Bretagne 2014 – 11. Tag: Wenn der Postbeamte zweimal stutzt

Die Fahrt zum Bäcker gestaltet sich heute Morgen erstaunlich problemlos. Radle zügig und flott die Berge hoch und wieder runter. Winke einem kleinen Mädchen, das bei seinem Vater im Kindersitz mitfährt, fröhlich zu. Das Kind fängt an zu weinen. Möglicherweise ist meine Fahrt doch nicht so locker und meine durch die Anstrengung zur grimassenhaften Fratze verzogene Visage hat dem Kind Angst gemacht.

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Auch beim Bäcker läuft alles bemerkenswert glatt bei meiner ‚French Challenge‘. Bestelle unfallfrei meine Baguettes und Croissants. Leicht euphorisiert verlange ich danach noch nach „Dix crêpes, s’il vous plaît.“ Die Bäckersfrau antwortet kurz und knapp: „Douze.“

Bin nun etwas verunsichert. Handelt es sich hierbei um eine Art bretonisches Bäcker-Pokern und ich muss erhöhen? Überlege, ihre Entgegnung mit einem selbstbewussten „Quatorze!“ zu erwidern. Da sehe ich, dass die Crêpes immer nur im 6er-Pack verkauft werden. Sage daher: „D’accord. Bon. Oui.“ Mehr Zustimmung geht nicht.

Bäckerei. Hier knetet der Chef persönlich.

Bäckerei. Hier knetet der Chef persönlich.

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Auf dem Heimweg treffe ich dann wieder auf meine Freundin, die Regenwolke. Sie hat anscheinend ein schlechtes Gewissen, dass sie mich gestern beim Laufen versetzt hat. Deswegen bringt sie ihre Schwestern und Brüder mit. Quäle mich entsprechend im Regen die Anstiege hoch.

Finde, dass so ein Regenschauer in der Realität weitaus unromantischer ist, als dies einem in Hollywood-Filmen immer suggeriert wird. Weder schaue ich aus wie Ryan Gosling noch habe ich einen athletischen Körper, an dem ein weißes eng geschnittenes Oberhemd klebt, noch erklingt im Hintergrund „Love is all around“ und ich küsse auch keine gutaussehende junge Frau, deren Gesicht ich in beiden Händen halte. Letzteres wird die Freundin sicherlich freuen.

Sehe stattdessen aus wie ein begossener Pudel und aufgrund meines ausgeleierten billigen Synthetik-T-Shirts laufen meine Schweißdrüsen auf Hochtouren, so dass ich einen in den Augen beißenden Geruch verbreite. Mit dieser traurigen Gewissheit mühe ich mich den Anstieg der Qualen zum Ferienhaus hoch.

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Nach dem Frühstück beschließen wir, noch einmal an die Bucht von Tréspassés zu fahren. Wollen dort den Küstenweg zum Pointe du Raz wandern, einer Touristenattraktion von internationalem Rang. Wenn man Wikipedia Glauben schenken möchte.

Bretagne 2014 – 11. Tag: Wenn der Postbeamte zweimal stutzt

Während wir die kurvigen, engen Wege die steil abfallende Küste entlanglaufen, stelle ich fest, dass ich mit zunehmendem Alter nicht gerade schwindelfreier und weniger höhenängstlicher werde. Sehe mich den Abhang runterrutschen und mit einer Hand an der Klippe hängen. Wie Sylvester Stallone in „Cliffhanger“. Nur weniger durchtrainiert. Und ohne Dackelblick.

Abgrund. Steil.

Abgrund. Steil.

Überlebte ich einen solchen Fall, was ich stark bezweifle, triebe ich ins offene Meer hinaus, wo ich jämmerlich ertränkte. Eine unschöne Kombination tief liegender Ängste. Jetzt müsste nur noch ein Zahnarzt vorbei kommen, der vor meinen Absturz noch schnell eine Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung durchführt. Dann wären alle meine Phobien beisammen und könnten sich mal kennenlernen.

Am Pointe du Raz angekommen, bewundern alle die phantastische Aussicht und die Schönheit des ins Meer ragenden Kaps. Fast alle. Die Bonner Freundin und ich ziehen es vor, vornehmen Abstand zu den Klippen zu halten. Möchte mir auch nicht die Blöße geben, bäuchlings an den Rand zu robben, um mir anzuschauen, wie tief es runter geht.

Pointe du Raz. Idyllisch.

Pointe du Raz. Idyllisch.

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Auf dem Heimweg wage ich es, mich einer ganz besonderen ‚French Challenge‘ zu stellen. Werde auf einem Postamt Briefmarken für die gestern geschriebenen Postkarten kaufen. 19 Stück für die Karten nach Deutschland und eine für die Karte an meine Tante in den USA.

Habe mich akribisch auf diese Unternehmung vorbereitet und mir folgenden Satz im Internet zusammengesucht: „Je voudrais dix-neuf timbres pour les cartes postales en Allemagne et une timbre pour une carte postale en Etats-Unis.“ Wenn ich mir die Nase beim Aussprechen zuhalte, klingt es fast wie bei einem Muttersprachler. Der woanders aufgewachsen ist. Und einen Sprachfehler hat.

Die Post. Ein Paralleluniversum.

Die Post. Ein Paralleluniversum.

