"Breaking the Waves" [DK, S, F, NL, N, IS 1996]

Erstellt am 20. Oktober 2010 von Timo K.

Story
Auf einer schottischen abgelegenen Insel lebt Bess McNeill in stillem Einklang mit der Religion der tief gläubigen Einwohnerschaft. Als sich Bess sich dazu entschließt, einen Ölbohrarbeiter zu heiraten, ist der Skandal von einem Mädchen, das sich zu einem Fremden hingezogen fühlt, groß. Nach dem beide schließlich ihr Jawort offiziell bekunden, bleibt Jan allerdings nur ein paar Tage zu Besuch, da er seiner Arbeit nachgehen muss. Für Bess beginnt die schwere Trennungszeit. Eines Tages erfährt sie von einem schrecklichen Ereignis – Jan hatte einen Unfall, muss ins Krankenhaus eingeliefert werden und ist wohl Zeit seines Lebens vollständig gelähmt. Für Bess beginnt die Leidenszeit. Sie befindet sich fortan in einer nicht enden wollenden Spirale aus sexueller Erniedrigung und permanenter Hilflosigkeit…

Kritik
Entgegen der weitläufigen Meinung, Lars von Trier-Filme seien schwer zu fassen und deshalb nur bedingt in gängige Genredogmen zu pressen (immerhin oszillieren seine Werke stets zwischen verschiedenen Begrifflichkeiten) wird "Breaking the Waves" im häufigsten Fall mit dem klassischen Melodram in Verbindung gebracht. Auf den ersten Blick ist das nachvollziehbar. Hier geht es um eine Frau, die sich mit existentiellen Ängsten konfrontiert sieht; die Liebe spielt eine große Rolle, Großaufnahmen zur Emotionssteigerung dominieren, ebenso wie seelisches Leid und emotionales Gefühlchaos besonders unausweichlicher Notsituationen.
Umso interessanter, dass der Film sein wahres Gesicht unter der ersten Ebene des Melodrams zeigt, wenn er sich als Unkonventionelles auf zweiter entpuppt. Die Protagonistin (Bess McNeill, gespielt von Emily Watson) kämpft nicht etwa für die Liebe eines Mannes mit dem Risiko, dass es im schlimmsten Fall bei platonischer Freundschaft bleiben könnte, sie kämpft für die Liebe eines Mannes mit dem Risiko, dass es lebensgefährlich sein könnte.
"Breaking the Waves" beschwört das Bild einer unerschrockenen, wenngleich labilen Frau, die aus ihrem Gefängnis – das gemeinhin als ihr Zuhause gilt, obwohl sie es vorher still akzeptiert hatte – fliehen möchte, fliehen muss, fernab jedweder fest eingefahrener Regeln der vorurteilsbehafteten Einwohnerschaft eines kleinen (anonymen) Städtchens an der schottischen Küste. In "Breaking the Waves" bedarf es außerdem einer Lösung Gottes denn selbstständiger Konfliktbewältigung. Sexuelle Motive werden aufgegriffen, Kopulationen ausgiebig gezeigt denn angedeutet; Gut gegen Böse-Schemata weitgehend ignoriert. Und zu alledem kulminiert Lars von Triers-Melodram in ultimativer Selbstzerstörung des Individuums, negiert also traditionelle Happy Ends, in denen Mann und Frau allen Hindernissen zum Trotz das Abscheuliche überlisten.

Das Werk gilt als Auftakt der sogenannten von einem Kinderbuch inspirierten "Golden Heart-Trilogie" des Regisseurs, die von den Idioten (1998) weitergeführt und schließlich von "Dancer in the Dark" (2000) vollendet wird. Obwohl "Breaking the Waves" keinen Dogma-Vertreter im herkömmlichen Sinne repräsentiert, weist er nichtsdestoweniger wesentliche Merkmale eben jenes 1995 gegründeten Manifests auf. Formalästhetisch überzieht Robby Müller den Film komplett mit einer destruktiven, durchweg unorthodoxen Handkamerastilistik, Quelle etlicher beklemmender Bilder, die sogar einer Hochzeit zu Beginn leicht surrealen Charakter aufoktroyiert. Dialoge werden keinesfalls durch Schnitt-Gegenschnitt-Blenden kontrastiert, sondern durch wacklige Schwenks, was dem Werk Authentizität und Lebendigkeit verleiht.
Hinzu kommt sperriges Produktionsdesing in Form einer, fast möchte man sagen, von der Außenwelt abgeschotteten, totalitären Insellandschaft, verlassen, grimmig, im Grunde identitätslos, überschaubar die Requisiten, ein geeigneter Ort für unvorstellbaren Herzschmerz. Sparsamer Einsatz von Musik lässt sich ebenfalls lokalisieren, Spezialeffekte sowieso nicht, Morde selbstverständlich auch nicht. "Breaking the Waves" ist angesichts der handwerklichen Kargheit ein aufs Minimalste reduziertes Kammerspiel vollem latentem Unbehagen.
Von Trier strukturiert sein Werk des Weiteren in obligatorischer Kapitelform, implementiert Prolog und Epilog, und zwischendrin sieben Kapitel, wo die Tragödie unaufhaltsam, Kapitel um Kapitel, auf eine schockierende Klimax zusteuert. Nach jeder Zwischenüberschrift lässt er vor dem Hintergrund imposanter Landschaftsaufnahmen sekundenlange, von Pop-Musik der 70er-Jahre durchzogene, (Kunst-)Pausen, emblematisch für ein nicht unerheblich ironisches Augenzwinkern der, im Grunde, nicht vollends bierernsten Geschichte. Auch die mythische Glocken-Schlussszene kann als verschmitzter Gag interpretiert werden, zumal die Glocken angesichts ihrer visuellen Übergröße amüsante Theatralik evozieren.

