Zum Opfer wird man nicht gemacht, die Opferrolle ist vielmehr das Ergebnis eigener Entscheidung. Was auch immer passieren mag – niemand kann uns zwingen, uns wie ein Opfer zu verhalten. Es ist sehr viel effektiver, wenn wir uns auf unsere Möglichkeiten konzentrieren statt auf unser Unglück. Ein Plädoyer für mehr Souveränität.
Die Pariser machen es uns gerade vor: Sie selbst, ihre Stadt, ihr Lebensstil wurden Opfer eines unfassbar bösartigen Vernichtungswahns. Menschen verloren ihr Leben, wurden verletzt, traumatisiert, verstört. Und dennoch: Paris nimmt die Opferrolle nicht an.
Die Toten werden betrauert, Angst und Entsetzen nicht verleugnet, aber die Pariser verweigern die Opferrolle, sie lassen sich nicht einschüchtern. Sie geben dem Bangen um ihre Sicherheit nicht nach, sie verlassen ihre Häuser, besuchen weiter ihre Cafés und lesen Hemingway mit trotziger Begeisterung.
„A moveable feast“ ist mittlerweile vielerorts ausverkauft. Das Buch feiert die Stadt, zeichnet sie als ein Fest fürs Leben. Die Anschläge, die die Menschen verunsichern sollten, führen auf diese Weise dazu, dass die Pariser ihre Identität stärken. Chapeau!
Was im Großen funktioniert, sollte erst recht im Kleinen machbar sein. Wenn die Pariser, frei von Selbstmitleid, dem Terror mit solcher Stärke entgegentreten, dann müsste es doch jedem von uns möglich sein, auch all die vergleichsweise banalen Alltagsprobleme souverän zu handhaben.
Warum schaffen wir das so oft nicht? Warum gibt es all die Klagen? Warum betrachten sich so viele Menschen geradezu gewohnheitsmäßig als Opfer? Warum sind sie so schnell davon überzeugt, es unnötig schwer zu haben, warum leiden sie so sehr unter den täglichen Unannehmlichkeiten? Grundsätzlich scheint ihnen kein Anlass zu unbedeutend zu sein, um als Ärgernis zu gelten, das auf die Stimmung drückt.
Vom schlechten Wetter bis zum unsensiblen Chef – alles hält als Grund zum Jammern her. Einer Studie der Unternehmensberatung Pro Change zufolge beschäftigt sich der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer allwöchentlich vier Stunden damit, über seine Arbeitssituation zu klagen. Das ist nicht nur unwürdig, sondern auch in jeder Hinsicht ineffektiv.
Die Folgen der Opferrolle
Wer sich selbst als Opfer betrachtet, tut sich damit nichts Gutes. Denn er schafft und zementiert auf diese Weise sein eigenes Unglück. Die Opferhaltung ist niemals logisch zwingend, sondern eine gewählte Lebenseinstellung. Auch wer faktisch zum Opfer gemacht wird, muss nicht zwangsläufig wie ein Opfer empfinden und handeln.
Wir können immer entscheiden, wie wir mit den Dingen umgehen wollen. Vielen Opfern ist das nicht bewusst, oder aber sie wollen nichts davon wissen. Stattdessen tun sie so, als hätten sie keine Wahl:
• Sie machen andere für ihre Situation verantwortlich und fühlen sich ausgeliefert.
• Opfer meinen, hilflos zu sein und verhalten sich deswegen passiv. Sie warten auf Rettung von außen.
• Sollten sie einmal selbst einen Versuch zu ihrer Rettung unternehmen, geschieht das meist halbherzig, weshalb das Unterfangen häufig fehlschlägt. Das wiederum wird als sichtbarer Beweis für die Aussichtslosigkeit der eigenen Situation gewertet. Auf diese Weise fühlen sich die Opfer in ihrer Hilflosigkeit bestätigt.
• Opfer kultivieren eine Vielzahl negativer Gefühle: Wut auf den vermeintlichen Verursacher der leidvollen Situation, Selbstmitleid, Frustration, Angst, Mutlosigkeit, Bitterkeit u. a. – bis hin zur Depression. Opfer begegnen ihrer Situation für gewöhnlich mit tödlichem Ernst.
