Blockupy – “Über die Gewalt”

Von Hartstein

In der medialen Resonanz auf die Frankfurter Blockupy-Demonstration vom 18. März überwiegen Begriffe wie „Krawall“, „bürgerkriegsähnliche Zustände“, „randalierender Mob“. Die präsentierten Bilder zeigen vermummte Demonstranten, brennende Polizeiwagen, Rauchschwaden, zerbrochenes Glas. Das eigentliche Anliegen der Organisatoren und der Masse der Demonstranten verschwindet hinter der Verdammung der von kleinen Gruppen praktizierten Gewalt. Götz Eisenberg nimmt die Ereignisse zum Anlass, über die Rolle der Gewalt im Kampf für eine freiere und gewaltlosere Gesellschaft nachzudenken.

„Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und mit einem Knebel im Munde.“
(Georg Büchner)

Der Frankfurter Wachensturm

Diese Sätze stammen aus einem Brief von Georg Büchner, den der damals 19-jährige Student am 5. April 1833 von Straßburg aus an seine Eltern in Darmstadt geschrieben hat. Er bezieht sich auf den „Frankfurter Wachensturm“ vom 3. April 1833, bei dem circa 100 republikanische Bürger und Studenten den Versuch unternommen hatten, die Haupt- und Konstablerwache der Frankfurter Polizei zu besetzen und die dort festgehaltenen politischen Gefangenen zu befreien. Danach wollte man das Bundestagsgebäude stürmen, die Bundestagsgesandten verhaften, sich der Kasse bemächtigen und die Republik ausrufen. Beim Herannahen des Militärs mussten die Aufständischen nach kurzem Feuergefecht die Flucht ergreifen; die schlecht organisierte Revolte schlug fehl. Zahlreiche Verhaftungen waren die Folge. Metternich lieferte der „Frankfurter Wachensturm“ einen willkommenen Anlass, um noch härtere Unterdrückungsmaßnahmen gegen Demokraten und Republikaner durchzusetzen.

Das Thema Gewalt überlagert alles andere

Ähnliche Sätze wie die des jungen Georg Büchner könnten in Briefen oder E-Mails stehen, die 182 Jahre später Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Frankfurter Blockupy-Aktionen an ihre Eltern und Freunde schreiben. Die mediale Berichterstattung wird bestimmt von der Gewalt, die von Teilen der Demonstranten gegen die Polizei angewandt wurde, die ihrerseits in Armeestärke aufgeboten worden war, um die Demonstranten vom neuen Turmbau der Europäische Zentralbank fernzuhalten, der an diesem Tag eingeweiht wurde. Von den eigentlichen Anliegen der Blockupy-Aktion: eine möglichst breite Öffentlichkeit über die Folgen der von der EZB betriebenen neoliberalen Verelendungspolitik aufzuklären, ist gar nicht oder höchstens noch am Rande die Rede.

Ich bin dieser Tage Leuten begegnet, die schäumten vor Wut – auf die Demonstranten: „Wie kann man bloß Brandsätze und Steine auf Polizisten und Feuerwehrleute werfen? Da muss hart durchgegriffen und kurzer Prozess gemacht werden.“ Wir wissen aus historischen Erfahrungen, dass, wer kurzen Prozess machen will, bald gar keinen mehr macht. Die überschießende und von der Mehrheit abgespaltene Gewalt von kleinen Teilen der Demonstranten hat dem Anliegen der Blockupy-Bewegung einen Bärendienst erwiesen und dazu beigetragen, große Teile der Bevölkerung gegen die Bewegung zu mobilisieren und damit auch gegen die von ihr vorgetragene Kritik zu immunisieren.

Die stumme Gewalt der Verhältnisse

All jenen, die nun von „Mob“, „Krawall“ und „Randale“ reden und die Frankfurter Ereignisse darauf reduzieren, muss man entgegenhalten: Es existiert eine Gewalt, die der in Frankfurt – im Wortsinne – aufgeflammten und medial gezeigten, vorausgeht und die, wenn auch mit fragwürdigen Mitteln, auf sie antwortet.

Zur primären Gewalt gehören:

  • die Lage der Jugend in den südlichen Krisenländern, die großenteils keine Arbeit und Perspektiven hat und die um Lebens- und Glücksmöglichkeiten betrogen wird,
  • die gestiegene Selbstmordrate,
  • das Leiden der Menschen, die ihre Arbeit verlieren, deren Wohnungen zwangsversteigert und enteignet werden,
  • die Zunahme der Säuglingssterblichkeit,
  • die Menschen, die nicht an ihren Krankheiten sterben, sondern daran, dass sie nicht angemessen medizinisch versorgt werden,
  • die erzwungenen Einsparungen im Bereich von Bildung und Ausbildung sowie im öffentlichen Sektor insgesamt,
  • die Verzweiflung, das Elend, der Würdeverlust und die Hoffnungslosigkeit derer, die gezwungen sind, im Müll nach Lebensmitteln zu suchen und Suppenküchen aufzusuchen

Diese Liste könnte man endlos fortsetzen. Nur wer diese Leiden in sein Kalkül und seine Empathie mit einbezieht und die praktizierte Gewalt als Gegengewalt anerkennt, ist berechtigt, sie moralisch zu kritisieren. Wer von der stummen Verhältnisgewalt und dem Terror der herrschenden Austeritätspolitik nicht reden will, sollte auch über die Gewalt der Demonstranten das Maul halten. Die jungen Menschen aus den von der Krise gebeutelten und unter den Spardiktaten der Troika leidenden südlichen Ländern müssen sich in Deutschland wie in Feindesland fühlen und Frankfurt mit seinen Banktürmen – den Erektionen des Finanzkapitals – ist für diese Verzweifelten die Kapitale, von der ihre Not und Ausweglosigkeit ausgeht. Kann man diese ihre Wahrnehmung so ohne weiteres Nachdenken als falsch oder gar paranoid abtun? Ist ihre Wut, wenn man sich in ihre Lebenssituation hineinzusetzen versucht, nicht nachvollziehbar?

Als Gewalt gilt nach landläufigem Verständnis nur das, was der Staat als Gewalt definiert. Hat der Staat sich einmal das Monopol auf die körperliche Gewalt angeeignet, neigt er dazu, jede Tat als Gewalt zu denunzieren, die er nicht selbst ausübt. Weil der Staat sich selbst als Sitz und Inbegriff von Kultur begreift, möchte er eigentlich sogar untersagen, sein eigenes Handeln als Gewalt zu kennzeichnen. Die zentralisierte Gewalt will keine mehr sein. Der Staat untersagt, wie es bei Sigmund Freud heißt, dem einzelnen den Gebrauch der Gewalt, „nicht weil er sie abschaffen, sondern weil er sie monopolisieren will wie Salz und Tabak“.

Nun ist es natürlich so, dass jede aufmüpfige und militante Opposition sich einer zunehmenden Unterdrückung aussetzt. Das ist kein Grund zum Verzicht auf Widerstand und Opposition, sonst hätte es nie einen geschichtlichen Fortschritt gegeben. Aber der militante Widerstand muss der regulativen Idee der „Befreiung“ von struktureller Gewalt verpflichtet sein und bedarf der Rückendeckung durch größere Teile der Bevölkerung, die sich in diesem Widerstand wiedererkennen und die die Aktivisten in diesem Widerstand schützen und stützen. Bis das hierzulande so sein wird, werden die Tausende, die in Frankfurt friedlich demonstriert haben, noch viel mühsame Aufklärungsarbeit zu verrichten haben.”

Quelle: http://www.nachdenkseiten.de/?p=25509