Brasilien: “Der Funke, der die Steppe in Brand setzt”

Von Politropolis @sattler59

Proteste in Brasilien, ihre mediale Inszenierung und die FIFA-WM

In den deutschen Haupt-Nachrichten werden Videos und Bilder von randalierenden Menschen in brasilianischen Städten gezeigt. (z.B. ARD Tagesschau vom 26-29.10.2013) Es gäbe Ausschreitungen wegen “zu teurer Bustickets”. So kann man grob zusammenfassen, wie die “Informationen” über den “vielfältigen und vielschichtigen Protest” in Brasilien zu einem für die deutschen Zuschauer in Szene gesetzten Zerrbild dessen werden, was dort wirklich geschieht.
Etwa 10-15 Millionen Menschen demonstrieren auf den Straßen in den großen Städten Brasiliens für mehr Teilhabe und Gerechtigkeit, für bessere Lebensbedingungen, besseren öffentlichen Nahverkehr, mehr und besseren Zugang zur Grundversorgung – und: Gegen die FIFA-WM.

Prof. Carlos Vainer: Proteste in Brasilien und ein Zitat von Mao T: “Xing xing zhi huo, ke yi liao yuan” – Ein einziger Funke kann eine Steppe in Brand setzen (2) – Foto: © politropolis

Was weiß die “Allgemeinheit” in Europa denn wirklich über Brasilien, seine Geschichte und über die Gründe für die Proteste in diesem Land? Eher wenig. Und “meistens sind es Mythen”, sagt Professor Vainer anläßlich der Informationsveranstaltung zu der Protestbewegung in Brasilien mit dem Titel: „Die Stadt den Menschen!“ (1)

Eckdaten über das Land am Amazonas

Brasilien ist das größte Land Südamerikas, die Landessprache ist Portugiesisch, während bis auf das kleine Belize in allen anderen Ländern in Mittel- und Südamerika Spanisch gesprochen wird.
Brasiliens ist der fünftgrößte Staat der Erde, 24x so groß wie Deutschland, hat über 190Millionen Einwohner und nimmt knapp 50% des gesamten Kontinents Südamerika ein. Die Bevölkerung ist jung: 28,2% sind unter 15 Jahre alt, 65,8% sind 15 bis 64 Jahre alt und nur 6,0% über 65 (Stand: 2009). Das mittlere Alter beträgt 27,4 Jahre, die mittlere Lebenserwartung liegt bei 71,4 Jahren (3). 85% aller Brasilianer gelten nach unseren Maßstäben als “arm”.
Der Reichtum an Bodenschätzen ist gewaltig. Vor allem Eisen: Nach Schätzungen soll der brasilianische Vorrat den gesamten Weltbedarf für weitere 500 Jahre decken können. Aber auch reiche Vorkommen an Mangan, Kohle, Bauxit, Nickel, Erdöl, Zinn, Silber, Diamanten, Gold, Erdgas und Uran sind vorhanden. Erdöl: Die tägliche Fördermenge beträgt 1,5 Millionen Barrel. Es werden noch gewaltige Reserven in der Tiefsee vermutet, bis zu 100 Mrd. Barrel. Zahlreiche Konzessionen werden im Moment (in Kooperation mit dem staatlichen Ölkonzern Petrobras) an ca. 70 Interessenten vergeben. (4/5).
Demokratie: Die seit 1964 regierende Militär-Diktatur wurde 1985 abgeschafft. Seitdem versucht sich das Land in “Demokratie”. Vom Reichtum des Landes kommt größtenteils – trotz aller Verbesserungen, die man beobachten kann – nur wenig bei den Menschen an.

Polizei und Militär funktionieren noch wie in vordemokratischen Zeiten – Foto: © politropolis

Protestkultur: In den 80er und 90er Jahren gab es zuvor fast ausschliesslich Proteste und Bewegungen für mehr Gerechtigkeit in den Landregionen, den Landlosen, z.B: den “Nordestinos“. Eigentlich eine paradoxe Situation, wenn man bedenkt, das 85% der brasilianischen Bevölkerung in den Städten leben.

