Letzte Woche kam ich auf die Exilierung Richard David Prechts ins Nachtprogramm zu sprechen. Das neue Sendeformat, das das ZDF monatlich plant, verdient tatsächlich nähere Betrachtung. Es soll nicht das Format an sich besprochen werden, sondern der Inhalt. Wie damals angerissen, ging es in der ersten Ausgabe um Bildung und die falsche Auslegung der Gesellschaft von ihr.
Prechts Gast Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher, sprach davon, dass man Bildung nicht schaffen könne, sie könne wohl aber gelingen - dieses Wörtchen Gelingen sei der Schlüssel. Im Gelingen stecke alles, was eine Kultur freudigen Erfahrenwollens und der bewusst geförderten Neugier, eigentlich ausmache. Bildung schaffen ist der Weg humorloser Schulbürokraten, von eingerosteten Strukturen - Bildung gelingbar machen ist die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung an Wissensbildung, die durch die Hirnforschung unterstützt, nur durch Leidenschaft und die Gier auf neu Erfahrbares, wirklich werden könne. Neugier sei somit das Einfallstor in Bildung; jene Neugier, die wir bei Kindern oftmals bemängeln und die wir aberziehen wollen.
Hüther finde es schlimm, dass die Schule als einziger Ort der Bildung angesehen wird - Bildung ist allumfassender und überall, meint er. Die britische Bildungsaktivistin Fiona Millar sieht es ähnlich, wird aber konkreter: "Die Schule beeinflusst den Lernerfolg von Kindern höchstens zu 20%, wenn man den Studien glauben darf. Stadtgeographie und Wohnsituation, die Lerngruppe, der Bildungsstand der Eltern, die Unterstützung durch die Eltern" hält sie für wichtiger. Bildung bedeutet nicht das schematische Erlernen von Lehrplaninhalten, sondern meint auch Herzensbildung, wie Hüther es nannte. Was zu kurz kam in dieser Erkenntnis, wonach Schule nicht gleich Bildung ist, ist jenes, was Millar meint: Wer Bildungspolitik machen will, der muss Sozialpolitik machen, der muss die allgemeine soziale Situation von Schülern und Eltern verbessern. Nicht in der Schule reformieren, sondern im Sozialen. Das räumt mit bürgerlichen Prämissen auf, denn Bildung schafft so gesehen nicht die Chancen für einen sozialen Aufstieg, sondern die soziale Besserstellung ist förderlich für die Bildung. Eltern aus allen Gesellschaftsschichten, da sind sich Hüther und Millar aber einig, machen es sich sehr einfach, wenn sie ihren Bildungsauftrag den Schulen überschreiben - Bildung kann nach beider Ansicht auch sein, wenn man sich beim Abendessen über ein aktuelles oder historisches Thema unterhält; alleine das Dogma, dass Schule gleich Bildung sei, verniedlicht solche Tischgespräche zu nutzlosem Geschwätz und macht sie zu intellektuellem Zeitraub.
Precht kommt darauf zu sprechen, dass Wilhelm von Humboldt der Hirnforschung auf diesem Gebiet vorausging. Was Entwicklungspsychologen und Neurobiologen heute wüssten, habe Humboldt geahnt und umgesetzt. Die Köpfe der Kinder seien keine Trichter, die man einfach bloß abfüllen könne oder dürfe. Das könnte Humboldt auch bei John Locke gelesen haben, der es schon weit vor Humboldt ähnlich aufschrieb. Humboldt habe auch die Freude am Erlernbaren als wesentlichen Antrieb gelingender Bildung angesehen und angeregt, sei aber an seiner Zeit gescheitert, die sich somit, so Precht, kaum verändert habe in dieser Beziehung.
Man kann dem nur zustimmen. Dass heute einvernehmlich von Bildung gesprochen wird, wo eigentlich Wissensbildung und Charakterbildung gemeint sind, sagt vieles über die starren Strukturen innerhalb des Bildungssektors aus - dass es einen Begriff wie Bildungssektor überhaupt gibt, ist insofern schon verräterisch, denn Bildung ist kein abzugrenzendes Areal, sondern ein Lebensgefühl und insofern Lebensrealität, denn Erfahren, Erlernen und Erkennen sind tägliche Konstanten im Leben jedes Menschen. Kreativ könne man in einem solchen Sektor jedenfalls nicht werden und er bringe die Schüler gegen das Lernen auf, meint Precht weiter.
