Bis zum bitteren Ende
Wie weit darf man im Umgang mit einem Terroristen gehen, um einen Massenmord zu verhindern? Fragt "Unthinkable", und wie dieses hochwertige, moralische Terrorismus-Thrillerdrama darauf antwortet, erklärt vielleicht auch, warum er nur auf DVD erschienen ist.
Nicht unthinkable, also unvorstellbar ist es, dass dieser Film nicht in die Kinos kam, aber unglaublich oder zumindest unverständlich. In den USA ist er jetzt direkt auf DVD herausgekommen, und dass es in Deutschland genauso sein wird, ist wahrscheinlich. (Lediglich in den Niederlanden und in Russland steht eine Auswertung auf der großen Leinwand an.)
Dabei hat Regisseur Gregor Jordan ("Buffalo Soldiers", "Ned Kelly") mit Samuel L. Jackson, Carrie-Anne Moss und Michael Sheen ("Frost"/"Nixon") bekannte Namen versammelt und einen Terrorismusszenario hingelegt, der das „24“-Publikum durchaus hätte locken können.
Freilich wundert es so sehr nun auch nicht. Produzent Caldecut Chubb hat in der "Los Angeles Times" erklärt, warum "Unthinkable" „the hottest new movie that you have never heard of“ ist und dabei auf den Ausfall von Senator als Auslandsverleihpartner verwiesen. Doch daran dürfte es weniger liegen, dass man keinen Verleiher in den USA fand. Sondern eher daran, dass "Unthinkable" allein schon vom Thema her höchst unbequem und übderies so verteufelt konsequent ist, dass er durchaus an Finchers "Se72n" ("Sieben"; USA 1995) gemahnt, auch wenn er filmästhetisch nicht in dessen Nähe kommt.
"Unthinkable" dreht sich nämlich um die moralisch hochbrisante Frage, die auch in Deutschland angesichts des „Krieges gegen den Terrorismus“ (z.B. in der Diskussion, ob man entführte Passagierflugzeuge abschießen darf, um Schlimmeres zu verhindern), für grundlegende Kontroversen sorgt(e).
In "Unthinkable" ist es ein zum Islam konvertierter US-Bürger, der zur Herausforderung für die innere Sicherheit im doppelten Sinne wird, indem er die zivilen Werte hinsichtlich der Legitimität von staatlicher Gewalt auf die Probe stellt. Dabei macht es einem "Unthinkable" schon mit der Figur nicht einfach. Der Film beginnt mit dem alles andere als souveränen Terroristen Steven Arthur Younger (gespielt von einem zwischen Opfer und Täter, Märtyrer und verschlagenem Teufel nicht immer ausgewogen, aber stets packend changierende Briten Michael Sheen). Wir sehen die anfänglichen Outtakes seiner Videobotschaft; immer wieder bricht er ab, das Band startet neu; er bringt sich in Pose, ist nervös, findet nicht die rechten Worte. Zuletzt aber bekennt er sich zu seiner neuen muslimischen Identität, als Yussuf blickt entschlossen in die Kamera – und setzt die USA unter Druck.
Denn Younger hat in drei Großstädten des Landes Atombomben versteckt. Warum bleibt zunächst offen. Wie er das geschafft hat, wird Hollywood-überbordend erklärt (Armeeausbildung, russisches Spaltmaterial etc.), es spielt aber auch keine Rolle. Denn – so erfahren wir später – Young stellt sich freiwillig und wird nun in einer geheimen Militäranlage festgehalten.
Dort treffen nach zwanzig Minuten Filmzeit, die man für die Story getrost hätte weglassen können, die FBI-Agentin Helen Brody (Carrie-Ann Moss) mit ihrem Team ein sowie der mysteriöse „H“ (Samuel L. Jackson), seines Zeichens supergeheimer Black-Operations-Agent der Regierung und vor allem: ein Folterspezialist.
Die Rollen sind klar verteilt: Brody spielt das gute Gewissen, sie pocht auf die Einhaltung der Regeln, wenn auch gar nicht mal mehr die der Justiz, die ohnehin schnell drangegeben sind. Carrie-Ann Moss statte diese Rechtschaffene mit der richtigen Brüchigkeit aus, so dass der Figur möglichst wenig von einem Klischee-Bürgerrechtler anhaftet, auch, wenn der Film nicht ganz auf dieses Genre-Gutmenschentum verzichten kann und vor allem nicht will.
Denn, und das ist das Beeindruckende an "Unthinkable", hier geht es weniger um einen Arthouse-Film, der mit künstlerischer Eloquenz und ästhetischer Tiefgründigkeit ein ethisches Gedankenspiel für Freunde des ernsthaften Kinos, im Gegenteil. Solche Zuschauer sind eher im regelrechten Nachteil, weil ungebildet: Das moralische Drama, verpackt im Thriller-Gewand funktioniert hier gerade, wenn man in den Standards des Genres mit seinen wohlfeilen Auflösungen und Figuren- bzw. Stereotypenensemble zu Hause ist.