Selbst wenn "Breaking the Waves" einige Lesearten besitzt, ist die am naheliegendsten immer noch die, dass Lars von Trier Geschichtsexkurs betreibt, in dem er die Passionsgeschichte filmisch neu interpretiert. Aus Jesus wird lediglich eine Frau, Zeit- und Handlungsort werden ins Jetzt transportiert und aus Jesus' Ziel der Befreiung der Menschheit von ihren Sünden kristallisiert sich Bess' Ziel der Befreiung ihres Mannes von seiner scheinbar unheilbaren Krankheit aus purster Liebe heraus. Aber auch sonst sind die analogen Momente zur Passionsgeschichte unübersehbar. Bess wird im Laufe der Handlung von Kindern mit Steinen beworfen (Steinigung), auf einem Schiff von Perversen auf dem Rücken regelrecht aufgeschlitzt (Kreuzigung) und von einem ihrer engsten Vertrauten, ihrem Mann (Judas), entscheidend verraten.
Es gibt noch mehr Parallelen zu entdecken. Etwa in Form des Pontius Pilatius (Dr. Richardson), Maria Magdalenas (Dodo McNeill), dem Ausschluss aus dem kleinen Dorf (sowohl mütterlicherseits als auch generell), dem fortschreitenden Zweifel daran, Gottes Wort als einziges, unbedeutendes Wort denn als etwas Transzendentales wahrzunehmen (Bess' letzte Worte: "Es war nicht alles war.") und schlussendlich der konsequente Weg vom aufnehmenden Leid zur Selbstopferung, was im Film durch Jans (Stellan Skarsgård) wundersame "Auferstehung" als von seiner Krankheit genesener Mensch allegorisiert wird. Abgesehen davon werden den Kirchenglocken im bereits tangierten, überaus eindrucksvollen Schlussbild eine metaphorische Bedeutung zuteil. Denn diese verkünden, dass Gott durch Bess' Märtyrertod ein Opfer erhalten hat, um hingegen neues Leben zu schenken.
Aufgehalten wird Bess von christlichem Fundamentalismus. Dazu lohnt ein Blick auf den Charakter der Gemeinschaft. Bess ist in einem puritanischen Milieu aufgewachsen, wo Frauen weder in Kirchen noch bei Begräbnissen reden, keinen Schmuck tragen, nicht tanzen dürfen und Kirchenglocken stumm bleiben. Ihr zukünftiger Ehemann, ein britischer Ölbohrmitarbeiter, wird zu Beginn folgerichtig von allen abgelehnt oder zumindest vertrauenslos angeschaut, weil man seine Motive nicht kennt, weil man ihn nicht kennt, weil man stattdessen annimmt, insbesondere Dodo (Katrin Cartlidge), Jan würde Bess' Gutherzigkeit ausnutzen. Apropos Gutherzigkeit als fundamentale Charakterschwäche: Da Bess gern davon spricht, dass Gott jedem Menschen ein Talent mit auf den Weg gegeben hat, wird es bereits nach wenigen Minuten offensichtlich, mit welchem Talent Gott Bess außerdem segnete: Sie ist gut im Bett.

