Erstens kommt es anders und zweitens fast genauso, wie man denkt. Schichtbetrieb ist 2010 normal, dachten sie 1988, dem Jahr, als Menschen noch glaubten, die Zukunft bestehe aus elektronischen Haushälterinnen, Robotern, die das Frühstück aus dem Kühlschrank holen und Hubschraubern, die Umzüge erledigen. Vor 22 Jahren ließ die Bild-Zeitung, ein anerkanntes Medium der Zukunftsvorhersage, das laufende Jahr schon mal vorab Revue passieren: Mit Computern in Armlehnen, Wunschmusik aus der Kassette, einem "Mikro-Ofen" und Tomatenstauden auf der Dachterasse. Etwa die Hälfte der enthaltenen Vorhersagen ist in etwa eingetroffen, die andere Hälfte klingt immer noch nach Zukunftsmusik. Ist die Gegenwart also enttäuschend, gemessen an den Erwartungen der Vergangenheit? Oder ist halb so gut am Ende sogar besser als gedacht?
Gemessen an den Vorgaben, die eine Zukunftsprognose der Frankfurter Rundschau 20 Jahre zuvor gemacht hatte, halten sich Trauer, Wut und Scham die Waage. Damals, 1968, prognostizierte das Blatt trotz Vietnam- und Kaltem Krieg, die Welt im Jahre 2000 werde schöner, das Leben bequemer als heute sein. Eingeführt sei dann die "Viertagewoche", nur eben "mit Schichtarbeit", die Beziehung zwischen den Geschlechtern werde freier sein als heute, "Buben und Mädchen" reiften aber auch geistig früher und sie seien vom Beginn der Pubertät an aufgeklärt.
Die Kehrseite der Medaille: Arbeitszeitverkürzung bringe "Wochenendneurosen, Unzufriedenheit, Streit, Lebensüberdruß und gähnende Langeweile" mit sich, zumindest für die Menschen, die es nicht verstünden, sich Hobbys zu schaffen. Eine könne etwa das Reparieren von Dingen sein, weil es künftig "fast unmöglich sein wird, einen Handwerker zu überreden, daß er den tropfenden Wasserhahn, die defekte Lichtleiturig repariert". Alles muss man selbst machen in dieser Zukunft aus der hessischen Denkfabrik: "Der Familienvorstand lernt in Abend- und Wochenendkursen, perfekt Wände zu verputzen, Einbaumöbel zu montieren, Leitungen zu legen. Und seine Frau wird nur dann ehemündig sein, wenn sie es vollendet versteht, Kleider zu nähen und einen Garten zu pflegen."
So geschieht es, wenn man die Gegenwart ohne Brechung in die Zukunft verlängert. "Vielstöckige Bastelhäuser und Mußeklubs in allen Stadtteilen", sieht der Prognostiker der "FR" vor 40 Jahren. Diese Clubs würden "die Menschen zusammenfügen zu einer Gemeinschaft aus "anonymer Kollektivität": "Man lernt einander kennen, bleibt aber ohne plumpe Anbiederung in respektvollem Abstand."
Klingt nach Internet, das aber ist noch nicht einmal eine Vision. Nur die eigenen Gärten sind ein Sehnsuchtstraum wie später auch in der "Bild": "Selbst die Hochhäuser bieten in jeder Etage jedem Mieter die Möglichkeit, seine Radieschen und Tomaten selbst zu züchten". Und wer glücklicher Besitzer eines Einfamilienhauses sei, der werde "im atomgeheizten Treibhauskasten" seltene tropische Blumen züchten.
