Der neue Roman von Jenny Erpenbeck hat die Klappentexterin und mich emotional bewegt aber auch herausgefordert. Kann man das machen? Einen Roman über Flüchtlinge in Berlin schreiben, ihn mit echten Figuren und tatsächlichen Ereignissen anreichern? Wo bleibt da die Fiktion? So sehr wir einstimmig begeistert waren von Alina Bronskys Baba Dunja, so stimmten auch diesmal unsere kritischen Meinungen fast überein. Was bei unserem kleinen Talk rausgekommen ist, lest Ihr hier. #dbp2015
Klappentexterin: Lange ist es her, dass ich bei einem Buch so gemischte Gefühle gehabt habe, wie bei Jenny Erpenbecks Roman »Gehen, ging, gegangen«. Schon allein das Wort „Roman“ zu tippen, bereitet mir große Schwierigkeiten. Ist es doch ein Mix aus Fiktion und Realität, weder Fisch noch Fleisch. Ich habe das Buch zu Ende gelesen – und das ist ja kein allzu schlechtes Zeichen, dennoch blieb ein seltsamer Nachgeschmack zurück. Wie ist es dir ergangen?
Masuko: Ja, man bleibt dran an der Geschichte. Klar, dass ich es auch bis zum Ende gelesen habe. Doch war es mir gerade im letzten Drittel zu faktenlastig. Bei den vielen Amtsvorgängen, die Jenny Erpenbeck beschreibt, ging die Fiktion irgendwie verloren.
Klappentexterin: »Gehen, ging, gegangen« ist ein Buch, das sich gut wegliest, klammert man die gedanklichen Abzweigungen des Protagonisten aus. Eine Figur, die mir von Anfang Unbehagen bereitet. Mir fehlte Herzenswärme und eine Nähe zur Person. Aber vielleicht wollte die Autorin auf diese Weise den dokumentarischen Charakter beibehalten?
Masuko: Stimmt, Richard bleibt seltsam farblos. Ich hatte einfach kein Bild im Kopf, wie der Mann aussehen könnte. Wäre es besser gewesen, wenn Jenny Erpenbeck eine Professorin gewählt hätte? Möglicherweise hätte sie sich in eine weibliche Hauptfigur stärker hineinfühlen können. Aber vielleicht wollte sie genau diese Distanz, um eine sachlich-nüchterne Atmosphäre zu schaffen.
Ich habe die Autorin übrigens auf einer Lesung mit so viel Herzenswärme im Umgang mit ein paar jungen Männern aus Afrika erlebt, dass ich denke, mit einer weiblichen Hauptfigur hätte das Buch einen anderen Charakter bekommen. Zwei der Männer stellte sie uns dort als die Protagonisten ihres Romans vor. So sehr mich das berührte, so sehr war da wieder der Gedanke, dass es eben keine rein fiktive Geschichte ist.
Klappentexterin: Ja, zum Glück bleibt das Buch nicht die ganze Zeit kalt. Ergriffen bin ich bei den Passagen, in denen die Flüchtlinge von ihren Schicksalen berichten und von ihrem jetzigen Leben in Deutschland. Dieses Warten, dieses Wollen und nicht Dürfen. Und dann frisst sich noch die Ungewissheit in die verletzten Seelen dieser Menschen. Was wird passieren? Werden sie jemals irgendwo ankommen und ein neues Leben beginnen können?
Dazu gibt’s eine schöne Stelle, die ich gern zitieren möchte: Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen (293). Das sind Momente des Lesens, in denen ich still werde und nachdenklich aus dem Fenster schaue.
Masuko: Ja, klar, da stimme ich dir unbedingt zu! Diese Untätigkeit, zu der sie verdammt sind. Es ist sicher schwer zu ertragen, jung zu sein, arbeiten zu wollen, doch die Tage nutzlos vergehen lassen zu müssen. Nichts passiert. Und der gestrige Tag war so, der morgige wird es wieder sein. Dass Erpenbeck das Thema Depression in den Roman mit reingenommen hat, fand ich besonders interessant.
Klappentexterin: Das Buch erscheint zur richtigen Zeit. Es leistet einen wichtigen Beitrag in der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Im Hinblick auf die zahlreichen Übergriffe kam mir der Gedanke, dass ich dieses Buch den Menschen, die Flüchtlingsheime in Brand setzen, in die Hand drücken möchte. Aber diese Menschen lesen wohl kaum derartige Bücher. Vielleicht könnte man das Buch als Pflichtlektüre in in der Schule einführen. Was meinst du?