In zweiter Instanz wird die Vollendung der Liebe von Bess und Jan neben dem kirchlichen Establishment durch staatliches Establishment verzögert, hauptsächlich nach der Schlüsselszene des Verrats von Jan an Bess, die ab jetzt psychiatrisiert werden sollte. Inwieweit das von den Ärzten bei ihr diagnostizierte "abnormale" Verhalten dem diagnostizierten Bild des Zuschauers entspricht, kann nur erahnt werden, entspricht ein "abnormales" Verhalten doch keineswegs der eigentlichen Intention von Bess, die sich über sämtliche ideologischen Zwänge hinwegzusetzen vermag, um – trivialerweise – geliebt zu werden. Möglicherweise schwingt in "Breaking the Waves" somit eine Kritik derlei Institutionen respektive ihre Reaktionen auf verhaltenstechnisch "andere" Menschen mit.
Ob das hohe Maß an offenen Fragen, die dem Film trotzdem inhärent zu sein scheinen, von Lars von Trier beabsichtigt war? Kalkül? Berechnung? Ausdruck einer bisweilen ungelenken Dramaturgie? Problematisch. Am einfachsten von allen sicherlich die Frage nach der Kernthese des Films. Unübersehbar stellt von Trier die Liebe zweier Menschen auf eine harte Probe, die selbst im Angesicht des Todes Bestand haben muss. Daraus definiert "Breaking the Waves", was unbegrenzte Liebe sein könnte. Liebe sei – so postuliert es das Werk - schwierig, erfordere beidseitiges Vertrauen und gegenseitige Unterstützung ohne Bedingungen. Sie ist sozusagen frei – und muss von beiden Parteien akzeptiert werden. Bess' Wunsch nach Liebe, der ihr teilweise psychische Höllenqualen bereitet, ist keineswegs "abnormal", sondern bemerkenswert.
Schwieriger dagegen tendenziell unwichtige, aber dennoch nicht minder spannende Aspekte zweifelsfrei zu analysieren. Es obliegt dem Zuschauer, wie er es sich erklärt, wenn in einem leichten Anflug von dramaturgischer Konstruiertheit Bess von einem Augenblick zum nächsten aus einem Polizeiauto fliehen kann, wie es Jan hingegen mühelos schafft, den Sarg mit Bess' Leiche auszutauschen . Und wie Bess überhaupt Jan kennenlernen konnte. Sie, die von ihrer Mutter Bewachte, introvertiert. Er, der kräftige Arbeiter vom Bau, extrovertiert. Zwei aufeinanderprallende Welten, ein Paar aus gesellschaftlichen Schichten, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten.

Zur Redundanz neigen unabhängig davon jene Zwiegespräche zwischen Gott (der als Teil der menschlichen Seele in Bess' Körper, also als etwas Rationales verstanden werden will) und Bess, die Assoziationen mit Gollum aus "Der Herr der Ringe" wecken. Schizophrenie ist es in beiden Fällen nicht, allerdings sind die Parallelen evident, nämlich genau da, in denen Bess und Gollum permanent hin- und hergerissen werden zwischen ihrem dunklen und humanistischen Ich. Eine Verkürzung der entsprechenden Dialogpassagen in "Breaking the Weaves" wäre ungeachtet dessen willkommen gewesen.
Wahrlich ehrfurchtgebietend ist Emily Watsons vielerorts umschwärmte virtuose Gratwanderung (ihr Schauspieldebüt!) vom naiven Mädel zur hysterischen Furie und darüber hinaus. Watson spielt sich in einen regelrechten Rausch, sie weint sich, winselt sich, schreit sich bis zur Unkenntlichkeit die Seele aus dem Leib, als wenn es um ihr Leben ginge. Beängstigende Energieleistung. Zusammen mit der nicht minder grandiosen Katrin Cartlidge und dem subtil agierenden Stellan Skarsgård ein über jeden Zweifel erhabenes Dreiergespann.
Ein Dreiergespann, dessen Figuren als solche paradoxerweise wenig bis gar nicht ausgearbeitet sind, was allerdings nicht als Vorwurf gemeint ist, eher als beiläufige Randnotiz. Dadurch, dass der Zuschauer in die Handlung unkontrolliert hineingeschmissen wird und die Figuren einfach da sind, erfährt man auch später nicht viel Historisches aus der Vergangenheitskiste von Bess, Dodo und Jan, außer, dass Bess dort aufgewachsen ist, wo sie momentan lebt, dass Dodo ihren Ehemann verlor und Jan, der Arbeiter auf einer Ölbohrinsel, eben auf einer… Ölbohrinsel arbeitet. Mysteriös. Dem Tenor des Films entsprechend.
Fazit
Schwermütiges, polarisierendes sowie überragend gespieltes Kaleidoskop unerträglichen Seelenschmerzes im Gewand eines doppelbödigen Dramas, das kritische Religionstöne anschlägt und nebenbei die philosophische Suche nach dem Sinn der Liebe mitsamt all ihren zwischenmenschlichen Perversitäten in herzzerreißenden Bildern von großer Intensität illustriert. Frage: Was würde tatsächlich passieren, nehme einer die Geschichte von Jesus Christus zu ernst? Lars von Trier jedenfalls, der wirft dem ahnungslosen Zuschauer einmal mehr ein vertracktes Monstrum hin; soll er doch selber sehen, was er darin zu finden vermag.
7,5/10
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