Blind mit den Nachtzug von Sevilla nach Lissabon

Von Lilastcloud

“Der Blinde von Sevilla” von Robert Wilson

Javier Falcón ist einer dieser inflationären Kommissare, die durch die deutsche Buchlandschaft ermitteln. Die Morde sind grausam, die Verdächtigen nebulös, die Zusammenhänge verwickelt – wie wir es schon tausend Mal gelesen haben. Doch etwas ist anders: Die Worte, die Art zu erzählen und die unmittelbare Nahbarkeit zur Persönlichkeit des Kommissars, der nicht aufgesetzt oder gewollt kauzig ist, sondern tiefgründige Charakterschwächen erkennen lässt. Die Mordfälle haben eine persönliche Ebene, die uns erklärt, warum wir Falcón ausgerechnet jetzt kennen lernen. Und wir lesen weiter, nicht weil wir wissen wollen, wer der Mörder ist, sondern weil wir wissen wollen, wie sich die Persönlichkeit des Kommissars mit jeder neuen Erkenntnis entwickelt.

Fazit

Robert Wilson liefert einen großartigen Krimiroman, der nicht nur Sevilla, den Stierkampf und die Prozessionen der Semana Santa in ein besonderes Licht rückt, sondern auch die Psychologie eines menschlichen Kommissars. Vielleicht sind es 100 Seiten zu viel, aber wenigstens sind diese 100 Seiten schön geschrieben.

Zitate

“Ich wollte nicht, dass Sie mein Leben in die Polizeimaschine werfen, die es auf ein paar DIN A4 Blättern einfängt, auf denen kein Platz für Nuancen und Ambivalenzen ist, die kein Grau, sondern nur Schwarz oder Weiß sehen können und eigentlich nur Augen für das Schwarze haben.”

“Perfekt ist das Leben nur auf Papier, und selbst dort gibt es Zwischenräume zwischen den Wörtern und Zeilen, die selten so leer sind, wie sie scheinen.”

“Es ist immer leichter, zu reagieren, als orginell zu sein. Das gilt sowohl im Leben als auch in der Kunst.”

“Und als er begriff, dass er sie wiedergefunden hatte – Sevillas Antwort auf Leid und Not: la fiesta -, tanzte er seine Probleme aus dem Kopf durch den Körper in die Füße und stampfte sie in den Boden.”

“Nachtzug nach Lissabon” von Pascal Mercier

An einem ganz gewöhnlichen Morgen begegnet Raimund Gregorius auf einer Brücke einer Portogiesin. Kurze Zeit später geht er mitten im Unterricht aus seiner Klasse und macht sich im Nachtzug auf den Weg nach Lissabon. Auf seiner Reise begleitet ihn eine Art Tagebuch, dessen Verfasser er näher kennen lernen will. Gregorius macht sich auf die Suche nach den Angehörigen des Verfassers und begegnet den essentiellen Fragen des Lebens: Welche Spuren hinterlassen Eltern in ihren Kindern? Was macht die Einsamkeit aus? Und wie sehen uns unsere Mitmenschen?

Fazit

Mercier versteht es Charakterzüge zu beschreiben wie kein anderer. Manchmal mögen die Sätze dadurch etwas lang werden – weshalb dieses Buch nicht einfach nebenbei, sondern nur mit Konzentration gelesen werden kann -, aber die Gedanken zwischen den Zeilen regen zum sinnhaften Nachdenken an.

Zitate

“Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?”

“Mundus eben, ein Mann mit einem unmöglich altmodischen, geradezu altertümlichen Vornamen, den man einfach abkürzen mußte und nicht anders als so abkürzen konnte, eine Abkürzung, die überdies das Wesen dieses Mannes ans Licht hob, wie kein anderes Wort es gekonnt hätte, denn was er als Philologe in sich herumtrug, war in der Tat nichts weniger als eine ganze Welt, oder vielmehr mehrere ganze Welten, da er neben jeder lateinischen und griechischen Textstelle auch jede hebräische im Kopf hatte, womit er schon manchen Lehrstuhlinhaber für das Alte Testament in Erstaunen versetzt hatte.”