Samuel L. Jackson ist hierbei die brillante Besetzung; man kann von Glück reden, dass er und nicht, wie zunächst wohl angedacht, Forrest Whitaker den Folterknecht spielt. Jackson gibt den selbstbewussten unbeugsamen Kerl mit unverblümter, sarkastischer Schnauze wie man ihn (und manch anderen Darsteller) in diesem Unterhaltungsbereich, ob in "Die Hard: With a Vengeance" oder "Snakes on a Plane", eben als super-coolen Heldentypus (als Gegenstück zu dem unglaubwürdig leidenden Jack Bauer aus „24“) kennengelernt und ins Problemlösungsinventar für harte Zeiten einsortiert hat. Entsprechend führt ihn der Film ein; auch als es richtig losgeht, geht Jacksons „H“ richtig los: Einem Laien-Folterer der Armee haut er aufs Auge, und als das Militär und ein ominöser Staatsbeamter das Okay für Young/Yussuf geben, hackt er dem festgeschnallten Bombenbauer ohne viel Federlesen erstmal einen Finger ab.
Wenn nicht schon am Anfang verzweifelt man bald angesichts der Figur „H“: Das rohe Vorgehen in (der) Action(-Filmen) nimmt man gerne hin. Hier aber ist ein Mensch ihm hilflos ausgeliefert, und statt sich im Zweikampf oder dergleichen mit ihm zu messen, malträtieren er und sein Gehilfe grausig sachlich und mit furchtbarer Routine im Standard Operating Procedure den bleichen, weichen, so verletzlichen Körper.
Hier wird "Unthinkable" wirklich ungemütlich. Die Folterszenarien, vor allem in der Unmittelbarkeit ihrer Darstellung, geraten nicht so extrem wie man es mittlerweile dank "Hostel", "Saw" und Co. (wieder) gewohnt ist, aber nah genug kommt ihnen "Unthinkable" mit den Methoden, die aufgefahren werden, um Young zu brechen: Skalpell, Elektroschocks, Bohrer.
Keiner, der noch ein bisschen bei Trost ist und ein Fünkchen Seele im Leib hat, wird von diesem Film unberührt bleiben. Und zwar nicht, weil es ihn ekeln sollte oder wenn er darum geht, eine eindeutige Antwort zu finden – also die Folter als unterhaltungs-„cool“, angemessen oder legitim zu finden oder aber auch sie, ins Reale übertragen, rundweg abzulehnen, sondern gerade, wenn es darum geht, sich an der Entscheidung Pro und Contra ein bisschen wund zu denken.
Andererseits ist das der Körper eines Terroristen, der zum Mittel der Qual, zum Objekt wird, um Millionen Menschenleben zu retten (die er, der Terrorist, wiederum zum Objekt zu machen bereit ist). Und die Figur des Young ist selbst ungewöhnlich ambivalent, keine visuelle Erscheinung des „Anderen“, Fremdländischen. Er ist selbst halb Märtyrer für seinen Glauben und dessen weltliche Ziele wie auch Büßer für ein – nicht ausformuliertes – Vergehen gegenüber seiner Familie. Der Film lässt in der Schwebe, was an und in diesem Erpresser aus Überzeugung Duldsamkeit und was Kalkül ist, wie viel Hass und wie viel Verzweiflung. In einer Szene freut sich „H“, dass Young gegenüber der gutherzigen Brody, die es mit Vernunft und Einfühlung versucht, in Tränen ausbricht. Doch schnell hat er sich gefangen. Kalt verkündet er, er sei nun bereit, seine Forderungen zu stellen.
Immer brüchiger werden die beiden Prinzipien, die hier „H“, dort Brody repräsentieren, und damit spiegelt sich das Thema und die moralische Reflexion über das richtige Handeln im Erzählen des Films selbst wider, der einen in seiner Entscheidung über die Bewertung alleine lässt und jede Konzeption von Gerechtigkeit verweigert. Brody liefert die einfachen Einstellungen und klugen Argumente, die man in den Filmen (so auch in "The Siege", USA 1998) schnell und gerne annimmt – und die "Unthinkable" nun vielleicht zum ersten Mal, zumindest aber mit einer verblüffenden Beharrlichkeit hinterfragt, ihnen Widerstand bietet. Leicht fassungslos beobachtet Brody, wie „H“ mit seiner serbischen Frau eine Folterpause einlegt, auf der Wiese picknickt und mit seinen Kindern, die beide über alles lieben, via Skype spricht. Allein mit ihr stellt Brody „H“s Gattin zur Rede – doch die weiß von dem Beruf ihres Mannes und kontert mit den Grausamkeiten, die sie und ihre Familie auf dem Balkan erlebt hat. Auf diesen abgeschotteten Frieden in einer Welt der Grausamkeit hat die familien- und beziehungslose FBI-Agentin nicht entgegen zu setzen. Und irgendwann, im Zorn, greift auch sie zum Skalpell.
