Rhetorische Frage: Kann man dies unterschreiben, ohne zu merken, dass die Ausführungen erst mit ihrer Veröffentlichung (am 17. Februar) in Kraft treten würden? - Kann man diesen Text erarbeiten, ohne dies zu wissen?
Im Zuge des Missbrauchsskandals 2010 haben sowohl der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle als auch der Missbrauchsbeauftragte und Personaldezernent des Bistums, Heinz-Günter Bongartz (zwischenzeitlich zum Weihbischof ernannt) die Öffentlichkeit belogen – offensichtlich in der Absicht, ihre eigene Untätigkeit zu vertuschen.
von Matthias Krause
Den Vorwurf der Lüge erhebe ich nicht leichtfertig (ich bemühe mich immer, meine Artikel „gerichtsfest” zu formulieren) – aber für den hier dargelegten Sachverhalt kenne ich keine treffendere Bezeichnung.
Deshalb hier die Details, mit dem Ziel, damit nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Justiziarin des Bistums Hildesheim von der Angemessenheit der Überschrift zu überzeugen
Die Behauptung
Kurz nach dem Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg Ende Januar 2010 behauptete der Hildesheimer Bischof Trelle in einem „Wort des Bischofs“, das am Sonntag, dem 7. Februar 2010 in allen Gemeinden zu verlesen war und auch anderweitig veröffentlicht wurde, er habe
„Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Dienst des Bistums Hildesheim” erlassen und sie zum 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt.
In einem Brief an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Bistums vom 9. Februar 2010 behauptete Trelle erneut, er habe in Ergänzug zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002
Ausführungsbestimmungen erlassen und zum 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt.
Der Missbrauchsbeauftragte und Personaldezernent des Bistums, Domkapitular Heinz-Günter Bongartz, sprach in einem Interview, das am 6. Februar 2010 auf katholisch.de veröffentlicht wurde von
Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bistum Hildesheim [...], die unser Bischof zum Anfang dieses Jahres in Kraft gesetzt hat.
In einem Interview mit der Hildesheimer KirchenZeitung (Ausgabe Nr. 14 vom 4. April 2010, nicht mehr online, aber auf Skydaddy’s Festplatten gesichert) sprach Bongartz von
Ausführungsbestimmungen zu den Leitlinien, die am 1. Januar 2010 vom Bischof in Kraft gesetzt wurden [.]
Ergebnis: Sowohl Bischof Trelle als auch Domkapitular Bongartz haben damals beide mehrfach erklärt, die Ausführungsbestimmungen zum sexuellen Missbrauch für das Bistum Hildesheim seien „zum 1. Januar 2010”, „zum Anfang dieses Jahres” bzw. „am 1. Januar” in Kraft gesetzt worden – also noch vor dem Missbrauchsskandal 2010.
Die Wahrheit
Die Ausführungsbestimmungen traten erst gut zwei Wochen nach dem Beginn des Missbrauchsskandals in Kraft, nämlich mit ihrer Veröffentlichung im Kirchlichen Anzeiger für das Bistum Hildesheim Nr. 1/2010 am 17. Februar 2010.
Dieser Umstand wird Bischof Trelle und Domkapitular Bongartz kaum entgangen sein, denn in den Ausführungsbestimmungen heißt es gleich in der Einleitung, unmittelbar vor den eigentlichen Bestimmungen:
Dazu gelten ab dem Tag der Veröffentlichung folgende Bestimmungen und Verfahren:
Und am Ende, direkt über Bischof Trelles Unterschrift, heißt es noch einmal:
Inkrafttreten
Diese Ausführungsbestimmungen treten mit der Veröffentlichung im Kirchlichen Anzeiger für die Diözese Hildesheim in Kraft.
Über der Unterschrift steht:
Hildesheim, den 1. Januar 2010
Zwischenergebnis
Obwohl die Hildesheimer Ausführungsbestimmungen erst am 17. Februar 2010 – gut zwei Wochen nach dem Beginn des Missbrauchsskandals – in Kraft traten, verbreiteten Bischof Trelle und sein Missbrauchsbeauftragter Bongartz bereits vor dem Inkrafttreten mehrfach, Trelle habe die Bestimmungen bereits „zum 1. Januar 2010”, „zum Anfang dieses Jahres” bzw. „am 1. Januar” in Kraft gesetzt.
