Beginne den Tag mit einer außerkörperlichen Erfahrung. Beobachte mich selbst, wie ich um kurz vor acht Uhr mit dem Bonner Freund auf der Terrasse stehe und wir uns im für die Lauftage obligatorischen Nieselregen unterhalten.
Wetteraussichten: Heiter bis wolkig. Ohne heiter.
Er schlägt vor, wir könnten doch heute eine etwas ausgiebigere Strecke längs des idyllischen Flusses ‚Le Goyen‘ absolvieren. Insgesamt so ungefähr sechzehn Kilometer.
Mein äußeres beobachtendes Ich zeigt ihm einen Vogel und fragt, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Das körperliche Ich sagt jedoch zum Entsetzen des äußeren Ichs, das sei eine klasse Idee und wir sollten das auf jeden Fall machen. Das äußere Ich schreit und zetert und tobt und weint. Man kann sich sein körperliches Ich aber nicht aussuchen.
Daraufhin will das äußere Ich zurück ins Bett, jedoch das funktioniert in der metaphysischen Welt anscheinend nicht. Stattdessen muss es mitlaufen. Es schluchzt leise.
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Laufen die Straße nach Esquibien hinab, wobei uns das Grillgut des Vorabends begleitet. Es hat es sich auf unseren Hüften bequem gemacht. Das äußere Ich merkt spitz an, ein Bier weniger gestern Abend hätte auch nichts geschadet. Ignoriere seine ständige Nörgelei und wir galoppieren wie zwei brünftige Rhinozerosse über den Küstenweg, immer von der Angst begleitet, er könnte aufgrund unserer schwerfälligen Schritte hinter uns wegbrechen und ins Meer stürzen.
Anm. des Autors: Nach dem letzten Laufbericht hat sich der bretonische Haflinger-Verband beschwert. Er verbittet sich den Vergleich unseres Laufstils mit dem der durch ihn vertretenen Pferde, da dies ehrabschneidend für die Tiere sei. Daher die Notwendigkeit, alternative Analogien aus der Tierwelt heranzuziehen, um unser Laufen für die Leserinnen und Leser plastisch begreifbar zu machen.
Während wir den ‚Le Goyen‘ entlanglaufen, kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Strecke in unserer morgensonnendurchflutenden Phantasie wesentlich romantischer war als er in der diesigen und nieselverregneten Realität tatsächlich ist. Das äußere Ich quengelt, das habe es von Anfang an gewusst. Für den Rest des Laufs pfeift es unablässig den alten Regen-Klassiker ‚Raindrops keep falling on my head“.
Schuhe. Durchnässt.
Erreichen schließlich nach etwas mehr als acht Kilometern das kleine Örtchen Point Croix wo wir in kultischer Verblödung die Stadtmauer berühren und umkehren. Aufgrund eines unerklärbaren Phänomens des Raum-Zeit-Kontinuums scheint der Rückweg jedoch einige Kilometer länger zu sein. Nach etwas mehr als anderthalb Stunden kommen wir durchnässt und erschöpft wieder am Ferienhaus an. Das äußere Ich schimpft wie ein Rohrspatz und verschwindet.
Laufuhr. Unbestechlich.
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Das Wetter zeichnet sich heute durch Dauernieselregen und Temperaturen um 19 Grad aus. Der Strandbesuch muss leider ausfallen.
Wettervorhersage. Feucht.
Der Bonner Freund mutmaßt, dass der Wetterumschwung womöglich damit zusammenhängt, dass er gestern Taucherbrille und Flossen zum Schnorcheln gekauft hat. Beim Zuschlagen der Autotür vor dem Geschäft habe er wahrscheinlich eine Art Schmetterlingseffekt ausgelöst, der zu einem vorgezogenen Herbstanfang in der Bretagne geführt hat.
Finde, das ist eine sehr plausible klimatologische Erklärung.
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Komme abseits des Strandes endlich dazu, mit meiner Urlaubslektüre voranzukommen. Lese das köstliche Buch „Der Kaiser von China“ des wunderbaren Tilman Rammstedt.
Urlaubslektüre. Prädikat: Sehr empfehlenswert!
Der Protagonist des Romans ist eigentlich von seinen vier Geschwistern auserkoren, mit dem Großvater zu dessen 80. Geburtstag eine Reise nach China zu unternehmen, verjubelt jedoch das Reisegeld und der Großvater verstirbt im Westerwald, wohin er alleine auf eigene Faust gereist ist, so dass der Enkel nun die China-Reise in Briefen an die Geschwister erfinden muss. Sehr empfehlenswert!
Trinke während des Lesens allerdings sechs bis sieben Tassen Kaffee, so dass der Lesefluss durch die in immer kürzeren Abständen erforderlichen Toilettenbesuche etwas gehemmt wird. Überlege, die Lektüre gänzlich auf die Toilette zu verlegen. Die anderen Erwachsenen legen aber ihr Veto ein, da sie ebenso viel Kaffee getrunken haben.