Heute: Es gibt zig Bewegungen in den großen Städten, die sich zu zahlreichen Themen formieren und sich vielstimmig organisieren und zusammenfinden. Seien es die Proteste wegen der steigenden Preise im öffentlichen Nahverkehr, gegen die gewaltsame Umsiedelung von Menschen aus den Favelas oder der Protest gegen FIFA und deren Sponsoren, die Gentrifizierung, die Vertreibung der angestammten Bevölkerung in den Zentren, gegen die irrwitzigen Spekulationen, die rund um die Veranstaltungsorte mit der Fußball-WM einhergehen.
Es gibt ähnlich zu der Occupy-Bewegung keine Funktionäre der Parteien oder der Gewerkschaften, die sich an die Spitze des Bürger-Protestes stellen könnten, um die Massen als “Verstärkung” für die eigene Sache zu instrumentalisieren. Es gibt anstelle dessen sicher 100.000-de verschiedene Sprecher, die mit ihrer Vielstimmigkeit dem Protest ein besonderes Gesicht verleihen. Alle Versuche, die Protestbewegung durch (Regierungs-)Parteien oder anderen Organisationen zu übernehmen, seien gescheitert, führt Vainer weiter aus. Die Regierungen und institutionelle Organisationen hätten in den vergangenen Jahren hautpsächlich auf ihre Berater gehört und dadurch jeglichen Realitätsbezug verloren. Sie glaubten, was die soziale Situation im eigenen Land beträfe an “potemkinsche Dörfer“, die man ihnen vorführe. So würden in den Städten die Lebensbedingungen Spekulationsgewinnen geopfert – und zwar überall, wo man hinsehen könne. In dieser Situation würde die FIFA – ein “Geschäftsmännerverein, der die Fußballweltmeisterschaft zu einer reinen Businessveranstaltung macht”, die Lage noch erheblich verschlimmern.

Schon jetzt gibt es kein Hotelzimmer unter 400Dollar pro Nacht, und keinen Flug von Europa zur WM unter 2.000Euro. Besondere Schlaglichter auf das demokratische Selbstverständnis warfen zwei Ereignisse: Zum einen die Aussage Sepp Blatters [siehe auch (6)], der sinngemaß so zitiert wurde: Es sei doch vergleichsweise komplizierter und schwieriger, eine WM in einer Demokratie zu veranstalten, zum anderen, die Tatsache, dass Vertreter und Veranstalter von Sponsoren, darunter “Budweiser”, es schafften, die demokratisch gewählte Präsidentin von Brasilien Dilma Rousseff dazu zu bewegen öffentlich zu sagen, sie würde alles dafür tun, weitere Proteste zu verhindern, um einen reibungslosen Ablauf der WM zu garantieren.

Die FIFA sei Bestandteil eines Kartells kooperatistischer Interessen. Aber auch Bürgermeister und Stadtverwaltungen würden Bündnisse eingehen, um wiederum eigene Interessen durchzusetzen. Dass sportliche Großereignisse zu Propaganda-Zwecken mißbraucht werden, sei spätestens seit den Olympischen Spielen von 1936 ein offenes Geheimnis.
Dort innerhalb der Stadien feiern sich heute die vermeintlichen Eliten vor den euphorischen Fußballfans und in den weltweit ausgestrahlten Übertragungen. Währenddessen werden Bannmeilen rund um die Stadien gezogen, in denen “FIFA-Sponsoren Exklusivität garantiert wird”, wohingegen Straßenhändler und Kleingewerbetreibende weichen müssen, samt Bon-Bon- und T-Shirt-Verkäufern und die ärmsten der Armen vertrieben werden.

Claudia Favaro vom WM-Basiskomitee in Porto Alegre sagt: “Die FIFA sperrt gerade das aus, was Brasilien ausmacht!” – Foto: © politropolis

Welche Antworten gibt die demokratische Staatsmacht den Protestierenden? Das Militär wird auf den Plan gerufen, die Reaktion ist Gewalt. Die Gesetze aus der Militärdiktatur “liegen noch offen da” man könne einfach wieder auf die aus früheren Zeiten noch vorhandene “Kultur der Gewalt” zurückgreifen. In einem Beispiel führten die Referenten aus, dass zur Legitimation von Repressalien und hartem Eingreifen der “Sicherrheitskräfte” Schülerproteste in Sao Paulo behördlicherseits einfach als “Bildung einer kriminellen Bande” umgedeutet wurden.

Die Referentin Frau Favaro führte ein Beispiel aus eigener Erfahrung an: Als sie von einem Vortrag zurückgekommen sei, hätte die Kriminalpolizei sie schon in ihrer Wohnung erwartet. “Sie haben alles mitgenommen, Computer, Laptop, USB-Sticks und DVDs. Und aus meinem Bücherregal die Schriften von Karl Marx, die ich als politisch Interessierte zu Studienzwecken hatte”. Noch sichtlich betroffen von den Vorfällen fragte Sie rhetorisch in die Runde “Was ist das für eine Demokratie, bei der man noch nicht einmal ein Buch von Karl Marx in seinem Regal stehen haben darf?”