Um ein Versehen handelte es sich dabei offenbar nicht: Zum einen ist undenkbar, dass Trelle und Bongartz sich nicht darüber im Klaren waren, dass die Bestimmungen erst mit ihrer Veröffentlichung im Kirchlichen Anzeiger in Kraft treten würden, zum anderen sind mir auch keine anders lautenden Erklärungen des Bistums bekannt, in denen es etwa heißen würde, die Ausführungsbestimmungen seien „am 17. Februar” oder „mit ihrer Veröffentlichung” in Kraft getreten.
Offensichtlich handelte es sich bei den obigen Formulierungen um eine Sprachregelung des Bistums.
Die Formulierungen sind aber alle unzutreffend. Am ehesten wäre noch Bongartz’ Formulierung akzeptabel, die Ausführungsbestimmungen seien „zum Anfang des Jahres” in Kraft gesetzt worden – bei großzügiger Auslegung könnte man Mitte Februar u.U. noch als „Anfang des Jahres” bezeichnen. Bongartz sprach zum Zeitpunkt des Interviews (am 6. Februar 2010 oder früher) allerdings bereits in der Vergangenheitsform:
Ausführungsbestimmungen […], die unser Bischof zum Anfang dieses Jahres in Kraft gesetzt hat.
Damit kann diese Aussage jedenfalls nicht auf den 17. Februar bezogen werden.
Außerdem sind Bongartz’ Formulierungen im Zusammenhang mit den Erklärungen von Bischof Trelle zu sehen. Trelle und Bongartz wollten mit ihren Formulierungen zweifellos den Eindruck erwecken, die Leitlinien seien bereits am 1. Januar 2010 in Kraft getreten.
Es handelt sich hierbei auch nicht um eine Nebensächlichkeit – sonst hätte Bischof Trelle wohl auch kaum zwei Mal eine so leicht zu widerlegende Formulierung benutzt: Der Unterschied zwischen dem Inkrafttreten am 1. Januar und am 17. Februar besteht darin, dass die Ausführungsbestimmungen im ersten Fall noch vor, im zweiten Fall erst nach dem Beginn des Missbrauchsskandals in Kraft traten.
Die Leitlinien der Bischofskonferenz sind unverbindlich
Hierzu muss man wissen, dass die 2002 von der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedeten Leitlinien für die Deutschen Bistümer nicht verbindlich sind. Wie der Name schon sagt, handelt es sich lediglich um „Leitlinien”. Damit die entsprechenden Bestimmungen und Verfahren für ein Bistum Gültigkeit erlangen, muss der Bischof entsprechende Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies war im Bistum Hildesheim seit 2002 nicht geschehen, weder unter dem früheren Bischof Josef Homeyer (bis Ende 2004) und seinem Personalverantwortlichen/Missbrauchsbeauftragten Werner Holst (bis 2006/2007), noch unter dem jetzigen Bischof Norbert Trelle (seit 2006) und dem jetzigen Personaldezernenten/Missbrauchsbeauftragten Heinz-Günter Bongartz (seit 2006/2007).
Bistum setzte bis November 2009 Missbrauchstäter ein
Der Grund dafür, dass für das Bistum Hildesheim jahrelang keine Ausführungsbestimmungen erlassen wurden, lag möglicherweise auch darin, dass bis zum 30. November 2009 – etwa 8 Wochen vor dem Missbrauchsskandal – fast ununterbrochen Sexualtäter mit Wissen der Bistumsleitung weiterhin als Gemeindepfarrer eingesetzt waren (Peter R. aus dem Canisius-Kolleg bis 2003, Hermann S. von 2003 bis 2009 mit knapp 7 Monaten Unterbrechung). Dies war jedenfalls nicht im Sinne der Leitlinien und wäre auch kaum mit etwaigen Ausführungsbestimmungen zu vereinbaren gewesen.