Andererseits ist "Unthinkable" gerade nicht „24“, bei dem der Zeitdruck, mehr aber noch die Geschwindigkeit des Erzählens eines „Vor der Krise ist in der Krise ist nach der Krise“, den Zweck die Mittel heiligen, vor allem aber zum Erfolg führen lässt. Im Gegenteil: Brauchte Jack Bauer eilig die Information, langte es, damit zu drohen, mit dem Kugelschreiber das Auge auszustechen. In "Unthinkable" aber wird das Bewegungsprinzip von „24“ auf unangenehme Weise gestoppt, über die erste Hürde kommt man nicht hinaus. Das Spannungserzählen, dem auch ein echter Deus ex machina nicht zugestanden wird, verlangsamt sich dadurch und fokussiert den Blick des Zuschauers auf Schattenseiten und Helden-Fragwürdigkeiten, die die Welt der Unterhaltung in ihrem Spiel mit der Gewalt (nicht nur der terroristischen Bedrohung und nicht nur ideologisch) ansonsten vorenthält, unterschlägt oder bequem und sicher vorverarbeitet.
Entsprechend reibt sich „H“, der schnodderige Folterer, am Ende immer mehr an seinem passiven Gegner auf, so wie Realität, Idealismus und Fiktionalität aneinander kaputt. Einige Twists sind unplausibel und sichtlich nur auf den Effekt angelegt; Youngs Forderung, zunächst als Geheimnis angelegt, entpuppt sich als nachgerade verblüffend banale dschihadistisches Agenda-Ziel. Doch auch das ist nur ein weitere, wenn auch kleine, Drehung an der moralischen Schraube: Nichts, so „H“ bitter-ironisch, was sich nicht im Grunde auch jeder Amerikaner wünscht. Zugleich aber wird nicht einmal bei dem ethischen Dilemma, das der Film durchexerziert, ernsthaft über das Nachgeben nachgedacht oder daran, auch nur so zu tun als ob, um Young hinters Licht zu führen. Schließlich ist auch nicht (mehr) einsichtig, warum das letzte Mittel, mit dem Young zum Sprechen gebracht werden soll, so gänzlich „unthinkable“ ist, wie es denn auch die bislang der harten Linie so bereitwillig gefolgten Wächter der USA plötzlich suggerieren - bereits zuvor hat der Film kurz, problem- und folgenlos eine / die Grenze überschritten, der Klimaxsteigerung der Dramaturgie zuliebe.
Doch das alles verzeiht man "Unthinkable" bereitwillig, weil er vorführt, wie man abstrakte Fragen der Moral im Unterhaltungsformat spannend stellen kann und dafür gerade die Personalisierung und Emotionalisierung geeignete, sogar notwendige Mittel sind. Nicht zuletzt, weil Moral und Ethik, ihre Regeln und Entscheidungen schlicht nicht ohne den Einzelnen, den Menschen und seine Gefühle zu denken sind. In der Wirklichkeit mehr noch als im Spielfilm.
In diesem Sinne dekonstruiert "Unthinkable" das Genre des US-amerikanischen Terroristenthrillers nicht nur, er zerstört es mit seinen eigenen Mitteln. Er wagt es, die so richtige, bittere wie kostbare weil fundamentale Frage zu stellen, eine Frage, die leichtfertig verkürzt und billig beantwortet in unterhaltenden Filmfiktionen allgemein das Entscheidungshandeln dominiert(e) und in der Realität wiederum mit dem Verweis auf Notwendigkeiten viel zu oft zu eilfertig – und gerade im Sinn der Logik, gegen die man eigentlich antritt – abgetan wird.
Am Ende geht es in "Unthinkable" nämlich nicht darum, ob das Leben und die Würde von Wenigen (auch Unschuldigen) das Leben von Millionen anderer Menschen wert ist oder ob diese Entscheidung noch menschlich sei – sondern ob Menschlichkeit selbst nicht vielleicht Millionen Menschenleben wert ist.
Dass und wie "Unthinkable" dies beantwortet, ohne sich um die Konsequenzen zu drücken ehrt ihn und macht ihn vielleicht und zumindest für Hollywoods Kino doch ein bisschen „undenkbar“.
UNTHINKABLE ist in den USA auf DVD und Blu-Ray erschienen
R: Gregor Jordan, B: Peter Woodward
D: Samuel L. Jackson, Carrie-Anne Moss, Michael Sheen, Stephen Root, Lora Kojovic
Format: Dolby, NTSC
Sprache: Englisch (Untertitel: Englisch)
Bildverhältnis: 1.85:1
US-Jugendbewertung: R (Restricted)
Studio: Sony Pictures
Laufzeit: 97 Min.
Bernd Zywietz