Bretagne 2014 – 10. Tag: Picture postcards from Brittany

Von Christianhanne

Mache mich in der Morgensonne auf zur morgendlichen Laufrunde. Bin erneut allein unterwegs. Der Bonner Freund ist immer noch außer Gefecht gesetzt. Der kleine Zeh. Die offene Blutblase. Ich möchte nicht tauschen.

Sonnenaufgang über Esquibien. Mehr Morgenromantik geht nicht.

Laufe vereinsamt die Küstenstraße entlang. Nicht einmal die gestrige Regenwolke begleitet mich. Hätte so gerne eine Laufbegleitung!

Stoße, während ich vor mich hinlaufe, leise und dezent auf. Stelle fest, dass es weder leise noch dezent war. Und dass vor mir eine Frau joggt. Sie schüttelt missbilligend den Kopf. So schließt man keine Laufbekanntschaften.

Überhole sie schnell und laufe weiter den Berg hinunter. Höre auf einmal laute Schritte hinter mir. Oben am Hügel erscheint ein Läufer. Ein junger Mann, von einer athletischen Figur, die antike griechische Heldenstatuen vor Neid erblassen ließen. Wobei diese ja zumeist aus Marmor gehauen waren. Der ist ohnehin schon blass.

Außerdem ist der Jogger mit der Ausdauer und Lungenkapazität ausgestattet, die Acatenango, dem ‚Galopper des Jahres‘ von 1985 bis 1987, zu Ehre gereicht hätte. Der jugendliche Adonis läuft mit einer Dynamik und Geschwindigkeit, neben der der Marathonweltrekordler Wilson Kipsang wie ein unmotivierter Seniorenläufer aussähe.

Mein irrationaler männlicher Ehrgeiz stachelt mich dazu, mich nicht von dieser Laufmaschine einholen zu lassen. Wenn man schon keine Laufpartner hat, muss man sich wenigstens ambitionierte Ziele setzen. Hat schon Konfuzius gesagt. Oder Yoda. Oder ich?

Konzentriere mich ganz auf das Laufen und meine Bewegungen. Mein flacher Atem, meine kraftvollen Schritte, die staubige Straße und die klare Luft werden eins. Befinde mich in höheren Laufbewusstseinssphären.

Verspüre plötzlich einen Luftzug neben mir, der mich aus meiner spirituellen Laufmediation reißt. Es ist der Jogger, der mich gerade überholt.

Von der Seite betrachtet, sieht er eigentlich gar nicht so jung aus. Ungefähr fünfzehn bis zwanzig Jahre älter als ich. Seine körperliche Konstitution ist aus der Nähe betrachtet auch weniger beeindruckend als von weitem. Er wiegt schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Kilo schwerer als ich, ist aber mindestens zehn Zentimeter kleiner.

Dennoch walzt er an mir vorbei und legt dabei eine bemerkenswerte Geschwindigkeit an den Tag. Wenn so eine Masse bergab erstmal Fahrt aufgenommen hat, ist es selbst für austrainierte und sich auf ihrem Leistungszenit bewegende Läufer schwierig, mithalten zu können. Und für mich fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Lasse mich aber nicht entmutigen und will mich an ihn dranhängen. 50 Meter weiter schlägt er aber einen anderen Weg ein. Somit wird die Welt leider nie erfahren, wie dieses deutsch-französische Duell der Laufgiganten ausgegangen wäre.

Enttäuscht – und ein klein wenig erleichtert – dieses sportlichen Kräftemessens beraubt worden zu sein, laufe ich weiter. Treffe kurz danach wieder auf den entrückten Senior mit dem lückenhaften Gebiss. Sein Jubel fällt heute allerdings weitaus weniger enthusiastisch aus als noch vorgestern. Womöglich hat er gesehen, wie mich die bretonische Dampfwalze überholt hat und findet meine körperliche Leistung nun weniger beeindruckend.

Mit der deprimierenden Erfahrung, meinen einzigen Fan in der Bretagne verloren zu haben, schlage ich den Todeshügel zum Ferienhaus ein. Er kommt mir heute doppelt so lang und doppelt so steil vor.