Mit dem Bekanntwerden der ersten Fälle des Missbrauchskandals 2010 (von den drei Tätern, über die zuerst berichtet wurde (Peter R., Wolfgang S. und Berhard E.) waren zwei (Peter R. und Bernhard E.) später im Bistum Hildesheim tätig und haben dort auch Minderjährige missbraucht) drohte das jahrelange Fehlen von Ausführungsbestimmungen jedenfalls unangenehme Fragen an Bischof Trelle und seinen Missbrauchsbeauftartgen Bongartz aufzuwerfen.
Bischof Trelle und Domkapitular Bongartz müssen daher ein erhebliches Interesse gehabt haben, den Eindruck zu vermitteln, dass sie bereits vor dem Missbrauchsskandal an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet hatten. (Diese Interesse ist keine bloße Spekulation, sondern spiegelt sich auch in den oben genannten Formulierungen wider und dem Umstand, dass Bischof Trelle zwei Mal eine unzutreffende und leicht falsifizierbare Formulierung verwendete.)
Wann wurden die Ausführungsbestimmungen erstellt?
Die Frage, die sich aus alledem ergibt: Wurde im Bistum Hildesheim tatsächlich bereits vor dem Missbrauchsskandal 2010 an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet und die Verantwortlichen wurden sozusagen lediglich zwischen Unterschrift und Inkrafttreten durch den Missbrauchsskandal „überrascht” – oder wurden die Hildesheimer Ausführungsbestimmungen auf die Schnelle produziert und rückdatiert, nachdem Bischof Trelle durch den Jesuitenorden vorab über den Fall Peter R. informiert worden war?
Hierzu ist folgendes festzustellen:
Die früheste mir bekannte Erwähnung der Hildesheimer Ausführungsbestimmungen im Internet stammt vom 2. Februar 2010 – aus einer Pressemitteilung, in der das Bistum Hildesheim zum Fall Peter R. Stellung nimmt. Darin erklärt Domkapitular Bongartz, man „orientiere” sich „an den ‚Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz’ aus dem Jahre 2002 und den entsprechenden Ausführungsbestimmungen des Bistums Hildesheim.”
Zu diesem Zeitpunkt waren die von Bongartz erwähnten Ausführungsbestimmungen freilich noch gar nicht in Kraft.
Es fällt jedenfalls auf, dass die Ausführungsbestimmungen, die bereits „am” bzw. „zum” 1. Januar 2010 erlassen worden sein sollen, offenbar erstmals im Zuge des Missbrauchsskandals der Öffentlichkeit gegenüber erwähnt wurden.
Die PDF-Datei ist vom 4. Februar
Es hätte die Darstellung des Bistums gestärkt, wenn wenigstens die PDF-Datei der Ausführungsbestimmungen, die das Bistum Hildesheim auf seiner Website präsentiert, ein Erstellungsdatum vor dem Missbrauchsskandal aufweisen würde. Gemäß den Datei-Eigenschaften wurde die Datei allerdings erst am 4. Februar 2010 um 14.31 erstellt – zwei Tage, nachdem die Bestimmungen offenbar erstmals in der Pressemitteilung erwähnt worden waren.
Bongartz’ merkwürdige Formulierung
In dem oben bereits erwähnten Interview (mit der Überschrift „Moralische Schuld verjährt nicht“) vom 6. Februar 2010 – also nach dem Beginn des Skandals – erweckte Domkapitular Bongartz den Eindruck, es sei bereits 2009 an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet worden:
Nach der Veröffentlichung der Leitlinien der Bischöfe 2002 haben wir mit dem Beraterstab 2009, der mir als bischöflicher Berater zur Seite steht, Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bistum Hildesheim erarbeitet, die unser Bischof zum Anfang dieses Jahres in Kraft gesetzt hat.
Bei einer genaueren Betrachtung seiner Formulierung – und das ist bei Bongartz immer ratsam! – zeigt sich allerdings, dass Bongartz nicht wirklich sagt, dass bereits 2009 an den Bestimmungen gearbeitet wurde. Vielmehr erscheint seine Formulierung gerade dort etwas „holprig”, wo es um das Jahr geht: Er spricht von seinem „Beraterstab 2009” (was auch immer das heißen mag) und nicht davon, dass er und dieser Beraterstab 2009 schon an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet hätten.