• In Gedanken beschäftigen Sie sich häufig mit ihrem eigenen Unglück, kreisen mental um die unbefriedigende Situation, steigern sich in ihr Elend hinein. Diese Negativspirale bewirkt, dass Opfer in ihrer Situation gefangen bleiben. Der Tunnelblick erlaubt nur die Sicht auf das wahrgenommene Problem, nicht aber auf die Möglichkeiten zur Rettung.
Wer hat schon Lust auf all das? Jammern ist jämmerlich und gewiss nicht geeignet, eine unbefriedigende Situation zu beenden. Und dennoch: Unzählige Menschen entscheiden sich Tag für Tag bewusst und unbewusst dafür, als Opfer durchs Leben zu gehen.
Sie wählen die Passivität statt ihr Schicksal entschlossen in die Hand zu nehmen und alles dafür zu tun, die Dinge selbst zu bestimmen statt sich bestimmen zu lassen. Sie konzentrieren sich auf ihr Problem, statt nach der Lösung zu suchen.
Sie wollen lieber hilflos sein als sich der Mühsal verantwortungsvollen Handelns zu unterziehen. Sie reden sich ein, nichts ausrichten zu können und bleiben bei ihrem Elend, weil sie ahnen, wie anstrengend und riskant es sein könnte, etwas daran zu ändern.
Die Alternative: Souveränität
Wir wären alle weitaus besser dran, wenn wir einen anderen Fokus wählen würden: Nicht das Problem sollte im Vordergrund stehen, sondern das Ziel. Wer sich von den Ereignissen nicht gefangen nehmen lässt, sondern weiterhin eigene Entscheidungen treffen kann, beweist damit Souveränität.
Er steht über den Dingen statt sich von ihnen bestimmen zu lassen. Souveränität bedeutet, die innere Freiheit zu bewahren, sich nicht abhängig machen zu lassen, selbst Impulse zu setzen statt lediglich auf die Impulse aus der Umgebung zu reagieren. Es gibt eine einfache Formel für diese großartige Leistung: Souveränität = Wahlfreiheit
Alles hängt davon ab, möglichst viele Handlungsalternativen zu erkennen. Wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann unmöglich souverän agieren. Für ihn gibt es keine Wahlmöglichkeit. Es gilt also, sich viele Wege frei zu halten, sich angesichts der Schwierigkeiten die eigene Wahlfreiheit bewusst zu machen.
Das ist das Beste, was wir angesichts eines Problems tun können: Die unterschiedlichen Handlungsalternativen zu sammeln, je mehr, desto besser. Mit jeder Handlungsmöglichkeit, die uns einfällt, erweitert sich der eigene Freiheitsraum. Jede Idee vergrößert den Spielraum und erhöht die Wahrscheinlichkeit auf die Lösung des Problems.
Was auch immer passiert – wir werden am besten damit fertig, wenn uns unsere Handlungsmöglichkeiten klar vor Augen stehen. Auch die Opferrolle ist eine Reaktionsmöglichkeit, und zwar die denkbar schlechteste. Sie sollte deshalb von vornherein keine Option darstellen.
Wer sich seiner Wahlmöglichkeiten bewusst ist, wird damit zum Regisseur des Geschehens. Denn nun kann er sich zwischen seinen Alternativen entscheiden. Wer aber Entscheidungen trifft, ist niemals hilflos.
Er bestimmt das Geschehen, nimmt Einfluss auf die Dinge und steuert sie. Statt sich ausgeliefert zu fühlen, kann er nun die Geschehnisse im Sinne seiner eigenen Interessen lenken. Auf diese Weise ist er effektiver als ein Opfer es je sein könnte. Ans Ziel kommt nur der Souveräne, niemals das Opfer.
Souveräne Menschen agieren völlig anders als Opfer. Sie klagen nicht, sie behalten ihr Ziel im Blick, sie suchen nach Wegen und Möglichkeiten, sie wagen Experimente, sie lernen aus ihren Erfahrungen und geben einfach nicht auf.
Sie sind davon überzeugt, dass es eine Lösung geben muss und sie suchen hartnäckig danach. Auf diese Weise entwickeln sie eine bemerkenswerte Lebenstüchtigkeit und werden immer effektiver. Sie kommen weiter als andere, sie erreichen mehr.