Manches stimmt aber auch. "In jeder Familie wird es mindestens zwei Autos geben, eines'für den Hausherrn, eines für die Hausfrau", denkt der FR-Visionär ohne Tabu. Madame werde dann "einmal in der Woche in den Supermarkt der Zukunt fahren, ihren Wagen auf einem riesigen Parkplatz abstellen, wo er während ihres Einkaufs einem blitzschnellen Pflegedienst unterzogen wird". Auch den Weg von ihrem Auto bis zum Supermarkt müsse sie nicht mehr zu Fuß überwinden. "Sie läßt sich von einem der zahlreichen gegen Wettereinfluß geschützten laufenden Gehsteige zum Eingang bringen." Auf dem Weg dorthin liest sie von verschiedenen Tafeln die Sonderangebote ab - ein Traum vor 40 Jahren, der wahr geworden ist, ohne dass dieser Umstand je gewürdigt worden wäre. "Sind ihre Kinder dabei, so fährt sie diese in den gläsernen Kindergarten, der in der Mitte des zylindrisch geformten Supermarktgebäudes so eingerichtet ist, daß sie ihre Kleinen während des Rundgangs jederzeit beobachten kann."
Es wird dann ein bisschen Science Fiction. Die Kundin erhält "ein Markierungswerkzeug, das mit einer Codenummer versehen ist". Dieses Werkzeug, nicht viel größer als heute ein Flaschenöffner, begleitet sie durch den ganzen Laden. Sieht die Einkäuferin etwas, das sie haben möchte, wählt sie ihre Packungen, Dosen, Tüten, Tiefkühlgerichte und markiert sie mit Hilfe ihres Codewerkzeugs.
Niemand hier, in der ausgedachten Zukunft trägt seine Waren mit sich herum oder schiebt sie in einem Wagen vor sich her, auch nicht in einem atomgetriebenen. Was gekauft wurde, wartet an der Kasse, die eine "vollautomatische Kassenstation" ist. Der Kunde, der aus dem Jahr 1968 gesehen natürlich eine Kundin ist, steckt seinen Codeschlüssel in ein bestimmtes Schloß, und im Nu erscheinen alle von ihr ausgewählten Waren vor ihr ausgebreitet. Klingt nach elektrischer real-Kasse.
Im Unterschied zu dieser aber "rechnet der Roboter nun in Sekunden aus, was zu bezahlen ist". Der Wocheneinkauf für eine mehrköpfige Familie dauert so nicht viel mehr als zehn Minuten, man hat dadurch viel mehr Zeit für Wochenendneurosen, Unzufriedenheit, Streit, Lebensüberdruß und gähnende Langeweile", denn auch daheim ist die Zukunft ein pflegeleichter Ort. "Dort legt die Hausfrau die Tiefkühlkost (sehr häufig sind es ganze Mahlzeiten) in die Tiefkühltruhe, wo sie sich, wenn es nötig ist, jahrelang hält." Foodwatch war seinerzeit noch nicht einmal denkbar, immerhin aber "Farmen im Weltraum, in denen Astronauten in üppigen Gärten kosmische Früchte ernten, die auf der Erde nie gedeihen würden". Die Fleischversorgung wird sowieso gesichert sein, "weil unsere Tiere ungleich schneller wachsen werden als heute. Zucker wird aus Holz oder Kohle hergestellt, Brot aus Algen gebacken."
Lecker sogar für Leute, dien nicht mehr raus wollen in diese schöne neue Welt. Die "kaufen über den Fernsehapparat ein", prognostiziert der FR-Experte zielsicher. In jeder Wohnung werde es "eine Reihe von Fernsehgeräten" geben. Die Hausfrau brauche nur das Telefon zur Hand zu nehmen, ein bestimmtes Kaufhaus anzurufen, ihr Fernsehgerät auf einen bestimmten Kanal einzustellen, und schon erscheint auf dem Bildschirm ein freundlicher Verkäufer, der nach ihren Wünschen fragt, vor ihren Augen das eine oder andere anbietet, aus dem sie wählt". Weit, weit daneben, weil die Entwicklung der Deutschen Post dem Erwartungsdruck einfach nicht standgehalten hat: Schon nach wenigen Minuten sei die gewählte Ware im Hause.