Bodhicitta – Der Geist des Erwachens (Teil 1)

Von Rangdroldorje

Indem man den Erleuchtungsgeist entwickelt, beginnt man das Ziel der Befreiung von einem selbst auf alle Wesen auszudehnen. Dadurch tritt man in den Großen Pfad – Mahayana genannt – ein. Vorweg gleich einmal angemerkt, Bodhicitta – der Erleuchtungsgeist – sollte nicht einfach mit einer karitativen Tätigkeit oder Mitleid verwechselt werden. Obwohl viele Menschen Mitleid mit armen, schwachen Wesen empfinden und auch ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft aufbringen, ist diese Haltung immer vom Dualismus geprägt und daher kein Erleuchtungsgeist. Ein guter Mensch zu sein ist selbstverständlich eine sozial verträgliche Haltung, doch ist diese Perspektive noch immer von den Makeln des Ich-Denkens beeinträchtigt.
Das Hervorbringen des Erleuchtungsgeistes ist immens wichtig, besonders wenn jemand  noch dazu den Pfad des Vajrayana beschreitet. Praktiziert jemand Vajrayana ohne Bodhicitta, dann werden die geschickten Mittel des Geheimen Mantrayana nicht zur Befreiung führen. Die komplexen Meditationen und Handlungen der Nyingma- und Sarma-Tradition werden jemanden, der dies ohne Bodhicitta ausführt, nur in einen kleinen Zauberer verwandeln. Vielleicht ist man durch diese Praktiken in weltlichen Belangen erfolgreich und auch charismatisch, aber da diese Person noch immer eine nihilistische Sicht und Motivation hat, wird sich keine tiefgreifende Wandlung einstellen und somit nur oberflächliche Wichtigtuerei bleiben.

Die Grundlagen

Nachdem ausnahmslos alle fühlenden Wesen Buddha-Natur haben, ist das Resultat der Buddhaschaft so gewiss wie der Tod. Wie im Sutra „König der Meditation“ vermerkt ist: „Die Essenz des Tathagatagarbha durchdringt vollständig alle Lebewesen.“ Dennoch ist sie nicht offenbar, sondern darin verborgen. Um sie also zu manifestieren, sind bestimmte Bedingungen und Handlungen notwendig. Wie im „Großen Nirvana Sutra“ gesagt wird: „Wie in der Milch Butter bereits enthalten ist, so sind alle Wesen von der Essenz des Tathagatagarbha durchdrungen.“ Genauso aber muss auch die Milch auf korrekte Weise behandelt und umgerührt werden, damit Butter manifest wird.

Die Sicht und Übung der BefreiungsheldInnen

Wenden wir uns deshalb der Sichtweise der Bodhisattvas zu. Die ursächliche Bedingung – die Buddha-Natur – ist ausnahmslos jedem fühlenden Wesen angeboren, auch uns selbst. Die leitende Bedingung ist der spirituelle Freund, diejenige Person, die die Vier Grenzenlosen Geisteshaltung lehrt. Die objektive Bedingung wird von den Wesen und ihren Leiden dargestellt. Und die zusätzliche Bedingung ist, dass man die Vorzüge im Entwickeln der Vier Grenzenlosen erkennt und die Nachteile, wenn man sie nicht hält.
Bodhicitta – die Sicht und Handlung der Bodhisattvas – ist zunächst der Wunsch, vollkommenen Erleuchtung zum Wohle aller fühlenden Wesen zu erlangen, um diese auch auf die Stufe der Buddhaschaft führen zu können. Die Ursache dafür ist wiederum dreifach: 1) Vertrauen in den Buddha, 2) Mitgefühl für die fühlenden Wesen und 3) die Vorzüge von Bodhicitta zu kennen. Als begleitendenden Faktor benötigt man auch Mut und die überragende Motivation, diese Last allein auf sich zu nehmen.
Die bekanntesten Kategorien, in denen Bodhicitta eingeteilt werden sind: 1) der relative und 2) der absolute Erleuchtungsgeist. Als Grundlage dafür wird gerne „Der Pfad der Bodhisattas“ (Bodhicaryavatara) von Shantideva zitiert, der darin Bodhicitta in diesen zwei Aspekten beschreibt – jenes der Absicht bzw. des Strebens und dann das Bodhicitta der praktischen Ausführung.
Wie in den Bodhisattva-Stufen gesagt wird, richtet man sich auf die Erleuchtung und auf die fühlenden Wesen aus, um Bodhicitta zu entwickeln. Konkret heißt das, dass man einerseits nach der ursprünglichen Weisheit des Mahayana und andererseits auf die Vier Grenzenlosen Geisteshaltungen.
Genauso als ob man eine Reise machen möchte, genügt es nicht, weder allein den Wunsch für diese Reise zu haben, noch sich einfach auf den Weg machen. Vielmehr müssen diese beiden Aspekte Hand in Hand gehen. Daher umfasst Bodhicitta sowohl den wünschenden wie auch den handelnden Aspekt, wobei diese mit der Ausrichtung auf die Erleuchtung und dem dabei unterstützenden Mitgefühl verbunden sind.