Was wir brauchen
Es sind zwei Dinge nötig, um souverän agieren zu können. Wenn wir die Situation bestimmen wollen, statt ihr ausgeliefert zu sein, müssen wir
1. eine Entscheidung treffen
2. über das nötige Wissen verfügen
Souveränität passiert uns nicht einfach, sie erfordert eine Entscheidung. Es ist eine Entscheidung gegen die Hilflosigkeit, gegen die Opferrolle. Das bedeutet, dass wir lernen müssen, die eigenen Gedanken zu lenken, uns zu disziplinieren, Gefühlen wie Wut oder Angst nicht blindlings nachzugeben.
Souveränität braucht Entschlossenheit und ist mit dem festen Willen verknüpft, nicht zum Opfer zu werden, sondern den Gang der Dinge nach eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Souveränität wird uns selten über Nacht zuteil, wir müssen sie uns erarbeiten. Denn groß ist die Versuchung, immer wieder in die Opferrolle zu fallen.
Darüber hinaus benötigen wir oftmals bestimmte Kenntnisse, um effektiv agieren zu können. Wir brauchen ein Verständnis der jeweiligen Zusammenhänge, damit wir geschickt und effektiv vorgehen können. Denn es kommt ja darauf an, möglichst viele Handlungsalternativen zu entwickeln.
Dazu gehört oft ein tieferes Verständnis der Dinge. Manchmal sind sogar Spezialkenntnisse erforderlich. Beispielsweise gibt es in Frankreich Menschen, die sehr genau wissen, wie man Terroristen aufspürt und unschädlich macht. Das Land ist wehrhaft und kann mittels seiner Spezialkräfte rasch und wirkungsvoll auf Anschläge reagieren. Aber auch banale und ganz alltägliche Probleme erfordern oft ein entsprechendes Wissen, damit wir effektiv mit einer bestimmten Situation umgehen können.
Tatsächlich war es aber noch nie so einfach wie heute, sich schlau zu machen. Was uns an Kenntnissen fehlt, können wir uns beschaffen. Wer beispielsweise nach Wegen sucht, mit einem psychopathischen Chef klarzukommen, findet die nötigen Informationen über Psychopathie im Internet, in der Fachliteratur oder er engagiert einen Berater, der sich damit auskennt.
Während die Entscheidung für mehr Souveränität und weniger Opferverhalten Sache des Einzelnen ist und vollständig in seinen persönlichen Verantwortungsbereich fällt, können wir also bei der Suche nach Lösungen auf kollektive Ressourcen zurückgreifen.
Aufgrund des überall verfügbaren Know-hows waren unsere Handlungsspielräume noch nie so groß wie heute. Wir sollten sie unbedingt nutzen.
Beispiel: Wie man sich souverän ärgert
Wer Bescheid weiß, kann klüger handeln. Wir müssen die Zusammenhänge verstehen, um Problemen mit Souveränität zu begegnen. Das gilt nicht nur für Dinge außerhalb der eigenen Person, sondern auch für das, was sich innerhalb der eigenen Person abspielt.
Denn wie sollen wir die Dinge um uns herum erfolgreich beeinflussen, wenn wir nicht mal Herr im eigenen Haus sind? Wer seine Gefühle nicht versteht, sie nicht steuern kann, sondern sich stattdessen von ihnen überwältigen lässt, ist kein guter Anwalt seiner eigenen Interessen. Unfähig zu souveränem Handeln, bleibt er seinen Impulsen ausgeliefert. Ein gutes Beispiel dafür finden wir in einem ganz alltäglichen Gefühl: Wut.
Ärger gehört zur allgemein menschlichen Alltagserfahrung. Der Störfall ist der Normalfall. Mit Hindernissen und Schwierigkeiten darf jederzeit gerechnet werden. Die Welt entspricht eben nicht unseren Idealvorstellungen. Wir alle kennen das Gefühl der Wut als Reaktion auf die Enttäuschung unserer Erwartungen, als Ausdruck von Frustration. Aber wir gehen unterschiedlich damit um:
Opfer pflegen sich ihrer Wut zu überlassen. Sie verlieren deshalb leicht die Kontrolle und erzeugen dann mitunter eine Wirkung, die ihren Interessen zuwiderläuft. Sie schaden zudem ihrer Gesundheit. Denn Ärger schlägt aufs Herz. Bei jedem Wutanfall schüttet der Körper Alarmhormone aus, die die Herzfrequenz und den Blutdruck dramatisch ansteigen lassen.