Ist diese „holprige” Formulierung weder dem Interviewer noch Bongartz beim Gegenlesen aufgefallen, so dass man sie korrigiert hätte? Oder sollte bewusst ein bestimmter Eindruck erweckt werden, ohne „technisch” zu lügen? Eine Frage, die man sich angesichts einiger Bongartz-Äußerungen durchaus stellen kann – z.B. erweckte er ja 2011 nach der Verhaftung eines Pfarrers aus Salzgitter den Eindruck, das Bistum habe sich 2010 wegen eines „freundschaftlichen Verhältnisses” des Pfarrers zur Familie seines Opfers und „übergroßen Geschenken” an die Staatsanwaltschaft gewandt – ohne zu erwähnen, dass dem Bistum seit 2010 bekannt war, dass der Pfarrer mit einem Jungen im Urlaub gewesen war und mit ihm in einem Bett übernachtet hatte – was der tatsächliche Grund für die Anfrage bei der Staatsanwaltschaft war.
Anfrage beim Bistum
Ich fragte am 14. November 2011 per E-Mail beim Bistum Hildesheim an:
- Trifft es zu, dass die Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger für das Bistum Hildesheim am 17. Februar 2010 in Kraft getreten sind (mit der Veröffentlichung im Kirchlichen Anzeiger, wie es in den Ausführungsbestimmungen selbst heißt)?
- Wenn die Ausführungsbestimmungen erst am 17. Februar 2010 in Kraft getreten sind, weshalb hat Bischof Trelle dann in zwei Briefen (an die Gemeinden und die Mitarbeiter des Bistums) behauptet, er habe die Bestimmungen „zum 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt”?
- Verstehe ich die Formulierung von Domkapitular Bongartz im Interview mit katholisch.de richtig, dass er nicht behauptet, der Beraterstab habe bereits 2009 an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet, sondern dass er seinen Beraterstab als „Beraterstab 2009” bezeichnet?
- Wie rechtfertigt Herr Bongartz seine damalige Behauptung in dem o.g. Interview, der Bischof habe die Ausführungsbestimmungen „zum Anfang dieses Jahres in Kraft gesetzt”? – Bongartz sprach damals in der Vergangenheitsform, zum Zeitpunkt des Interviews waren die Bestimmungen jedoch noch gar nicht in Kraft.
- Hat das Bistum ggf. Belege dafür, dass bereits vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals Ende Januar 2010 an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet wurde, oder dass der Erlass dieser Bestimmungen vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals kommuniziert wurde? (Hintergrund: Ich fand die Ausführungsbestimmungen erstmals am 2.2.2010 erwähnt.)
Antwort wirft Fragen auf
Zu diesen Fragen antwortete mir der Bistums- Pressesprecher Dr. Lukas am 21. November 2011 freundlicherweise:
Der Bischof hat die Ausführungsbestimmungen am 1. Januar 2010 unterschrieben. Sie wurden im darauffolgenden Kirchlichen Anzeiger veröffentlicht und dadurch in Kraft gesetzt. Die Ausführungsbestimmungen wurden in 2008 und 2009 vom Beraterstab erarbeitet.
Diese Antwort des bischöflichen Pressesprechers wirft zwei weitere Fragen auf:
Erstens: Wenn Bischof Trelle die Ausführungsbestimmungen tatsächlich am 1. Januar 2010 unterzeichnet hat – warum hat er das dann in seinen Briefen nicht entsprechend formuliert? Die Formulierung, er habe die Ausführungsbestimmungen „am 1. Januar 2010 erlassen” oder „unterschrieben” hätte exakt die gleiche Botschaft kommuniziert und wäre nicht so offensichtlich unrichtig gewesen wie die tatsächlich benutzte Formulierung. Warum wurde statt „am 1. Januar” die Formulierung „zum 1. Januar” gewählt? – Etwa, weil die Ausführungsbestimmungen gar nicht am ersten Januar unterschrieben wurden, sondern lediglich auf den 1. Januar „rückdatiert” wurden?
