Fast alle Politiker reden über “Bildung, Bildung, Bildung”, nicht nur im Wahlkampf. Das ist in der Tat ein ungemein wichtiges Thema – allerdings gibt es noch ein wichtigeres, das vorher zu lösen ist. Dieser Weltspiegel-Beitrag (ARD, 11. März) beschreibt es sehr gut:
Schauen Sie sich bitte diesen Filmbeitrag dazu an:
Der 24-Stunden-Kindergarten
Es ist viertel nach Vier morgens, und kalt ist es heute auch noch in Ohio. Der kleine Jonny darf angezogen schlafen. Großmutter Sue will ihm so den frühen Start etwas erleichtern. Es dauert dann auch gerade zwei Minuten, bis die beiden auf dem Weg sind.Jonnys Mutter ist weggezogen, seine unehelichen Stiefgeschwister stammen von verschiedenen Müttern. Zerrüttete Beziehungen sind hier, im industriellen “Rustbelt” keine Seltenheit.
Sue: „Jonny geht jetzt in den Kindergarten. Die zeigen Filme, er hat da eine Liege und kann wieder einschlafen. Nach einem Frühstück bringen sie ihn in die Schule. Und ich kann zur Arbeit fahren.“ – Jonny ist 7, aber der Kindergarten akzeptiert selbst Säuglinge von der 6. Woche an. Er ist 24 Stunden lang geöffnet, an sieben Tagen in der Woche. Jonny kommt fünf Tage pro Woche, er kennt das Ritual. Der Fernseher läuft fast immer.
„Jonny, Wirst Du gleich wieder einschlafen?“
„Ja.“
Jonny ist das zweite Kind heute.
Sue: „So früh aufstehen und zur Arbeit fahren, das mache ich schon lange. Ich arbeite seit 16 Jahren bei Burgerking.”
Sue verdient gerade sieben Euro pro Stunde, obwohl sie schon so lange für diese Kette arbeitet. Sie könnte mehr verdienen, als Ausbilderin, aber in wechselnden Schichten – das geht wegen Jonny nicht.
Frühschichten, Spätschichten, Nachtschichten: Vier von zehn US-Bürgern arbeiten schon nicht mehr zu den gewohnten Tageszeiten. Fastfood-Ketten servieren rund um die Uhr, Supermärkte, Drogerien, Callcenter, Kliniken – der Verfall der Industrie treibt immer mehr Amerikaner in die Billigjobs der Dienstleistungs-Gesellschaft. Auch die Tankstelle gegenüber dem Kindergarten arbeitet Twentyfour-Seven – vierundzwanzig Stunden, sieben Tage pro Woche.
Acht Uhr morgens. Jonny spielt noch etwas, bevor er in die Schule muss. Er sieht müde aus.
Briana ist die Leiterin des Kindergartens. Ihre Rund-um-die-Uhr-Idee war ein großer finanzieller Erfolg, sagt sie.
Briana: „Die Eltern sind immer begeistert, wenn sie “24 Stunden” hören. Wir haben hier Kinder, die kommen erst abends, weil der andere Kindergarten dann schließt.“
230 Euro kostet Jonnys Betreuung, aber den Großteil der Kosten übernimmt der Bezirk bei einkommensschwachen Familien. Und: Fast alle Eltern hier leben am Existenzminimum. Eine Kindergärtnerin fährt Jonny und einen zweiten Jungen zur Schule – das gehört mit zum Angebot.
Zwei Uhr mittags, Sues Tochter Angel übergibt Enkelin Zoey. Deren Vater, Angels Freund, lebt getrennt und arbeitet nachts. Er hat selten Zeit für das Kind. Angel fährt jetzt zur Spätschicht – auch zu einer Fastfood-Kette. Jonny kommt mit dem Bus aus der Schule. Sue muss ihn nicht abholen, die Haltestelle ist gleich gegenüber.
„Freedom, freedom.“
“Freiheit” schreit der Erstklässler, aber: Sue wird mit ihm kurz Schulaufgaben machen, bevor er dann wieder in den Kindergarten muss. Sue macht nachmittags eine Ausbildung. Alle Versuche, Jonnys Betreuung anders zu organisieren, waren gescheitert.
Sue: „Dieser Babysitter konnte Montags und Mittwochs, aber an keinem anderen Tag, und ein anderer auch nur zwei Tage, das war einfach hart.“
Und dann muss Jonny wieder los. Während Sues geschiedener Mann auf die kleine Zoey aufpasst, fährt ihr Vater Jonny zurück in den Kindergarten. Nur wenn alle pünktlich sind, schafft Sue es rechtzeitig in die Krankenschwestern-Schule. Sie träumt von einem Job mit normalen Arbeitszeiten.
Sechs Uhr abends, Briana hat Mitleid mit dem kleinen Jonny: Schicksale wie seines sind zwar die Grundlage ihres Geschäfts-Modells, aber sie kennt den Preis.
Briana: „Ja, vor 20 Jahren war das Arbeitsleben noch nicht so brutal. Man musste nicht mehrere Jobs gleichzeitig haben, vom einen zum anderen wechseln. Du kannst hier alle Eltern fragen. Würdet Ihr lieber zu normalen Zeiten arbeiten, Eure Kinder selbst füttern, ihnen vorlesen – dann würden die garantiert alle mit Ja antworten.“
Acht Uhr, Zeit ins Bett zu gehen. René, die Kindergärtnerin, hilft ihrer Tochter. Sie hat selbst drei Kinder hier, nach Hause geht es erst um eins, wenn Renés Nachtschicht zu Ende ist. Bis dahin sollen sie schlafen. Wieder ein Film, René sorgt für Ruhe. Vorher haben die Kinder zwei Stunden Schulaufgaben gemacht.
Briana: „Wir wollen ihnen trotz allem das Gefühl geben, ein Zuhause zu haben. Zähneputzen, Gesicht waschen, das sollte man als Kind doch erleben.“
Es sind vor allem alleinerziehende Mütter, die ihre Kinder hier erst im Laufe der Nacht abholen. Für diese Kellnerinnen, Verkäuferinnen, Krankenschwestern ist der Kindergarten ihre einzige Chance, mit zu machen in der atemlosen 24-Stunden-Gesellschaft, zumindest ein kleines Einkommen zu haben.
Sue holt Jonny um Zehn ab.
Sue: „Ich hoffe, ihn bald nicht mehr so früh wecken und so spät nach Hause bringen zu müssen.“
Für den dauermüden Jonny könnte es schon im Sommer soweit sein: Dann will Sue Examen machen und hofft, eine Stelle als Arzthelferin zu finden. Die werden hier gesucht.