Laufklamotten. Ein Häufchen Elend.

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Nach dem Frühstück kommt es zwischen Tochter und Sohn zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit, deren Lautstärke das sozial akzeptierte Dezibelmaß bei zwischenmenschlichen Unterhaltungen um ein Vielfaches überschreitet. Es geht um die Ordnung in ihrem Zimmer und die Rollen sind derart klassisch verteilt, dass sich Generationen von Gender-Expertinnen und –Experten mit der Analyse des Konflikts beschäftigen werden können.

Die Tochter, geleitet von Prinzipien der protestantischen Arbeitsethik und von calvinistischer Pflichterfüllung, möchte das Zimmer noch vor dem Strandbesuch aufräumen. Ihre Haltung lässt sich trefflich mit der Redewendung „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ umschreiben.

Der Standpunkt des Sohnes ist eher von Lustmaximierung geprägt, wie sie Wall-Street-Banker seit den 80er-Jahren zelebrieren. Er findet, dass Zimmer könne nach ausgiebigem Toben und Spielen am Strand in Ordnung gebracht werden.

Darüber hinaus ist seine Argumentation von den Lehren des Buddhismus und des Stoizismus beeinflusst, nach denen der Lauf der Dinge ohnehin nicht beeinflusst werden könne und daher zu akzeptieren sei. Folglich wäre das Aufräumen des Zimmers vor dem Strandbesuch vollkommen sinnlos. Und danach eigentlich auch.

Die Freundin schafft es schließlich durch einen demokratischen Austausch rationaler Argumente, den Sohn vom Gegenteil zu überzeugen („Wenn du jetzt nicht aufräumst, fährst du halt nicht mit an den Strand. Ende der Diskussion. Punkt.“).

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Kaum am Strand angekommen, befindet sich der Sohn sofort im unkaputtbaren Duracell-Modus. Die Freundin erbarmt sich und läuft kilometerlang den Strand mit ihm ab. Er sammelt dabei Steine, kämpft gegen unsichtbare Ungeheuer und spielt imaginäre Fußballmatches. Was man halt so als Siebenjähriger den ganzen Tag über macht.

Danach bin ich dran. Der Sohn will ins Meer, die neue Taucherbrille ausprobieren.

Taucherbrille. Funktioniert im Wasser.

Er stürmt los, ich beginne meinen zeitlupenhaften Einstieg ins Wasser, der hier am Strand schon einige Berühmtheit erlangt hat. Die einheimischen Dorfbewohner haben sogar einen Namen für ihn: ‚Der Tanz der sterbenden Schildkröte‘.

Der Sohn schwimmt bereits, während ich mir noch zaghaft die Unterarme benässe. Da taucht er plötzlich rudernd neben mir auf und spritzt mich versehentlich nass. Stoße einen Schrei aus, so schrill und laut, dass zu befürchten ist, dass keine Scheibe ihn Esquibien und den umliegenden Dörfern heil geblieben ist.

Danach will der Sohn durch meine Beine tauchen. Das klappt auch ganz gut. Bis er zum Schluss mit seinen Beinen ausschlägt und zwar genau in meinen … Ich denke, Sie können sich vorstellen, wo er mich trifft.

Haben glücklicherweise bereits zwei reizende Kinder und die Familienplanung ist schon abgeschlossen. Nur schade, dass wir nun nicht mehr zu großem Reichtum kommen werden, indem ich an die Samen-Bank spende.

Um mich und vor allem die in Mitleidenschaft gezogene Körperregion ein wenig abzukühlen, schicke ich den Sohn zurück an den Strand und schwimme noch ein paar zaghafte Bahnen hinaus ins Meer.

“Ich war noch niemals in New York”. Lieder, die ich singe, wenn ich raus in den französischen Atlantik schwimme.

— Betriebsurlaub (@Betriebsfamilie) 12. August 2014

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Spielen später zum Zeitvertreib eine Familienpartie Boccia am Strand. Wer zuerst zehn Runden gewonnen hat, ist der Sieger.

Strand-Boccia. Ein Spaß für die ganze Familie. Vor allem für den Gewinner.

