Neulich fragte mich meine deutsche Bekannte Isabell, die seit einem halben Jahr in Nordengland lebt, ob ich nicht Lust hätte, in Bradford einen Kaffee trinken zu gehen. Ich stutzte zunächst. Mir selbst wäre diese Stadt als Ausgehoption vermutlich nie in den Sinn gekommen, denn mein erster Besuch in der nordenglischen Stadt vor einem Jahr hat mich wenig begeistert. Damals saß ich mit meinem Engländer in einer der schäbigsten McDonalds-Filialen, die man sich vorstellen kann. Wir kamen gerade vom Großeinkauf im Tescos zurück und wollten nur mal schnell einen Bissen im Stadtzentrum verdrücken, kurz in den Buchladen schlüpfen, um dann wieder Richtung Heimat zu fahren. Doch beim ersten Blick auf Bradfords Innenleben, fühlte ich mich schlagartig fehl am Platz. Irgendwie wirkte der Ort mit seiner düsteren Architektur, den ebenso düster dreinschauenden Einwohnern und den verlodderten Ramschläden wenig einladend. Der Vorschlag meiner Bekannten klang also zunächst äußerst befremdlich in meinen Ohren. Aber da ich mich ja gern überraschen lasse und viele Orte erst auf den zweiten Blick ihren Charme entfalten, sagte ich dennoch zu und sah dem Unternehmen „Kaffeekränzchen in Bradford“ mit ausgelassener Neugier entgegen.
Fährt man im Bahnhof Bradford Interchange ein, fällt die Begrüßung zumindest schon mal anständig aus. Hier verzieren allerlei bunt geschmückte Blumenrabatten das Bahnhofsgebäude und der Besucher ist gleich mal positiv gestimmt. In der Wartehalle lümmeln ein paar ältere Gottesanbeter herum, die mich schüchtern zu einer Umfrage auffordern. Doch ich habe keine Lust auf religiösen Schnickschnack und ignoriere den Annäherungsversuch der Zeugen Jehovas mit kalter Schulter. Auf der Rolltreppe entdecke ich Isabell, die mir munter lächelnd und gut bepackt mit einem Schwung Shoppingtüten entgegeneilt. Und dann stürzen wir uns ins Getümmel, oder vielmehr ins Geplätscher, denn es regnet mal wieder anständig im Norden Englands. Also beeilen wir uns, um ins Trockene zu kommen, denn mein deutscher Regenschirm ist den rauen Winden im Norden praktisch wehrlos ausgeliefert. Bevor er mir ganz davonfliegt, erreichen wir Valeries Patisserie, ein modernes Kaffehaus mit einer schmackhaften Auswahl an sahnigen Torten, dick belegten Sandwiches und natürlich belebenden Heißgetränken. Das Ambiente wirkt äußerst edel, schick und modern. Von den Decken baumeln glitzernde Kronleuchter, die den großen Raum in kuschelig-warmes Licht tauchen. Meine Güte, von der Shabby-Frittenbude direkt ins Nobelcafé, Bradford scheint mir eine Stadt voller Extreme zu sein.
Isabell greift zu Carrot Cake und Apfelschorle. Ich begnüge mich mit einem Steak-Sandwich und Milchkaffee mit Haselnuss-Sirup. In drei Wochen, erfahre ich, wird Isabell wieder nach Deutschland zurückkehren und sie ist sichtlich erleichtert. Ich frage sie, ob sie sich vorstellen kann, irgendwann mal wieder herzukommen und kassiere eine glatte Abfuhr. Mit vehementem Kopfschütteln erklärt sie: „Nein, auf keinen Fall. Ich habe mich hier einfach nicht sehr wohl gefühlt.“ Ich bin traurig, dass ausgerechnet Bradford von allen möglichen idyllischen Orten in Yorkshire ihren Eindruck vom Norden Englands so sehr überschattet hat. Doch ich kann sie verstehen, denn hätte mich mein Engländer damals nach Bradford verschleppt, wäre ich vermutlich auch nicht besonders glücklich geworden. Aber ist die Stadt denn wirklich so grauslig, wie man auf den ersten Blick meinen könnte? Als Ureinwohnerin Marzahns, einem Neubau-Stadtteil ganz im Osten Berlins weiß ich, wie sehr der Ruf eines Ortes oft davon abhängt, welche Beziehung man selbst dazu hegt und wie sehr man dazu bereit ist, auch unter die abgehalfterten Oberflächen zu schauen. Aber auch die Zeit trägt viel dazu bei, wie sich ein Ort entwickelt, denn Lebensgewohnheiten ändern sich. In den achtziger Jahren war Marzahn einmal eine moderne, innovative Vorzeigesiedlung, die vor allem für junge Familien anziehend war, dann geriet der Plattenbau für viele Jahre in den Verruf unmenschliche Wohnbedingungen zu befördern.