Andererseits: Würde ein bischöflicher Pressesprecher die Unwahrheit schreiben? Nur, um ein Täuschungsmanöver seines Bischofs zu decken?
Copy & Paste
Die zweite Frage, die sich aus Dr. Lukas Antwort ergibt, betrifft die Arbeit des Beraterstabes, die schon 2008 erfolgt sein soll.
Die Ausführungsbestimmungen des Bistums Hildesheim wurden nämlich offensichtlich in größter Eile per „Copy & Paste” aus den Ausführungsbestimmungen des Bistums Aachen „produziert”.
Und die Ausführungsbestimmungen des Bistums Aachen datieren vom 15. Dezember 2008.
An dieser Stelle muss auf folgendes hingewiesen werden:
Es ist nicht so, dass man sich beim Bistum Hildesheim jahrelang keine Gedanken über die Dinge gemacht hätte, die in den Ausführungsbestimmungen geregelt werden: Nämlich wie beim Verdacht auf Missbrauch durch Geistliche oder Beschäftigte des Bistums zu verfahren ist, wer zuständig ist usw. Dazu hatte das Bistum Hildesheim seit der Verabschiedung der Leitlinien im September 2002 wahrlich oft genug Anlass:
2003: Peter R. wird entpflichtet; das Bistum erfährt, dass der Celler Dechant Hermann S. 1995 einen 12-Jährigen missbraucht hat.
2004: Rudolf A., der 2001 einen Jugendlichen missbraucht hatte, wird nach einer Therapie wieder als Seelsorger in und um Göttingen eingesetzt; der Therapeut eines Opfers informiert das Bistum über einen 20 Jahre zurückliegenden Missbrauch durch Wolfgang F.
2005: Der Medienbeauftragte des Bistums, Monsignore Wolfgang F., wird wegen des 20 Jahre zurückliegenden Missbrauchs suspendiert.
2006: Eine Mutter fordert ein Kontaktverbot für den Pfarrer Andreas L. aus Salzgitter wegen „Distanzlosigkeit”; Vorwürfe gegen Hermann S. in Celle.
2007: Hermann S. wird in Celle entpflichtet, „aus Krankheitsgründen”; Hermann S. wird von einem Unbekannten wegen des Missbrauchs 1995 bei der Staatsanwaltschaft angezeigt; Wolfgang F. wird an das Bistum Paderborn „ausgeliehen”, wo er wieder als Seelsorger eingesetzt wird; Hermann S., wird die Leitung einer Seelsorgeeinheit im Eichsfeld übertragen, wo er weiterhin mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Zuvor hatte S. eine Therapie gemacht, ein Gutachten soll seinen Einsatz „mit Auflagen” befürwortet haben;
2008: Rudolf A. wird einer anderen Gemeinde in Göttingen zugewiesen, bleibt nach wie vor Krankenhausseelsorger.
2009: Nachdem Hermann S. wegen Missbrauchs zu einer Geld- und Bewährungsstrafe verurteilt wurde, wird er in den Vorruhestand geschickt. „Aus gesundheitlichen Gründen”, der ahnungslosen Gemeinde tat der „schwer kranke” Pfarrer sehr leid.
Man darf daher wohl annehmen, dass im Bistum Hildesheim Anfang 2010 die Abläufe beim Thema „Missbrauch” eingespielt und die Zuständigkeiten geklärt waren.
Das ist aber nicht dasselbe wie Arbeit an den Ausführungsbestimmungen, jedenfalls nicht an deren Text.
Und als Textvorlage für die Hildesheimer Ausführungsbestimmungen dienten nachweislich die Ausführungsbestimmungen des Bistums Aachen vom 15. Dezember 2008.
