Was hat Otto von Bismarck mit mir zu tun?
Auf den ersten Blick natürlich nichts.
Auf den zweiten Blick erinnere ich mich an meine Schulzeit, in der ich mich so sehr für einen der größten Politiker des 19. Jahrhunderts interessiert habe, dass ich sogar freiwillig zwei oder drei Biografien über ihn gelesen habe. In der Abi-Prüfung in Geschichte habe ich dann alles auf Bismarck gesetzt. Leider stand dann eine völlig anderes Thema auf den Prüfungsbögen. Pech gehabt …
Und auf den dritten Blick gibt es irgendwie doch eine Art persönliche “Beziehung”, denn mein Vater und seine Familie stammen ursprünglich aus Pommern. Schon als Kind habe ich meiner Großmutter begeistert zugehört, wenn sie davon erzählte, dass sie im Bismarck’schen Schloss in Varzin kochen gelernt hat, mein Großvater Gutsinspektor auf Bismarcks Gütern und mein Urgroßvater Förster in dessen Wäldern war. So romantisch! Im Juni war ich dann erstmals auf den Spuren Bismarcks (oder besser gesagt: auf den Spuren meiner familiären Wurzeln) in Hinterpommern unterwegs.
Schon während der Anreise wird schnell klar, dass hier in Polen in der Woiwodschaft Pomorskie (Pommern) die Uhren anders ticken als in Deutschland.
Kilometerlange Alleen in Pommern
Wenige Kilometer hinter der polnischen Grenze und am Ende der Ausbaustrecke beginnt die Entschleunigung für Reisende direkt auf der Straße, deren Zustand sich mehr als einmal als “abenteuerlich” beschreiben lässt. Aber dafür fahren wir auch über zahlreiche kilometerlange, fantastisch bewachsene Alleen … soll man all diese traumhaften Alleen abschlagen, nur damit die Landstraße breiter wird (… gut, es würde eigentlich ausreichen, wenn man hier und da mal eine kleine Reparatur ausführt …)? Die vorsorgliche Warnung meines Vaters “Ich weiß ja nicht, was ihr euch unter Pommern vorstellt, aber da gibt es nichts weiter als Wald, Felder und irgendwann die Ostsee!” bekommt auf einmal eine ganz andere Dimension. Es geht nämlich über Hunderte Kilometer durch endlose Misch- oder Kiefernwälder und vorbei an Korn- und Rapsfeldern.
Soweit das Auge reicht: Felder und Wälder
Es ist fast, als sei man aus der Zeit gefallen. Wenig Verkehr, kleine Dörfer, Wälder, Felder … Wälder und Felder … und Störche in rauen Mengen. Fast jedes Dorf, durch das wir fahren, hat ein bis zwei (manchmal drei) Storchennester mitten an der Hauptstraße … in allen Nestern hocken bereits Baby-Störche … (da sollen mir doch zukünftig alle Naturschützer vom Leib bleiben, die erzählen, dass Störche absolute Ruhe benötigen und nicht gestört werden dürfen)
Storchennester gibt es in ganz Pommern in rauen Mengen
Ich wäre also nicht sonderlich verwundert gewesen, wenn uns auf einer dieser holprigen Landstraßen Bismarcks Kutsche entgegen gekommen wäre. Wir erreichen an diesem strahlendschönen Sommertag nun erst einmal das Örtchen Wussow (polnisch: Osowo). Auf einem Hügel schmiegt sich ein schneeweißes Kirchlein an den Waldrand.
Patronatskirche von Bismarck
Die einst protestantische Kirche wurde um das Jahr 1500 erbaut und im Jahre 1711 umgebaut. Dank einer Stiftung von Otto von Bismarck wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der südlichen Seite ein heute nicht mehr bestehender Anbau zugebaut, in dem wahrscheinlich die Patronbank des Stifters ihren Platz hatte – sie wurde daher früher die Patronatskirche von Bismarck genannt. Heute ist sie katholisch und heißt Filialkirche Heiligstes Herz Jesu.
Verwunschener Friedhof
Otto von Bismarck erwarb 1863 das heutige Osowo zusammen mit anderen Varziner Gütern und hat sich – den Erzählungen zufolge – oft in dieser Kirche aufgehalten. Leider war die Kirche zum Zeitpunkt unseres Besuches geschlossen (wie übrigens fast jede kleinere Kirche, die unseren Weg in Pommern kreuzte). Das Innere der Kirche soll original aus dem 18. Jahrhundert stammen und umfasst Altar mit Baldachin und Wandschirm, Orgelprospekt, Ofen und Bänke. Die Bronzeglocke des Kirchturms ist auf das Jahr 1701 datiert.