Irgendwann muss also auch Bradford einmal mehr gewesen sein als eine Metropole mit zweifelhaftem Ruf. Wenn ich mir gerade die alten Gebäude hier so anschaue, die hier und da unter Bau-Gerüsten und verwitterten Werbeplakaten hervorblitzen, bekomme ich den Eindruck, dass diese Stadt einst sogar von Bedeutung war. Bradford, dessen Name sich aus brad bzw. broad für „breit“ und ford zu deutsch „Furt“ zusammensetzt, begann als kleines Dorf, das im Jahr 1086 bereits zwischen 300 und 350 Einwohnern zählte, für die damalige Zeit eine recht anständige Zahl. Im Laufe des Mittelalters erhielt Bradford Marktrechte und entwickelte sich allmählich zur Stadt, deren Hauptwirtschaftszweige in der Ledergerberei und Wollindustrie lagen. Obwohl es kontinuierlich weiter wuchs, erlangte Bradford erst im Zeitalter der Industriellen Revolution ab 1840 überregionale und bald auch internationale Bedeutung als Zentrum der Wollverarbeitung. Einwanderer aus Deutschland und Irland ließen die Einwohnermarke bald über 100.000 klettern und Bradford wuchs rapide zu einer Großstadt heran. Es gibt sogar heute noch einen Stadtteil, der „Little Germany“ heißt. Doch die Lebensbedingungen in den schnell aus dem Boden gestampften Arbeiter-Unterkünften waren katastrophal, sanitäre Anlagen fehlten oder waren mangelhaft, zudem führten Brände, Epidemien und Vergiftungen zu vielen Todesfällen. Erst nach und nach wurden Verbesserungen erzielt. Im 20. Jahrhundert war Bradford nach wie vor ein Zentrum der Textilindustrie, doch auch das Bankenwesen und der Autobau erzielten großen Anteil am Wirtschaftswachstum der Stadt.
Mit den großen Einwanderungswellen aus Pakistan, Indien und Bangladesh in den 50er Jahren wurde Bradford nicht nur zu einer durch und durch multikulturellen Stadt, sondern erhielt auch ein neues Gesicht, denn viele historische Gebäude wichen dringend benötigten Sozialwohnungen. Mit der Rezession in den 1970iger Jahren erlitt die Textilindustrie einen herben Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholen konnte. Die Fabriken schlossen nach und nach und die Arbeitslosenquote stieg rapide. Nun zeigte sich auch die Kehrseite der unkontrollierten muslimischen Einwanderung. Fehlende Integrationsprogramme und der daraus erwachsende Kommunikationsmangel führten zu offen ausgetragenen Konflikten. 1995 und 2001 brachen mehrere gewaltsame Aufstände seitens pakistanischstämmiger Einwanderer aus, die aufgrund einer Polizeiaktion mit Plünderungen und Brandstiftungen reagierten. Der Anteil pakistanischstämmiger Einwohner in Bradford ist heute der höchste in ganz Großbritannien, wodurch wohl auch die inoffiziellen Spitznamen der Stadt, die mitunter „Bradistan“ oder auch „Curry-Capital“ genannt wird, herrühren. Mittlerweile herrscht eine seltsame Beziehung zwischen Engländern und asiatischen Muslimen, die ich selbst als äußerst angespannt empfinde. Gerade im Straßenverkehr zeigt sich die Absurdität dieses Verhältnisses. Auffällig viele asiatische Autofahrer leisten sich gefährliche Manöver, missachten die Straßenverkehrsordnung oder legen sie frei für sich aus. Die Engländer reagieren mit Unmut, doch offen geht scheinbar niemand dagegen vor. Die Angst, als Rassist abgestempelt zu werden, scheint größer zu sein als die Sicherheit auf den Straßen. Vermutlich fürchtet man auch einen weiteren Ausbruch der Gewalt. Es scheint als stünde Bradford inzwischen unter pakistanischer Verwaltungshoheit und die Engländer haben sich mehr oder weniger höflich aus dem Stadtbild verzogen.
Was also ist so interessant an Bradford? Warum sollte man da überhaupt hin? Die Straßen sind so gut wie leer, jede Ecke zugemölt, die Kriminalitätsrate hoch. Nun, die Stadt ist sicher kein Touristenmagnet, auch wenn die Alhambra und das National Media Museum durchaus lohnenswerte Kulturhighlights sind. Ob man die Stadt in sein Ausflugsprogramm mit aufnimmt, kommt ganz darauf an, was man von einer Stadt sehen und erfahren will. Hübsche Parks, nennenswerte Attraktionen, angesagte Restaurants, hippe Läden. Das alles findet man sicher anderswo weitaus zahlreicher bzw. überhaupt vor. Aber wer sich für die wechselhafte Geschichte einer einst bedeutenden Metropole interessiert und Nordengland eben nicht nur durch die romantisch-idyllische, sondern durch eine authentische Brille sehen will, der gehe nach Bradford und blicke sich gut um. Auch diese Stadt gehört zum realen Yorkshire, das eben weitaus facettenreicher ist als „nur“ ein reizvolles Ausflugsziel in einer Hochglanz-Reisebroschüre.
Warst du schon mal in Bradford? Welchen Eindruck hinterließ die Stadt bei dir? Oder hast du ähnliche Erfahrungen in anderen Städten gemacht? Teile deine Gedanken und schreibe mir einen Kommentar. Ich freue mich auf jede Nachricht und antworte gern darauf!
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