Schlampige Anpassung
Man erkennt das an der äußerst schlampigen Anpassung an das Bistum Hildesheim. So wurde an einer Stelle ein typografischer Fehler aus der Aachener Vorlage übernommen (ein „französisches” Anführungszeichen («) statt der ansonsten verwendeten „geraden” Anführungszeichen (“)), an anderer Stelle wurde vergessen, den Verweis auf den Aachener Bistumsanzeiger (Nr. 173/2002) auf den Hildesheimer Bistumsanzeiger (Nr. 11/2002) umzustellen. Während der Hildesheimer Bistumsanzeiger jedes Jahr neu mit der Nr. 1 beginnt, wird in Aachen fortlaufend nummeriert. Da es demzufolge in Hildesheim immer nur rd. 12 Anzeiger pro Jahr gibt, hätte der Verweis auf den Anzeiger Nr. 172 dem Bongartzschen Beraterstab während seiner jahrelangen Arbeiten an den Ausführungsbestimmungen eigentlich auffallen müssen. Mir ist er jedenfalls aufgefallen. (Andererseits ist es nicht das erste Mal, dass man den Eindruck hat, dass die Verantwortlichen des Bistums Hildesheim beim Thema Missbrauch nicht richtig hingeschaut haben.)
Weitgehend identischer Text
Mit der Aachener Textvorlage sind die Hildesheimer Ausführungsbestimmungen über weite Strecken identisch. Ich habe hier mal die wörtlichen Übereinstimmungen (jeweils links: Aachen, rechts: Hildesheim) dunkelgrün markiert. Begriffe, die lediglich an das Bistum Hildesheim angepasst wurden (z.B. „Aachen“ > „Hildesheim“), sind hellgrün dargestellt (auf das Bild klicken zum Vergrößern):
Uneinheitliche Begriffe
Weitere Nachlässigkeiten: In der Hildesheimer Version werden z.T. andere Begriffe verwendet, so heißt es in Aachen z.B. durchgängig nur „Generalvikar”, in Hildesheim hingegen grundsätzlich „Bischöflicher Generalvikar” – einige Male wurde die Anpassung aber vergessen, und es ist auch in Hildesheim nur vom „Generalvikar” die Rede. (Beispiel weiter unten.)
Die Lesbarkeit der Hildesheimer Ausführungsbestimmungen wird auch nicht dadurch verbessert, dass statt, wie in der Aachener Vorlage, nur vom „Bischöflichen [Missbrauchs-] Beauftragten” (in der männlichen Schreibweise) die Rede ist, sondern im Prinzip immer beide Schreibweisen (weiblich/männlich) benutzt werden. Nur halt nicht immer in der gleichen Weise, und gelegentlich wurde die weibliche Form auch vergessen. (Beispiel weiter unten.)
Damit nicht genug: Zusätzlich zu den „Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche” hat man in Hildesheim gleich noch eine zweite Variante der Ausführungsbestimmungen produziert, nämlich für „pastorale Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter” (im Gegensatz zu „Geistlichen”). Natürlich sind die Verantwortlichkeiten und die Vorgehensweise praktisch identisch, nur in wenigen Punkten unterscheidet sich die Behandlung der Geistlichen von der der pastoralen Beschäftigten. Dementsprechend müssten die Texte eigentlich in beiden Varianten gleich sein – sind sie aber nicht, weil die Nachlässigkeiten bei der „Anpassung” an das Bistum Hildesheim sich jeweils an anderen Stellen bemerkbar machen.
Hier ein kleines Beispiel: Beide Spalten gelten für Hildesheim. Links die Bestimmungen bei Missbrauch durch Geistliche, rechts bei Missbrauch durch pastorale Beschäftigte. Mit Ausnahme der zweiten Zeile sollten beide Texte eigentlich identisch sein:
Inhaltlicher Fehler
Die Ergänzung um die zweite Textvariante für pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führte allerdings nicht nur zu textlichen Unstimmigkeiten, sondern auch zu einem gravierenden inhaltlichen Fehler:
Im Prinzip mussten natürlich in der „Mitarbeiter-Variante” die Bezüge auf die Geistlichen entfernt werden. Dies geschah allerdings offenbar, ohne mitzudenken:
Hier wurden offenbar in der „Mitarbeiter-Variante” (rechts) die Bezüge auf die Geistlichen und die nur diesen vorbehaltene Beichte entfernt. Dabei wurde folgender Aspekt übersehen:
Die Ausführungsbestimmungen für Geistliche bzw. Mitarbeiter beziehen sich darauf, welcher von beiden Personengruppen der (mutmaßliche) Täter angehört. In dem obigen Abschnitt geht es aber nicht darum, wer den Missbrauch begangen hat, sondern wer davon erfährt. Und natürlich kann auch ein Geistlicher – während der Beichte oder anderweitig – von einem Missbrauch durch einen pastoralen Mitarbeiter erfahren. Deshalb hätten die Geistlichen und die Beichte an dieser Stelle auch in der „Mitarbeiterversion” erwähnt bleiben müssen. Ein Fehler, der beim Bistum offenbar bis heute nicht erkannt, oder jedenfalls nicht korrigiert wurde.