Blick auf die alte Schmiede in Osowo
Auch mein Vater war als Kind mit Eltern und Bruder oft zu den Sonntagsgottesdiensten hier – zu Fuß versteht sich! Wir steigen dann doch lieber wieder ins Auto, um uns auf den Weg zum Schloss Varzin zu machen. Dabei kreuzen wir den so genannten Kirchweg von Osowo nach Varzin. Ein herrlich schattiger Alleenweg, der rund 3,8 Kilometer lang ist und den Bismarck anlegen ließ, damit Reiter und Kutschen stets geschützt vor dem Wetter gut zur Kirche kamen.
Kirchweg zwischen Osowo und Varzin
Wir machen einen Abstecher nach Neu Chorow (polnisch: Chorówko), ein Ortsteil von Osowo. Dieser Ort beherbergt heute nur ein paar arg in die Jahre gekommene Wohnhäuser, die am Straßenrand vor sich hin dösen. Eigentlich gibt es nichts zu sehen … aber für meinen Vater ist es doch ein ganz besonderer Ort. Denn hier stand einst sein Elternhaus – das Gutsinspektorhaus von Neu Chorow, von dem heute so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist.
… kein Gutshaus mehr zu erkennen …
Hier hat der Zahn der Zeit genagt. Mehr als 60 Jahre sind nicht spurlos vorbei gegangen. Wir stehen praktisch vor dem Hofeingang von damals … und? Und da ist nichts. Na ja, nichts ist es nicht. Meine Mutter kämpft sich durch das Unterholz und findet auf der von alten Laub- und Nadelbäumen umstellten Lichtung doch noch ein paar Überreste, die nur “Wissende” als ehemaliges Gutshaus identifizieren können …
… ein Stein wandert in den Kofferraum und findet bald ein neues Zuhause …
Heute geht der Blick über gelb blühende Rapsfelder, wo einst rund 200 Arbeits- und Reitpferde friedlich auf heute nicht mehr vorhandenen Koppeln und Wiesen grasten. 200 Pferde? Eine riesige Anzahl für heutige Verhältnisse, aber damals wurde ja noch ein Großteil der Landarbeit mit Pferden erledigt. Und mein Großvater benötigte jeden Tag zwei frische Reitpferde, um seiner Arbeit nachgehen zu können …
Hier sind früher die Pferdekoppeln gewesen
Ich habe mich schon vor der Reise gefragt, ob diese Reise etwas mit mir “machen wird”. Natürlich hat sie das schon im Voraus getan, weil ich mich jetzt intensiv mit der Geschichte der Familie meines Vaters (die natürlich auch die meine ist) auseinandersetze, bevor ich überhaupt einen Fuß nach Pommern gesetzt hatte. Ja. Da steht man nun auf einer krummen Landstraße, umgeben von Wald und Feldern … von hier aus ist mein Vater also als kleiner Steppke jeden Tag in die rund drei Kilometer entfernte Schule marschiert. Hier haben meine Großmutter und mein Großvater gemeinsam gelebt, gelacht und geweint. Und nichts ist mehr da. Ja, es “macht etwas mit mir” … es ist irgendwie ein komisches Gefühl, dass da durch meinen Magen kriecht … vielleicht ein bisschen romantische Wehmut …
So, aber jetzt geht es endlich nach Varzin (polnisch: Warzino), wo meine Großmutter im Schloss einst das Kochen erlernte …
Schloss Varzin beherbergt heute die polnische Forstschule
1867 erwarb Otto von Bismarck, der übrigens seit 1847 mit Johanna von Puttkamer aus einer alten pommerschen Adelsfamilie verheiratet war, das Rittergut Varzin (so sah das Schloss zu Bismarcks Zeiten aus), das bis 1945 im Besitz der Familie von Bismarck war.
Der alte Glanz lässt sich nur erahnen
Das Schloss von der Parkseite
Heute befindet sich in Warcino die polnische Forstschule. Im Schloss sind Büros und Hörsäle für die Forststudenten, die etwas abseits in “schicken” und vermutlich seit Bau nicht mehr renovierten Plattenbauten leben. Auf dem ganzen Gelände spüre ich die Vergänglichkeit der Zeit und so etwas wie Zerrissenheit. Denn für die einen ist das hier Varzing - das einstige Rittergut Otto von Bismarcks und für die anderen ist es Warcino - die polnische Forstschule. Auf der einen Seite bemühte man sich viele Hinterlassenschaften aus der deutschen Zeit “verschwinden” zu lassen (beispielsweise eine Bismarck-Statue, die vom Abbild einer polnischen Schriftstellerin ersetzt wurde).
