meter um Meter.

Überlege, warum Strandläufe immer als so vorteilhaft angepriesen werden. Angeblich soll es die Sprunggelenke und die Wadenmuskulatur stärken. Was nützen mir aber starke Füße und Beine, wenn ich vor Erschöpfung zusammenbreche und mich die Flut ins offene Meer spült. Nichts!

Habe inzwischen den gelben Läufer vollkommen aus den Augen verloren. Beschließe, den Strand zu verlassen. Erreiche den Promenadenweg, wo mir plötzlich die Kinder entgegengejoggt kommen.

Fröhlich schnatternd erzählen sie durcheinander, wo sich schon langelaufen sind, wo sie noch hinlaufen wollen, dass sie über den Sand rennen und über die Steine klettern werden. Antworte nur sehr einsilbig und versuche, zu Atem zu kommen. Da laufen die Kinder auch schon weiter und setzen ihr lebhaftes Gespräch unbeirrt fort.

Ich dagegen biege in den ‚Berg des Leidens‘ ein und quäle mich zum Ferienhaus hinauf.

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Oben angekommen werde ich freudig von der dreijährigen Bonnerin begrüßt. Sie hat die Hände voller Blätter. Für eine Gartensuppe, wie sie erklärt. Die gäbe es heute Abend. Mit Kackawurst. Sie werde die allerdings nicht essen, dafür aber ich.

Meinen Einwand, das schmecke doch gar nicht, lässt sie nicht gelten („Doch, du magst das.“). Wir einigen uns darauf, die Diskussion auf später zu vertagen. Um präziser zu sein: Ich entziehe mich dem Gespräch, indem ich einfach gehe.

Glücklicherweise sind die kulinarischen Vorlieben der Bonner Freundin eher mit meinen kompatibel. Sie backt nämlich gerade fürs Frühstück im Akkord Pancakes. Mit Butter mit Schokostücken, die auf den Pfannkuchen zerlassen werden. Da hat sich der Morgenlauf für die Kalorienbilanz wenigstens gelohnt!

Pancakes. Von WeightWatchers gefürchtet.

Pancakes. Von WeightWatchers gefürchtet.

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Inzwischen hat sich das Wetter sensationell aufgeklart und wir gehen an den Strand. Aufgrund des sehr starken Windes bietet das Meer heute extrem hohe Wellen. Laut dem Sohn sind die richtig fett: „Fetter als deine Oma!“. Da meine Großmütter beide bereits seit vielen Jahren verstorben sind, können sie sich glücklicherweise nicht weiter an dieser despektierlichen Analogie stören.

Wellen. Fett.

Wellen. Fett.

Die kräftigen Windböen bieten einige interessante Schauspiele von Menschen, die verzweifelt hinter Handtüchern, T-Shirts und Mützen hinterherrennen. Kann mir ein Lachen nicht verkneifen.

Fünf Minuten später sprinte ich selbst mit vor Schmerzen brennenden Beinen und stechender Lunge über den Strand, um ein wild gewordenes Buggyboard wieder einzufangen. Kann nicht glauben, dass ich schon wieder über den Sand flitze. Hätte mir so eine sportliche Höchstleisung gar nicht zugetraut. Die anderen Strandbesucher anscheinend auch nicht. Vereinzelt gibt es Standing Ovations, als ich das Board endlich erreiche.

Derweil unternimmt eine französische Familie neben uns den naiven Versuch, bei den heutigen Windstärken einen Sonnenschirm aufzubauen. Überlege, ihnen eine gemeinsame Nummer vorzuschlagen, bei der wir unsere Strandmuschel-Abbau-Choreographie mit ihrem Sonnenschirm-Tanz kombinieren. Muss mich aber stattdessen darauf konzentrieren, nicht von der Spitze des umherfliegenden Schirms erdolcht zu werden.

Nachdem alle Kinder einmal von den Wellen umgeworfen oder von herumfliegenden Gegenständen getroffen wurden und geweint haben, packen wir unsere Sachen ein und verlassen den Strand.

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Der Bonner Freund und ich wollen noch ein paar Besorgungen für das abendliche Grillen machen. Nachdem wir zehn Kilometer zum Supermarkt gefahren sind, geben uns die heruntergelassenen Fensterläden zu verstehen, dass heute Sonntag ist und der Laden nur von 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr offen hatte. Das Gleiche gilt auch für die anderen Märkte in der Umgebung.

Haben schließlich Glück und finden im Hafen von Audierne einen Mini-Supermarkt mit dem schönen Namen ‘Petit Casino’, der auch am Tag des Herrn durch lange Öffnungszeiten zu gefallen weiß. Die Bandbreite des Sortiments ist zwar erstaunlich hoch, dafür sind die Produkte von eher zweifelhafter Qualität. Aber aufgrund mangelnder Alternativen tätigen wir unsere Einkäufe dennoch hier.

Wagen es gar nicht erst, die Herkunft des angebotenen Fleisches zu hinterfragen. Der Bonner Freund vermutet, dass vor dem Laden ein Range Rover mit eine ‘Ich bremse nicht für Tiere‘-Aufkleber steht, der regelmäßig über die bretonischen Landstraßen gejagt wird, und der daraus resultierende ‘Road Kill’ wird dann zur Grillware verarbeitet. Widerspreche ihm nicht.

Die Höhe der Preise erinnert an durchschnittliche Verlusten, die in Kasinos gemacht werden. Sie ist darüber hinaus der Beschaffenheit der Ware diametral entgegengesetzt. Bezahlen für die sehr überschaubare Anzahl der von uns ausgewählten Lebensmittel einen Betrag, mit dem die Haushaltsprobleme Frankreichs auf einen Schlag gelöst werden können.

Genießen dafür jeden Bissen unseres hart erarbeiteten Gold-Grillguts umso mehr.

Grillgut. Herkunft unbekannt.

Grillgut. Herkunft unbekannt.

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Liefere mir nach dem Abendessen noch mit dem Sohn ein seit Tagen versprochenes Gartenfußballmatch. Spielen das WM-Halbfinale nach. Der Sohn ist Deutschland, ich muss die Rolle der bedauernswerten Brasilianer übernehmen.

Fußball. Grün-schwarz.

Fußball. Grün-schwarz.

Als guter Vater bin ich selbstverständlich nicht in der Lage, die Selecao Revanche für die demütigende Halbfinalniederlage nehmen zu lassen. Beim Stande von 3:3 überkommt den brasilianischen Sturm eine mysteriöse Abschlussschwäche, während der Torwart mit einem kapitalen Fehler den deutschen Siegtreffer ermöglicht.

Der Sohn kümmert sich nicht darum, sondern reißt sich das T-Shirt vom Leib und rennt jubelnd durch den Garten.

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Die abendliche Kniffelrunde verläuft alles in allem eher unspektakulär. Aber vielleicht interessiert es die Leserinnen und Leser, dass ich inzwischen im Urlaub bereits 23 Kniffel geworfen habe. Die Mitspieler verdrehen nur noch die Augen, wenn ein weiterer dazu kommt. Mein „Es fallen die Kniffel am laufenden Band, klipp-klapp“-Gesang wird auch einfach ignoriert.

Gute Nacht!


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