Wie wird nun Bodhicitta entwickelt?

Dabei beginnen wir von unserer eigenen Erfahrung ausgehend, dass wir selbst nicht leiden und immerwährendes Glück erleben möchten und schließen dann, dass ausnahmslos alle fühlenden Wesen der sechs Bereiche dies ebenfalls so möchten. Daher entwickeln wir zuerst das wünschende Bodhicitta und geben zwei Versprechen dabei ab: 1) das Versprechen der Ursache und 2) das Versprechen des Ergebnisses.
Das Versprechen der Ursache besteht aus den Vier Grenzenlosen Geisteshaltungen. Zunächst einmal erkennen wir, dass ausnahmslos alle fühlenden Wesen unsere Mütter gewesen sind und entwickeln so den notwendigen Gleichmut, nicht nahe den einen und fern den anderen. Aus der Erkenntnis heraus, dass alle fühlenden Wesen unsere Mütter gewesen sind, übernehmen wir für sie Verantwortung und betrachten sie mit liebender Güte. Weiters erkennen wir, dass ihr Leiden in der zyklischen Existenz unerträglich ist und beschließen, dass wir sie nicht aufgeben können. So entfalten wir Mitgefühl. Und schließlich ist es für uns eine Freude, sie glücklich zu sehen und zu wissen, dass sie einen höheren Zustand erlangen. Diese vier Geisteshaltungen werden deshalb auch grenzenlos genannt, weil sie sich auf alle Wesen in allen Daseinsbereichen richten, ohne irgendeinen Unterschied zu machen oder irgendwo Grenzen zu setzen.
Das Versprechen des Resultats ist die Absicht, sie alle zur Buddhaschaft zu führen.
In Bezug auf die fühlenden Wesen erscheinen die Vier Grenzenlosen Geisteshaltungen eben in ihrer Begrifflichkeit. In Bezug zur letztendlichen Natur, mit der Erkenntnis, dass sie von ungeborener Natur sind, erscheinen sie als die vier Zustände, frei von Konzepten.
Konkrete Übungen um diese Vier Unermesslichen Geisteszustände zu erzeugen gibt es viele. Die einfachste Übung um liebende Güte zu entwickeln ist, dass wir an ein kleines Kind denken, uns dieses vorstellen. Auch wenn wir irgendwelche jungen Tiere sehen, entwickeln wir automatisch ein Gefühl liebender Güte. Um Mitgefühl zu entfalten wird empfohlen, dass wir uns jemanden vorstellen, der/die an einer unheilbaren Krankheit leidet.  Für das Entwickeln von Freude denken wir an eine uns befreundete Person, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben und mit der wir nun bald zusammentreffen werden. Gleichmut entsteht durch das Freisein von Vorlieben und das Wissen, dass ausnahmslos alle fühlenden Wesen unsere Mütter gewesen sind.

Im nächsten Beitrag folgt die Darstellung des handelnden Bodhicitta. Also dranbleiben!