Sozialistische Bildhauerkunst
Auf der anderen Seite wird der Hundefriedhof des deutschen Fürsten in Ehren gehalten …
Bismarcks Hundefriedhof
… und auch Bismarcks Lieblingspferd Schmetterling ziert noch die Fassade des alten Schlosses.
Bismarcks Lieblingspferd Schmetterling
Die Liebe zu Hunden und Pferden – oder zu Tieren und der Natur im Allgemeinen – ist dann doch Gott sei Dank international. Das ist schön! Der weitläufige Park ist gepflegt und lädt zu einem Spaziergang ein. Bäume und kleine Wäldchen, Rasenanlagen und Teiche, die von Seerosen übersäht sind.
Wunderschöner Schlosspark
Seerosenteiche mit massenhaft Fröschen
Blick auf das Schloss
Nicht alles ist dem Verfall preisgegeben …
Der Park ist für die Öffentlichkeit geöffnet (ein Besuch ist kostenfrei). Das Schloss ist leider nicht zugänglich (weil ja Forstschule …), und es gibt auch ansonsten kein Museum oder Ähnliches auf dem Gelände.
Ach ja, und was war da noch gleich mit meiner Großmutter? Ja, die hat als junges Mädchen im Schloss Varzin kochen gelernt. Zu der Zeit gehörte das alte Rittergut Otto von Bismarcks Enkel, Nikolaus.
Küchenbereich des Schlosses
Auf dem obigen Bild ist die Küchentür zu sehen. Und wie kann es anders sein? Auch mit dieser Holztür hat es eine besondere Bewandtnis. Denn diese Tür ist Schuld am Vornamen meines Vaters – Egbert. Es begab sich nämlich, dass meine Großmutter die Küche verließ und just in dem Augenblick, in der sie die Tür öffnete, stand der Graf Egbert von Zitzewitz vor ihr. Sie soll später gesagt haben: “Da stand der Graf vor mir. Ein so schöner und gutaussehender Mann. Wenn ich mal einen Sohn habe, dann soll dieser Egbert heißen!” Ganz klar natürlich, dass mein Vater auch ein ausgesprochen gut aussehender Mann ist …
Nach diesem Rückblick auf die Familien- und Bismarck-Vergangenheit geht es für uns weiter an die Ostsee und auf die Suche nach der Rügenwalder Teewurst. Aber das ist eine andere Geschichte.
Weitere Informationen
Allgemeine Informationen zum Schloss Varzin/Warcino und seiner Geschichte gibt es u.a. hier oder auf diversen “Heimat”-Seiten, wie beispielweise dem Pommerschen Kreis- und Städtetag, aber informative touristische Online-Guides (auf deutscher Sprache) habe ich nicht wirklich gefunden. Die Gegend ist nicht wirklich touristisch erschlossen, aber man trifft hier immer wieder viele Deutsche (deren Familien aus Hinterpommern stammen). Die Natur ist wirklich einzigartig. Und wie ich bereits oben im Post geschrieben habe, hatte ich ganz oft das Gefühl, dass ich einfach aus der Zeit gefallen bin. Es gab und gibt in ganz Hinterpommern keine Industrie, und es wird auch niemals Industrie geben. Dies und die vielen, vielen Wälder machen daraus ein Mikroklima, das einzigartig in ganz Europa ist.
Hunde können im Übrigen gut überall mit hingenommen werden. Es herrscht Leinenpflicht, aber mitten im Wald oder auf Feld und Wiesen trifft man fast keine Menschen … da Hinterpommern wirklich dünn besiedelt ist, gibt es in der Regel in den kleinen Orten, durch die man fährt, keine oder nur sehr wenige Cafés und Restaurants. Es ist also ratsam sowohl für Hund als auch Mensch immer Wasser und Getränke im Auto dabei zu haben. Es gibt in den meisten Orten winzige Tante-Emma-Läden (Sklep), in denen man Getränke und Lebensmittel kaufen kann. Es kostet allerdings etwas Überwindung, einfach darein zu marschieren und sich mit Händen und Füßen zu verständigen, denn es spricht so gut wie keiner Englisch oder Deutsch.
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