Wie schon bei Chih-i wird also auch von Bodhidharma nicht eine einzige Regel (sila)betont, sondern die Tugenden (paramita) der Duldsamkeit und Gebefreudigkeit. Da alle Wesen die identische (Buddha-)Natur haben, besitzt auch kein Lehrer etwas, dass ein Schüler nicht besäße.
Aus dem Vimalakirti-Sutra stammen die Aussagen, dass Befleckungen (klesa) nicht abgeschnitten werden müssen, um Nirwana zu erlangen; dass alle Taten Ausdruck der Erleuchtung sein können; und dass auch ein Bodhisattva Begehrlichkeiten zeigen kann, dabei aber unbewegt bleibt. Im Gefolge Bodhidharmas, das sich zunehmend auf dieses Sutra und Nagarjuna stützte, wurde dies weiter ausformuliert.: „Wenn richtig und falsch nicht aufkommen, ist die Verkörperung der Gebote rein; dies nennt man moralische Tugend (sila-paramita).“[3] Noch schärfer werden diejenigen kritisiert, die Folgendes denken: „‚Ich habe Übles getan und Strafen empfangen. Wenn ich Gutes tue, werde ich hingegen belohnt.‘ Dies ist schlechtes Karma. Von Beginn an haben solche Dinge nicht existiert, doch wer sich so erinnert und unterscheidet, der glaubt fälschlich, ein Ego existiere.“ Auch Glieder des Achtfachen Pfades werden hiervon nicht ausgenommen: „Jemand mit Scharfsinn hört vom Weg, ohne Begehren danach zu entwickeln. Er erzeugt nicht einmal rechte Achtsamkeit und rechte Versenkung.“ Und: „Wer die Weglosigkeit beschreitet, lehnt die Begierde nicht ab. Denn für den, der verstanden hat, ist Begierde begierdelos.“
Die Ethik des frühen Chan hat sich damit von der Schwarzweißmalerei, wie sie in den Regeln für Laien und dem Verhaltenskodex für Mönche (Vinaya) inbegriffen ist, bereits verabschiedet. Sie stellt zentrale Thesen des Theravada zum Karma und zu den Ursachen des Leidens, wie hier die Begierde, in Frage (um sie noch tiefgründiger zu verstehen) und wertet insbesondere das Loslassen von Besitztümern als wesentliche moralische Praxis. Dieser letzte Punkt wird bei der Beurteilung von Lehrern heute m.E. oft übersehen.
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Sehr amüsant liest sich ein im Netz zu findender Aufsatz von Bernhard Faure: "From Bodhidharma to Daruma: The Hidden Life of a Zen Patriarch". Der Autor verhandelt die vielfältigen Darstellungsweisen Bodhidharmas, der nicht nur als gliedlose Aufstehpuppe, sondern u. a. auch als Schutzgottheit gegen Windpocken oder für die Plazenta herhalten muss, wobei er zuweilen sogar dämonische Züge annimmt. In der japanischen Malerei- und Druckkunst ukiyo-e wird Bodhidharma auch als Frau, Kurtisane oder Transvestit dargestellt; auch in Begleitung von zwei Prostituierten - einem Mann und einer Frau - kann man ihn da bestaunen. Seine berüchtigte Standfestigkeit findet in der sexuellen Symbolik einen weiteren Ausdruck ...
[1] Die Formulierung „dhyâna mit gekreuzten Beinen“ (ts’o-chan) ist in den Texten aus dem Bodhidharma-Umfeld laut Broughton (siehe Fußnote 4) nur zwei Mal zu finden.
[2] John Mc Rae verweist in Seeing through Zen auf Chih-i (Zhiyi), um das Verständnis dieser „Wand“ zu erweitern: „Konzentration (chin. chih, san. shamatha) ist ‚Wandkonzentration‘ (chin. pi-ting), bei der die üblen Wahrnehmungen der acht Winde nicht eintreten können.“ Diese ‚Wandkonzentration‘ wird später von Zhanran (711-782) so kommentiert: „Ein Raum hat vier Wände, also können die acht Winde nicht eindringen … Sie werden als Metapher benutzt.“ (S. 31) In diesem Sinne stünde m. E. nicht das Sitzen vor einer Wand, sondern der konzentrierte Geist als ‚Schutzwall‘ vor Ablenkungen im Vordergrund.
[3] Siehe Jeffrey Broughton: The Bodhidharma Anthology: The Earliest Records of Zen.(University of California Press 1999).