Stehe nun in einer sehr langen Schlange im Postamt von Audierne. Hätte mir den Satz vielleicht besser aufgeschrieben. Mein Handy habe ich auch nicht dabei, um ihn noch einmal zu suchen. Es müsste aber mit dem Teufel zugehen, wenn ich mir den Satz nicht auch so behalten könnte: „Je voudrais dix-neuf timbres pour les cartes postales en Allemagne et un timbre pour une carte postale en Etats-Unis.“ Das sollte wohl für Jemanden mit Hochschulabschluss möglich sein.

Warte nun schon seit mehr als zehn Minuten und meine Gedanken schweifen ab. Aus mir unerfindlichen Gründen erinnere ich mich an meinen Lateinunterricht der siebten Klasse zurück.

„Cornelia et Marcus in horto ambulant.“ So begann das erste Kapitel in meinem Lateinbuch. „Cornelia und Markus gehen im Garten spazieren.“ Dieser Satz steht nun wie in Stein gemeißelt im Sprachzentrum meines Gehirns. Mein alter Lateinlehrer wäre stolz auf mich.

Leider haben Cornelia und Markus meinen französischen Briefmarkensatz verdrängt. Und ich rücke mit der Schlange allmählich näher an den Schalter. Ironischerweise hieß der zweite Satz in dem Kapitel „Serpens in horto est.“, was so viel heißt wie „Eine Schlange ist im Garten.“

Nie kannte ich mehr Latein-Vokabeln als im französischen Postamt beim Versuch, Briefmarken zu kaufen. Und nie waren sie nutzloser.

— Betriebsurlaub (@Betriebsfamilie) 13. August 2014

Das hilft mir beim Erinnern des Briefmarkensatzes leider auch nicht weiter. Er bleibt verschwunden. Unauffindbar. Bitte melde dich!

Irgendwie muss es mir gelingen, den Satz zu rekonstruieren. Fange mit den Zahlen an. Neunzehn. Eigentlich eine Zahl weit am Ende des von mir beherrschten französischen Zahlenraums. Vielleicht sollte ich einfach neunzehnmal hintereinander eine Briefmarke bestellen?

Bewege mich in der Schlange weiter nach vorne. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Allerdings erschweren die einseitige Urlaubsernährung (Weißbrot, Grillgut, Süßigkeiten und Bier) und der damit verbundene Vitamin-A-Mangel offensichtlich meine Denkleistung.

Versuche, mich an die französische Vokabel für Briefmarke zu erinnern. Fehlanzeige! Man sollte meinen, dass es irgendwelche Hinweise auf dem Postamt gibt. Kann aber keine finden. Rücke weiter näher an den Schalter. Meine Hände schwitzen. Im Lateinischen heißt Briefmarke übrigens „Pittacium epistulare“. Warum weiß ich so etwas? Und was soll ich damit anfangen? Fragen über Fragen!

Wüsste ich die entsprechenden französischen Wörter, könnte ich die Dame hinter mir vorlassen. Aber da bin ich schon an der Reihe. Um Zeit zu gewinnen, sage ich sehr langsam zu dem Postbeamten: „Bon jour, monsieur.“ Ergänze sogar noch ein zaghaftes „ҫa va?“. Könnte ihn nach seinem Namen fragen („Tu t’appelles?“). Vielleicht heißt er Markus. Und seine Schwester Cornelia.

Der Postbeamte macht aber nicht den Eindruck, als sei er daran interessiert, mit mir über seine familiären Verhältnisse zu plaudern. Er nickt nur grußlos und schaut mich fragend an. Glücklicherweise fällt mir da wieder mein Briefmarkensatz wieder ein. Zumindest bruchstückhaft. Allerdings nur in sehr kleinen Bruchstücken.

„Neufteen stomps, s’il vous plaît. Pour Allemagne.”, sprudelt es aus mir raus. Fuchtel dazu mit meinen Postkarten vor seinem Gesicht herum. Trotz meiner mutierten degenerierten Kunstsprache, mit der es mir gelingt, sowohl die französische als auch die englische Sprache zu erniedrigen, scheint er mich zu verstehen.

Da fällt mir die Karte für die Tante in den USA ein: „Et un pour América. Air mail.“ Dazu wedele ich pantomimisch einen Flügelschlag simulierend mit den Armen. Der Beamte schaut nun, als würde er am liebsten auf den Alarmknopf unter seinem Tisch drücken, damit ich von der Polizei abgeholt und in eine Anstalt eingewiesen werden kann, aus der ich in seinen Augen wahrscheinlich ausgebrochen bin.

Glücklicherweise hält ihn irgendetwas davon ab. Stirnrunzelnd fragt er: „Par avion?“ Rufe „Exactement!“ und würde ihm gerne um den Hals fallen. Verabschiede mich mit einem erleichterten „Au revoir, Marcus.“ Verlasse um Jahre gealtert, aber glücklich und mit meinen Briefmarken das Postamt. Geht doch!

Briefmarken. Im Lateinischen „Pittacium epistulare“.

Briefmarken. Im Lateinischen „Pittacium epistulare“.

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Zum abendlichen Kniffeln sei nur so viel gesagt: Man ist kein schlechter Mensch, wenn man keine Kniffel wirft. Und man ist auch kein besserer Mensch, wenn man welche wirft. Würde mich trotzdem nicht dagegen wehren, mal wieder einen abzubekommen.

Gute Nacht!


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