Würde gerne schreiben, dass ich als guter Vater die Kinder habe triumphieren lassen. Gemessen am Ausgang des Spiels bin ich wohl kein guter Vater. Gewinne mit 10 zu 5 (Tochter) zu 4 (Freundin) zu 3 (Sohn). Wie so ein Oliver Kahn, der einmal bei einem Benefiz-Elfmeterschießen mit Grundschulkindern alle Elfmeter gehalten hat.

Möchte dies bei mir aber nicht als falsche Gier und krankhaften Siegeswillen verstanden wissen. Vielmehr sollen die Kinder frühzeitig lernen, dass ihnen im Leben nichts geschenkt wird. Nicht einmal beim Strand-Boccia.

Trotz meines progressiven edukativen Ansatzes weigert sich der Rest der Familie, mir als Boccia-König von Esquibien zu huldigen. Selbstverständlich nur als Anreiz, damit sich die Kinder beim nächsten Mal mehr anstrengen. Verstehen sie aber irgendwie nicht so richtig.

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Nach der Rückkehr vom Strand gilt es das Projekt Urlaubskarten anzugehen. Da bereits mehr als die Hälfte des Urlaubs rum ist, müssen sie allmählich geschrieben werden, damit sie noch vor unserer Rückkehr nach Deutschland ankommen. Da das Schreiben von Postkarten in den Bereich ‚Externe Kommunikation‘ fällt, obliegt mir diese ehrenvolle Aufgabe.

Postkarte. Löst beim Empfänger Ekstase aus.

Die Herausforderung besteht darin, sich möglichst geistreiche und elaborierte Formulierungen auszudenken, die den Urlaub möglichst präzise und beim Empfänger Neid verursachend zusammenfassen. Gleichzeitig ist darauf zu achten, durch die Verwendung möglichst langer Adjektive und Nomen schnellstmöglich den Platz auf der Karte auszufüllen.

Am Anfang muss immer eine Begrüßungsformel stehen, die einen Bezug zur weit entfernten Urlaubsregion herstellt („Wir senden euch herzliche Grüße aus der Bretagne.“). Die Leute sollen schließlich nicht denken, man habe die Ferien auf einem Campingplatz in der Nähe von Castrop-Rauxel verbracht.

Danach folgen ein paar Ausführungen zu Wetter, Essen, Entspannung und Ähnlichem, wobei hier durchaus eine flexible Interpretation der realen Begebenheiten erlaubt und sogar empfehlenswert ist:

  • „Das Wetter ist abwechslungsreich.“ = Es ist unbeständig, regnerisch und viel zu kalt.
  • „Das Essen ist vorzüglich.“ = Wir nehmen ausschließlich Mahlzeiten zu uns, deren Nährwertzusammensetzung von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mit Sorge betrachtet werden.
  • „Die Stimmung ist ausgelassen.“ = Wir müssen einmal täglich die Kinder maßregeln und einnorden.

Zum Abschluss noch ein Satz des Bedauerns über das nahende Urlaubsende („Leider müssen wir bald schon wieder nach Hause fahren.“) und schon ist die Karte so gut wie fertig. Ans Ende gehören dann nur noch die Unterschriften aller Familienmitglieder, was bei den Kindern erfreulich viel Platz erfordert.

Sollten übrigens Personen, die eine Postkarte von uns erhalten, diese Ausführungen zum Familienbetrieb-Prinzip des Postkartenschreibens lesen, sei ihnen versichert, dass ihre Karte selbstverständlich eine Ausnahme darstellt und sie ganz individuell mit einer persönlichen Note verfasst wurde. Großes Pinocchio-Ehrenwort.

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Grillgut. Eine gute Gemüsealternative.

Nach dem Abendessen – zur Abwechslung mal Grillen – schließen wir wie immer den Abend mit der Kniffelrunde ab. Habe schon seit drei Tagen keinen Kniffel mehr geworfen. Den anderen bei ihrer übertriebenen und fast schon kindischen Freude zuzuschauen, wenn sie ein Kniffel vor ihnen liegt, ist auf Dauer nicht besonders befriedigend. Entweder ich muss mehr Kniffel werfen oder die anderen weniger!

Gute Nacht!