Ergebnis jahrelanger Expertenarbeit?
Ich gehe deshalb so ausführlich auf diese Nachlässigkeiten ein, weil es praktisch undenkbar ist, dass ein Team von Experten (Bongartz’ Beraterstab) in jahrelanger Arbeit einen derart schlampigen Text produziert. Man muss sich auch fragen, weshalb Bischof Trelle am Neujahrstag 2010 ein Dokument unterschrieben haben soll, das so offensichtlich noch Korrekturbedarf hatte, wenn er damit bis zum Erscheinen des Anzeigers noch 6 Wochen hätte warten können – der Zeitpunkt des Inkrafttretens hätte sich dadurch nicht geändert, die Qualität der Ausführungsbestimmungen hingegen deutlich verbessern lassen.
Andererseits muss man ganz nüchtern feststellen: Dass die Hildesheimer Ausführungsbestimmungen offenbar in großer Hast und nachweislich per „Copy & Paste” aus den Aachener Ausführungsbestimmungen erzeugt wurden, verstärkt den Eindruck, dass hier versucht wurde, noch schnell so zu tun, als seien die Ausführungsbestimmungen bereits vor dem Missbrauchsskandal erlassen worden.
Wurde die Veröffentlichung des Kirchlichen Anzeigers verzögert?
Dazu passt auch, dass der erste Kirchliche Anzeiger des Bistums Hildesheim 2010 erst Mitte Februar erschien. In den Vorjahren war der erste Anzeiger immer schon Ende Januar veröffentlicht worden. Wurde 2010 die Veröffentlichung des Anzeigers verzögert, um im ersten Anzeiger noch die Ausführungsbestimmungen unterbringen zu können? Nach dem Erscheinen des ersten Anzeigers 2010 wäre es ja nicht mehr glaubhaft gewesen, später noch Bestimmungen mit dem Datum 1. Januar 2010 zu veröffentlichen. Bischof Trelle war jedenfalls vom Jesuitenorden vorab über den Fall Peter R. informiert worden, und man kann vermuten, dass diese Information erfolgte, bevor der Rektor des Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, am 20. Januar 2010 seinen diesbezüglichen Brief an 600 ehemalige Schüler verschickte. Ab da war ja mit Fragen zu rechnen.
Zusammenfassung
Die Behauptungen von Bischof Trelle und seinem Missbrauchsbeauftragen Bongartz, die Ausführungsbestimmungen für das Bistum Hildesheim seien „zum 1. Januar” bzw. „am 1. Januar” 2010 in Kraft gesetzt worden, sind unzutreffend – die Ausführungsbestimmungen traten erst mit ihrer Veröffentlichung am 17. Februar 2010 in Kraft.
Der Unterschied ist kein geringer: Wären die Bestimmungen tatsächlich bereits am 1. Januar 2010 in Kraft getreten, hätte das bewiesen, dass sich Bischof Trelle und der Missbrauchbeauftragte Bongartz schon vor dem Missbrauchsskandal um die Ausführungsbestimmungen gekümmert haben.
Die Formulierungen des Bistums erwecken gezielt den falschen Eindruck, die Bestimmungen seien bereits am 1. Janur in Kraft getreten. Andere öffentliche Erklärungen des Bistums, die korrekt von einem Inkrafttreten am 17. Februar oder „mit ihrer Veröffentlichung” sprechen, sind mir nicht bekannt.