Masuko: Als Pflichtlektüre in der Schule? Eine super Idee. Nicht nur, weil es so informativ ist, sondern weil beim Lesen viele Fragen auftauchen. Sicher würden sich spannende Diskussionen ergeben. Schüler mit Migrationshintergrund könnten von eigenen Erfahrungen berichten. Beide Seiten könnten sich viel besser verstehen. Vorurteile würden möglicherweise erst gar nicht aufkommen.
Klappentexterin: Was das Buch trotz aller Kritik für mich auszeichnet, sind die vielen Hintergrundinformationen zur Flüchtlingspolitik. Wobei die Gesetzgebung sich wie ein Irrgarten erstreckt und alles andere als menschenwürdig ist. Ich erinnere mich da beispielsweise an die Stelle auf Seite 258, als die Flüchtlinge zu Beginn des neuen Jahres ihr Heim in Spandau verlassen und in ein anderes in der Republik übersiedeln sollen. Plötzlich bezieht die Polizei vor dem Gebäude Stellung und behandelt die Flüchtlinge wie Schwerverbrecher. Mit zwanzig Mannschaftswagen stehen sie da. Und die Polizisten tragen Kampfanzüge. Das ist doch totaler Wahnsinn! So was denken sich Menschen aus?
Masuko: An diese Stelle erinnere ich mich nicht so gut. Aber skurrile Dinge geschehen im Zusammenhang mit den Flüchtlingen ja einige in diesem Buch. Da wünscht man sich manchmal, Jenny Erpenbeck hätte sich das ausgedacht. Hat sie aber ganz sicher nicht.
Klappentexterin: Ist »Gehen, ging, gegangen« ein Buch für die Shortlist? Inhaltlich gesehen schon, weil es, wie gesagt, einen wichtigen Gesellschaftsbeitrag leistet und den Blick in die Flüchtlingspolitik öffnet. Nur gehört zum besten deutschsprachigen Buch weit mehr dazu als nur derInhalt. Die Sprache beispielsweise ist ein ganz wichtiges Kriterium. Die konnte mich nicht in Gänze überzeugen. Vergeblich habe ich nach dem typischen poetischen Ton gesucht, für den die Autorin bekannt ist. Oder habe ich ihn in aller Aufregung über die Flüchtlinge überlesen? Sicherlich tauchen stille poetische Augenblicke auf, wenn Jenny Erpenbeck das Gesetz in ein Wesen verwandelt, das sein Maul aufreißt und zu Abend isst (228). Doch davon gab es mir schlichtweg zu wenig. Hinzu kommt, dass das Buch stark anfängt und ab der Mitte immer mehr an Kraft verliert, als würde dem Segelboot der Wind ausgehen.Ein gutes Buch hält kontinuierlich einen Spannungsbogen. Nur, warum habe ich das Buch zu Ende gelesen? Um mit dir darüber zu reden. Aber auch, weil es darin etwas gab, das mich bis zur letzten Seiten festhielt. Dieses Etwas sind Menschen, deren Schicksal mich zutiefst bewegt hat. Daher wäre es viel besser gewesen, dieses Buch als Sachbuch aufzubereiten und statt des emeritierten Professors einzig eine Autorin zu haben, die aus ihrer Sicht all dies erzählt.
Masuko: Ich erinnere mich gerade an “Landgericht” von Ursula Krechel. Auch dieses Buch war eher ein fiktiver Bericht bzw. ein faktenreicher Roman. Und dennoch hat es 2012 den Deutschen Buchpreis gewonnen. Oder denk mal an Kathrin Schmidt mit “Du stirbst nicht” (Deutscher Buchpreis 2009). Lassen wir uns jetzt einfach überraschen, wer von den sechs Favoriten der Shortlist das Rennen macht. Ich denke, es ist gut und wichtig, wenn dieses Buch viele Leser findet.
Weißt du eigentlich, wer das Cover entworfen hat? Einer der jungen Männer aus Afrika. Er hat an dem Abend auf der Lesung auch ein paar Tuareg-Lieder gesungen: Saleh Bacha. Wenn du den Schutzumschlag entfernst, wiederholt das Motiv sich weiß auf schwarz auf dem Buchdeckel. Ich mag das Cover sehr. Es ist unergründlich und geheimnisvoll. Was ist das? Ein Kreis von Menschen aus der Vogelperspektive? Einfach ein Flicken auf einer Jeans? Ein Traumfänger?
Jenny Erpenbeck. Gehen, ging, gegangen. Albrecht Knaus Verlag. München 2015. 348 Seiten. 19,99 €