Umsiedelung und sozialer Wohnungsbau auf brasilianisch: 3-4 Stunden Fahrzeit bis in die Zentren – “Die deutschen Zuhörer mögen mir verzeihen, das erinnert vom Aussehen her eher an Konzentrationslager” – Foto: © politropolis

In ihrem Vortrag wies Frau Favaro sie unter anderem auf planerische Defizite in Brasiliens Städten hin:

• Die allgemeinen Lebensbedingungen
verschlechtern sich
• Mobiliät: der öffentliche Nahverkehr ist marode
und zu teuer
• Man kann von einer Verweigerung zum Zugang
von Infrastruktur sprechen
• Man wohnt außer in den Zentren zu weit zum
Krankenhaus (Wer einen schweren Herzinfarkt
erleidet, hat beispielsweise gute Chancen auf dem
langen Weg zum Krankenaus zu sterben)
• Gentrifizierung: Die ärmeren Menschen werden
aus den Zentren der Städte verjagt – nicht selten
mit wenig zimperlichen Methoden

“Die Städte werden zu Zeitbomben”, so bewertet sie die Lage und bemängelt das gleichzeitige Fehlen eines Konzeptes für die Städte. Die jetzigen Planungen für die “Umsiedlung” der ärmeren Bevölkerung sei völlig an den Realitäten vorbei: Es gehe soweit, das die Menschen, die bei den Stadionbauten im Wege sind in Sicherheitscontainer gepfercht werden. Tausende Menschen werden im Moment landesweit um die Stadien herum vertrieben. Und das was in Brasilien unter dem Namen “sozialer Wohnungsbau” laufe, sei häufig so teuer, dass es für viele einfach nicht bezahlbar sei, wodurch die “Umsiedelung” aus den Favelas eine direkte Existenzbedrohung darstelle. In einem Land, das nach 30 Jahren Demokratie bei der Einkommensverteilung an der weltweit fünftletzten Stelle steht, scheint der massenhafte Protest seiner Bürger nun endlich einiges zu bewegen. Nicht nur bei den Regierenden, sondern auch innerhalb der Gesellschaft.

“Wir brauchen gerechtere Städte, mit einem fairen Zugang für alle”. Ein schwieriger, komplexer Prozess, der da angestoßen werden muss, aber die Entwicklungen im Vorfeld zur WM haben gezeigt: Mit der Umsiedelung und Zwangsräumung von 250.000 Menschen, die auf der Tagesordnung stehen, nehmen negative Entwicklungen zu. (7) Neben Korruption und mangelnder Transparenz bei Entscheidungen und Umweltschädigungen, ist auch eine Zunahme von Kinder- und Menschenhandel, Gewalt -auch sexueller Gewalt- zu verzeichnen. Entwicklungen, die nicht hinnehmbar sind. Genau das sind jedoch die Begleiterscheinungen des Kommerz-Spekatkels zu dem die “Marke” FIFA-Fußball-WM geworden ist. Sport und Spaß stehen bestimmt nicht an erster Stelle.

Prof. Vainer zur Pressefreiheit und Demokratie in Brasilien bei den Protesten 2013: “Unsere Demokratie ist wie eine Statue hinter Glas in einer Vitrine. Wenn man sie herausholten würde, stellte man fest, sie ist überholt.” – Foto: © politropolis

Jedem Beobachter ist klar, dass es bei den Protesten um weit mehr geht, als um die  die Fußball-WM. Die Städte werden zu Konsumparks, aber für wen? Kaum ein Land der Welt hat im letzten Jahrzehnt so geboomt wie Brasilien. Vielleicht tobt der Kampf für mehr Rechte, mehr Teilhabe und mehr Demokratie deshalb so zornig. Von der Straße ist zu hören: “Wir sagen selbst, was wir wollen!” und “Wenn uns die Volksvertreter nicht mehr vertreten, müssen wir eine andere Form der Bürgerbeteiligung als durch Volksvertreter versuchen.” Forderungen nach einer neu organisierten partizipativen Demokratie stehen im Raum. Wie der Weg dorthin sein könnte und wie Modelle hierfür aussehen können, wird  in diesen Tagen in Brasilien diskutiert.

“Eine WM ohne die FIFA wäre für uns alle ein Segen. Für uns Brasilianer ist diese WM nicht gedacht, wir können uns die Karten nicht leisten.”, sagt Claudia Favaro zum Abschluss ihres Vortrags. 


ein Beitrag von Hans-Udo Sattler
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Quellen – weiterführende Links

Fotos: © politropolis

(1) Vortrag von Prof. Carlos Vainer (von der Universität Rio de Janeiro) in Köln am 26.10.2013, und: Claudia Favaro vom WM-Basiskomitee in Porto Alegre mit dem Titel: “Die Stadt den Menschen” Veranstalter: KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) gemeinsam der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) der Engagement Global GmbH.
(2) Worldcat.org: Zitat Mao Tse-tung: A single spark can start a prairie fire
(3) Demographische Daten Brasilien (Stand 2009)/wiki/Brasilien
Siehe auch: Länderportrait Brasilien
(4) NZZ: Alle Augen aufs brasilianische Erdöl (14.05.2013)
(5) derwesten.de Brasilien vergibt Milliarden-Konzession für neues Ölfeld (22.10.2013)
(6) Sepp Blatter zum Thema “Unzufriedenheit” in Brasilien : „Der Fußball ist stärker als die Unzufriedenheit der Menschen. Wenn der Ball einmal rollt, werden die Menschen das verstehen, und das wird aufhören“, sagte er der Zeitung „Estado de São Paulo“. (Quelle: Handelsblatt.de)

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