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Die Kinder vertreiben sich derweil die Zeit durch das Hören einer Nena-CD in Dauerschleife. Eine Best-of-CD mit ihren größten Erfolgen. Erstaunlicherweise sind neben ‚99 Luftballons‘, ‚Nur geträumt‘ und ‚Leuchtturm‘ noch fünfzehn weitere mir vollkommen unbekannte Lieder auf der CD. Anscheinend hat die Plattenfirma bei der Zusammenstallung der Songs mit einem sehr dehnbaren Erfolgsbegriff gearbeitet.
Nenas größte Hits. Und die, die es gerne geworden wären.
Höre eine Weile mit. Finde es erstaunlich, dass Nena es geschafft hat, ihren Ruhm auf einfältige, paarreimige Liedzeilen wie „Ich seh‘ deine Hand, hab sie gleich erkannt“ (‚Nur geträumt‘) aufbauen konnte.
Auch logische Konsistenz scheint nicht notwendig zu sein, um große Verkaufserfolge erzielen zu können, wie ihr ‚Leuchtturm‘-Hit beweist:
„Komm, geh mit mir den Leuchtturm rauf,
wir können die Welt von oben sehn.
Ein U-Boot holt uns dann hier raus,
Und du bist der Kapitän.“
Frage mich nun die ganze Zeit, wie das U-Boot oben an dem Leuchtturm andocken soll, wo es doch eigentlich führerlos ist. Denn der bemitleidenswerte Begleiter von Nena, der mit ihr dem Müßiggang frönt und vom Turm herab die Welt betrachtet, ist ja dazu auserkoren, als Kapitän das U-Boot zu steuern.
Fragen über Fragen! Wahrscheinlich bin ich aber nur neidisch, dass ich mich so etwas textlich nicht traue.
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Da man nicht den ganzen Nachmittag mit dem Hören von Nena-Songs verbringen kann – schon um der eigenen geistigen Gesundheit Willen –, fahren die Freundin und ich zum Supermarkt, um ein paar Besorgungen zu erledigen. Dort kommen wir schnell mit den Einkäufen voran und haben fast schon unsere komplette Besorgungsliste abgearbeitet, als ich unverhofft in meine heutige besonders diffizile ‚French Challenge‘ gerate. In Form einer jungen Frau mit einem Promotion-T-Shirt für eine lokale Biermarke, die mich vor dem Getränkeregal anspricht, wo ich nach Wasser suche. Starre sie an und es dauert einen Moment zu lange, bis ich etwas antworten kann.
Bin mir etwas unsicher, wie ich dies am besten erklären soll, ohne mein sorgfältig gepflegtes Image als progressiver, moderner Mann zu zerstören und dabei auch noch einen Großteil meiner Leser und vor allem Leserinnen zu verlieren. Und die Freundin.
Lassen Sie es mich so versuchen: In Bayern würde man sagen, die Frau hat „ordentlich Holz vor der Hüttn“. Und ihr enges Bier-T-Shirt trägt nicht dazu bei, diesen Umstand zu verbergen. Ganz im Gegenteil.
Bin froh, dass kein Schaum aus meinem Mund tritt als ich ein gestammeltes: „Je ne parle pas franҫais.“ nuschle. Sie antwortet etwas mit einem freundlichen Lächeln, aber wahrscheinlich gibt sie mir zu verstehen, dass ich alter glotzender Stelzbock gefälligst Land gewinnen soll.
Vertiefe mich schnellstens wieder in die Suche nach Mineralwasser mit Kohlensäure. Da ich aber keines finde und keine andere Supermarktmitarbeiterin in Sicht ist, muss ich mich besagter jungen Frau nähern und stottere: „Je cherche eau avec le gas.“
Sie schaut mich indigniert an, als hätte ich gerade einen niveaulosen und billigen Anmachspruch getätigt. Nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, dass ich direkt neben dem kohlensäurehaltigen Wasser stehe, was ich bemerke als ich meine Frage ausgesprochen habe.
Greife kleinlaut eine Sechserpackung und gehe zur Kasse. Glücklicherweise können wir den Supermarkt verlassen, ohne dass ich für den Rest des Urlaubs Hausverbot bekomme.
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Die heutige Kniffelrunde wird für immer als der Abend in Erinnerung bleiben, an dem der Bonner Freund einen Einhand-Kniffel geworfen hat: mit einem Wurf fünf Fünfen! Jetzt möchte er entsprechende T-Shirts für uns alle bedrucken lassen. Wir wollen das aber nicht.
Wenn ein Mitspieler einen Einhand-Kniffel wirft, dann hast du ihm zu huldigen. (ehernes Familienbetrieb-Gesetz; in den Würfelbecher geprägt)
— Betriebsurlaub (@Betriebsfamilie) 8. August 2014
Gute Nacht!