Aber wie sieht ein souveräner Umgang mit Wut aus? Wie behalten wir einen kühlen Kopf, obwohl die Dinge um uns herum einen unbefriedigenden Verlauf nehmen? Es hilft sicher, wenn wir erst gar keine unrealistischen Erwartungen aufbauen.
Wer auf Probleme gefasst ist, wird nicht unangenehm überrascht und kann gelassener reagieren. Aber natürlich wird auch eine realistische Erwartungshaltung nicht jeden Ärger fernhalten. Wie also können wir uns souverän ärgern?
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen: Alle Gefühle stellen Signale dar. Sie geben Auskunft über unseren momentanen Zustand. Negative Gefühle zeigen auf, was wir brauchen. Sie fordern zu einem bestimmten Handeln auf.
Wer beispielsweise Angst empfindet, muss etwas zur Herstellung seiner Sicherheit unternehmen. Das Gefühl des Ärgers hingegen weist darauf hin, dass gerade etwas passiert, was nicht unseren Bedürfnissen entspricht. Wir müssen also etwas tun, um unseren Bedürfnissen aktiv Geltung zu verschaffen.
Auf diese Weise sind wir unseren Gefühlen niemals ausgeliefert. Wir können sie immer für uns arbeiten lassen. So hilft uns die Wut, uns gegen Übergriffe zu schützen, unseren Interessen Geltung zu verschaffen und unsere Selbstachtung zu wahren.
Wut stellt ein ausgezeichnetes Mittel dar, um sich als Person zu entwickeln und das eigene Leben erfolgreich zu gestalten. Voraussetzung ist allerdings, dass wir unsere Wut immer für uns arbeiten lassen und nicht gegen den anderen richten. Denn das angestrebte Ziel ist nicht der Kampf, sondern die Bedürfnisbefriedigung.
Dabei können wir in drei Schritten vorgehen:
1. Ein Signal ist nur dann nützlich, wenn es wahrgenommen wird. Wir brauchen also die Fähigkeit, Wut und Frustration zu spüren. Es geht nicht darum, sich hineinzusteigern. Das wäre dumm und schädlich, aber es ist dennoch unbedingt erforderlich, dass wir sie fühlen können.
2. Im nächsten Schritt besteht unsere Aufgabe darin, das Signal zu entschlüsseln. Wir müssen genau verstehen, warum wir in einer konkreten Situation wütend werden. Wir brauchen Antworten: Was ist los? Warum reagieren wir so? Welches unserer Interessen ist hier in Gefahr? Welche Grenze wurde überschritten, welches Gefühl verletzt?
3. Der dritte und letzte Schritt betrifft das Handeln: Wir haben nun erkannt, worüber wir uns ärgern und warum. Jetzt wird es spannend: Wie wollen wir darauf reagieren? Sicher ist: Es macht keinen Sinn, sich endlos aufzuregen und sich zu beklagen. Die Situation ist unbefriedigend und muss geändert werden. Hier ist Handlung gefragt. Was im Einzelfall zu tun ist, hängt von den persönlichen Zielen ab, von der eigenen Kreativität, von den jeweiligen Erfahrungen und Vorlieben, sogar von der aktuellen Stimmung. Möglichkeiten sind jedenfalls reichlich gegeben. Immer!
Der intelligente Umgang mit Wut ist ein gutes Beispiel für einen hohen Grad an persönlicher Souveränität. Statt sich dem eigenen Gefühl blindlings auszuliefern, geht es darum, auf der Basis der eigenen Gefühle die Dinge bewusst und gezielt in die gewünschte Richtung zu lenken.
Das ist das hundertprozentige Gegenteil der Opferhaltung. Wir sollten alle ein Leben lang daran arbeiten, in jeder Hinsicht souveräner zu werden. Es lohnt sich. Denn alles ist besser, als ein Opfer zu sein.