Die Ausführungsbestimmungen selbst machen allerdings nicht den Eindruck, dass sie – wie von Domkapitular Bongartz angedeutet und Pressesprecher Lukas behauptet – über einen längeren Zeitraum von einer Gruppe von Experten erarbeitet worden sind. Vielmehr sind sie offensichtlich in großer Eile per „Copy & Paste” aus den Ausführungsbestimmungen des Bistums Aachen produziert worden. Vor dem Missbrauchsskandal bestand kein Grund zur Eile (schließlich hat sich das Bistum gut 7 Jahre Zeit gelassen mit den Ausführungsbestimmmungen), nach Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle 2010, die noch dazu das Bistum Hildesheim betrafen, gab es hingegen einen Grund für ein solches Vorgehen und eine solche Eile.
Erwähnungen der Hildesheimer Ausführungsbestimmungen vor Beginn des Missbrachsskandals scheint es – zumindest im Internet – nicht zu geben, obwohl dies zu erwarten wäre, wenn die Bestimmungen tatsächlich bereits am 1. Januar „unterschrieben”, „erlassen” oder „in Kraft gesetzt” worden wären.
Auch auf ausdrückliche Nachfrage hat das Bistum Hildesheim keinen Beleg dafür geliefert, dass bereits vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals Ende Januar 2010 an den Ausführungsbestimmungen gearbeitet wurde, oder dass der Erlass dieser Bestimmungen vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals kommuniziert wurde. Stattdessen behauptete der Bistumssprecher Dr. Lukas, die Ausführungsbestimmungen seien 2008 und 2009 vom Beraterstab erarbeitet worden. Diese Aussage muss allerdings bezweifet werden, weil die Textvorlage für die Hildesheimer Bestimmungen überhaupt erst vom 15. Dezember 2008 datiert und die ungeheuer schlampige Anpassung an das Bistum Hildesheim eine längere Arbeit am Text durch ein mehrköpfiges Gremium undenkbar erscheinen lässt. (Zumindest sollte Bischof Trelle dieses Gremium dann schleunigst durch bessere Leute ersetzen.)
In Anbetracht all dieser Umstände erscheint es mir nicht mehr angebracht, hier nur davon zu sprechen, dass Bischof Trelle und (der jetzige) Weihbischof Bongartz „die Unwahrheit” gesagt haben sollen. Vielmehr haben sie wissentlich die Unwahrheit gesagt (also gelogen), und alles deutet darauf hin, dass sie dies mit voller Absicht getan haben, um angesichts der Enthüllungen 2010 ihre Untätigkeit hinsichtlich der Ausführungsbestimmungen zu vertuschen.
Das hinderte Bischof Trelle freilich nicht daran, 2010 in seinem „Wort des Bischofs“ an die ,zwei Absätze vor der irreführenden Behauptung über das Inkraftsetzen der Ausführungsbestimmungen, zu schreiben:
Wir werden heute alles daran setzen, für Aufklärung zu sorgen. Es ist gut, dass die Dinge, die lange unter der Oberfläche geblieben ist, nun offen angesprochen werden, auch wenn dies für alle Seiten schmerzlich ist. Nur so kann es zu einer ehrlichen Aufarbeitung kommen.
Die schon unter Trelles Vorgänger, Bischof Homeyer, etablierte Strategie, sich in Missbrauchsfragen nach außen hin offen und proaktiv zu geben, während die tatsächliche Praxis des Bistums eklatante Mängel aufwies, wurde offenbar auch vom jetzigen Bischof Trelle und Personaldezernent Bongartz beibehalten.
Diese Vorgänge sind jetzt zwar schon fast zwei Jahre her. Aber wie lautete doch die Überschrift des Bongartz-Interviews auf katholisch.de? „Moralische Schuld verjährt nicht”.
Wo Bongartz Recht hat, hat er Recht.
Dieser Artikel wird fortgesetzt.
[Erstveröffentlichung: Skydaddy's Blog]