Boccaccios Decameron

 

Boccaccios Decameron

Ein Plädoyer für Heterosexualität?

Die zehnte Geschichte des fünften Tages

Boccaccios Decameron ist bekannt als Querschnitt durch die Gesellschaft, der die universale Wirkungskraft der sexuellen Triebe aufzeigt. In den hundert Binnenerzählungen finden sich Protagonisten aus den verschiedensten Ständen, Bildungsschichten und sozialen Hintergründen, die aber alle eines gemeinsam haben: Sie alle gehen ihren erotischen Vorlieben nach, geben sich der Lust hin und erfüllen ihre sexuellen Phantasien. Obwohl die Rahmenhandlung eine zutiefst tugend- und standhafte Gruppe junger Menschen präsentiert, wird durch die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der erzählten Geschichten doch die Natürlichkeit und Normalität der Sexualität dargestellt: Alle wollen es – und sie tun es, ohne dabei Reue zu empfinden oder gar eine Strafe zu erfahren. Sex ist keine Sünde, sondern ein ganz natürliches Bedürfnis des Menschen, das es zu befriedigen gilt.

Dieser affirmative Grundtenor scheint jedoch eine Ausnahme zu finden: Die gleichgeschlechtliche Liebe. In der zehnten Geschichte des fünften Tages, erzählt von Dioneo, wird diese Differenzierung durch eine Unterscheidung zwischen weltlicher und göttlicher Ordnung eingeleitet: Folge ich meinem Verlangen, so handele ich nur den bürgerlichen Gesetzen zuwider, während er die Ordnung der Natur und die Gesetze zugleich übertritt. (S. 489)[1] Die ‚Gesetze’, also die von Menschen gemachte Ordnung, zu übertreten, bedeutet ein qualitativ geringeres Vergehen, als der ‚Ordnung der Natur’ zuwider zu handeln. Diese Unterscheidung und Wertung impliziert die Kreation eines neuen Obszönitätsbegriffs: Der Gesellschaft wird die Souveränität über die Festlegung dessen, was obszön ist, abgesprochen; alles, was naturgegeben ist, kann nicht obszön sein. Somit sind es auch die sexuellen Triebe nicht, so lange sie heterosexueller Natur sind. Obszön ist nach diesem neuen Begriffsverständnis nur das, was wider die Natur geht. In Dioneos Geschichte wird in der Tat der Ehebruch der Homosexualität gegenübergestellt:

Ist er mir doch selbst der beste Lehrmeister, von dem ich lernen kann, womit ich mich zu trösten habe. Er sucht seine Vergnügungen eben da, wo auch ich sie zu finden habe und wo sie für mich löblich, für ihn aber die ärgste Schmach sind. (S. 489)

Pietro, der seine Frau nur geheiratet hat, um sein Ansehen zu retten, geht seinen homosexuellen Neigungen nach und vernachlässigt dabei völlig die erotischen Bedürfnisse seiner Frau. Sich mit Männern zu vergnügen bezeichnet seine Frau dabei als für ihn [...] die ärgste Schmach und verurteilt somit sein Verhalten nicht nur, sondern zieht in einem zweiten Schritt aus diesem Verhalten auch die Rechtfertigung, Ehebruch zu begehen. Die Befriedigung ihrer Triebe sieht die Frau nicht nur als natürlich an, sondern auch als notwendig. Sexualität ist nicht nur normal, sondern ein Recht, das eingefordert werden kann und muss. Die Nicht-Befriedigung der sexuellen Triebe ist kein akzeptabler Zustand und so muss selbst der betrogene Ehemann anerkennen, dass seine untreue Frau im Recht ist. Anstatt sich schuldig zu fühlen, erhebt die Frau sich zur Anklägerin gegenüber ihrem Mann:

Freilich glaube ich, daß du wünschest, ein Feuer möge vom Himmel fallen und uns alle verzehren, denn ich weiß wohl, du hast uns Weiber so lieb wie der Hund den Knüttel.(S. 496)

Sie beschuldigt ihren Mann wegen seiner homosexuellen Neigungen und verteidigt gleichzeitig ihr Recht auf sexuelle Befriedigung. Während die Übertretungen der Frau zwar gesellschaftlich anstößig, aber nichtsdestotrotz nur naturgegeben sind, werden Pietros Neigungen als unnatürlich und damit obszön dargestellt. Die Untreue der Frau ist nur die unausweichliche Konsequenz von Pietros Verhalten, welches auch schon in den ersten Sätzen der Erzählung als verachtenswürdig eingeführt wird: Dioneo bezeichnet seinen Protagonisten als ehrenlosen Ehemann (S. 488), der seiner eigenen Schmach (S. 488) überlassen werden soll. In der Tat ist Pietro keineswegs verärgert über den Fehltritt seiner Frau. Im Gegenteil, er scheint sogar erfreut darüber zu sein, einen so anziehenden jungen Mann in seinem Haus quasi vorgesetzt zu bekommen und nutzt, wie aus der Abschlussszene hervorgeht, die Gelegenheit ausgiebig:

Nur so viel weiß ich, daß am andern Morgen auf seinem Heimweg der junge Bursche bis auf den Markt noch nicht mit sich einig geworden war, ob der Mann oder die Frau ihm eifriger Gesellschaft geleistet hatte.(S. 497)

Das Ehepaar scheint also sehr wohl in der Lage gewesen zu sein, das Beste aus der Situation zu machen, und zwar für alle Beteiligten. Wieder wurde keine der Übertretungen, sei es gesellschaftlicher oder naturwidriger Art, geahndet. Im Gegenteil, sowohl die beiden Ehebrecher als auch der homosexuelle Ehemann scheinen auf ihre Kosten gekommen zu sein. Alle haben sich amüsiert. Auch die Übertretung der natürlichen Ordnung scheint also nicht durch Strafe geahndet zu werden. Pietro und seine Frau haben einen Weg gefunden, ihre verschiedenen (oder sollte man eher sagen: gleichen?) Neigungen zu akzeptieren und diese gegenseitige Akzeptanz ermöglicht gleichzeitig die Auslebung ihrer Phantasien. Die Akzeptanz ist hier also der Schlüssel zum Erfolg. Das Decameron unterscheidet zwar zwischen göttlicher und weltlicher Ordnung, zwischen Homo- und Heterosexualität, indem es deren verschiedene Grade der Anstößigkeit und Obszönität würdigt, doch fällt es schlussendlich über beide dasselbe Urteil: Gegenseitige Akzeptanz der sexuellen Neigungen, ein Recht auf Auslebung der erotischen Phantasien und die Pflicht, andere wegen ihrer Triebe nicht zu verurteilen, sondern im Gegenteil deren Auslebung zu ermöglichen, kristallisieren sich als Grundtenor heraus. Keineswegs findet also eine Verurteilung der Homosexualität statt. Zwar sorgt diese Geschichte, verglichen mit den anderen, unter den Protagonisten der Rahmenhandlung für weniger Erheiterung, da sie anscheinend einen heiklen Punkt berührt, der die Schamhaftigkeit (S. 497) der jungen Menschen tangiert, doch zeigt der Ausgang der Geschichte sehr deutlich, dass auch homosexuelle Neigungen ebenso ihre Berechtigung haben, wie heterosexuelle. Das Grundprinzip ist und bleibt die Akzeptanz und die fröhliche, unbeschwerte Auslebung der eigenen Phantasien.


[1] Alle in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. Frankfurt a. M. 2008. Übersetzt von Karl Witte.

 


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