Dass sich die Schule in sechs Jahren hirngerechter anstellen wird, dass sie neue Wege betreten werde, die sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse stützten, dass überhaupt Bildung nicht mehr alleine schulische Veranstaltung sein wird, sondern ein gesamtgesellschaftliches Milieu der Wissensbegierigkeit entsteht, wie Hüther optimistisch träumt, dürfte als Hirnforschungsesoterik eingestuft werden. Aber er hat recht: Der heutige Apparat ist ineffizient - er kostet viel Geld, wobei auch da immer weniger dort ankommt, wo es sollte, nämlich bei den Schülern. Und er erstickt kindliche Begabungen. Er erhöht Zensuren zu Alleinstellungsmerkmalen der Schüler, obgleich auch andere Begabungen als schulisch gefragte für eine Gesellschaft wichtig sind - Hüther erklärt, es gäbe Kinder, die begabt sind im Zwischenmenschlichen, die Empathie leben können, was aber im Schulalltag nur peripher interessant ist, wenn es um die Klassenordnung geht beispielsweise. Als Lerninhalt kommt diese Begabung zur Nächstenliebe nicht vor, die charakterliche Schulung beschränkt sich auf Melde Dich, wenn Du was sagen willst! und Lass Deinen Mitschüler aussprechen!
So wohlwollend und richtig Prechts und Hüthers rhetorischer Einsatz für eine neue Mentalität der Wissensvermittlung und -bildung auch ist, so offenbart sich in ihm gleichzeitig der Fetisch der Mittelschicht. Als man den Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten bestritt, griff man auf die Leitmotive des Thatcherismus zurück. Eines davon war, dass es die Arbeiterschicht nicht mehr gäbe oder jedenfalls nicht mehr geben sollte - stattdessen sei die ganze Gesellschaft nun Mittelschicht und jeder der dazugehören wolle, der könne dorthin auch aufschließen. Der Klassenkampf war nun auch offiziell von sozialdemokratischer Seite beendet worden. Das Stichwort zum Beitritt in die Mittelschicht sei Bildung - gute Abschlüsse, der Griff nach Hochschulabschlüssen sei es, der die Gesellschaft klassenfrei mache, sie zu einer geschlossenen Mittelschicht erhebe. Phantasmagorien wie die Dienstleistungsgesellschaft rekrutierten sich aus diesem neuen Gesellschaftsbild. Alle, die nicht in diese vermeintlich für jeden offene Gesellschaft vordringen, sind entweder faul oder dumm oder beides. Nun haben Precht und Hüther nicht davon gesprochen, dass es von Natur aus Bildungsfaulheit gäbe, sie sprachen auch nicht von klassenbedingter Faulheit, ganz im Gegenteil, Precht hat sogar ausdrücklich jenen Genetik-Hokuspokus verlacht, der viele Eltern aus der Mittelschicht verzaubert, indem er ihnen weismachen will, dass ihre Intelligenz auf ihren Nachwuchs vererblich sei.
Einem anderen Hokuspokus ließen Precht und Hüther aber freie Bahn. Dem, der meint, Bildung sei der einzige Schlüssel zu einer wohlständigen Gesellschaft. Teilweise phantasierten beide von einer Gesellschaft, in der achtzig Prozent aller Schüler das Abitur machten - dies sei möglich, weil eine Beschulung auf Grundlagen der Erkenntnisse aus der Hirnforschung natürlicheres, unverkrampfteres Lernen ermögliche; denn es sei ein Lernen, das auf Grundlage der Erfahrbarmachung basiert. Daran ist überhaupt nicht zu zweifeln, womöglich kann man Lernprozesse tatsächlich sinnlicher gestalten. Hüther führte auf, dass nun sogar Menschen mit Down-Syndrom ihr Abitur gemacht hätten, obwohl man bis vor einigen Jahren dachte, dass man solche Menschen gar nicht beschulen könne. Die Hirnforschung hat dabei geholfen, die zerebralen Prozesse bei Menschen mit Down-Syndrom besser zu verstehen und hat folglich Lerntaktiken entwickelt, die gelingen können. Fraglich bleibt aber doch, ob eine Gesellschaft, in der achtzig Prozent Abitur hätten, so viel anders aussähe als die jetzige. Ein ordentlicher Schulabschluss kann (muss aber nicht!) tatsächlich für den Einzelnen Aufstiegschancen mit sich bringen - wenn aber so gut wie alle einen ordentlichen Schulabschluss mitbringen, wohin steigt man dann auf? Werden alle Sachbearbeiter, Fachangestellte und Beamte? Oder landen nicht zwangsläufig massenhaft Abiturienten in Call-Centern und bei Regaleinräum-Services? Und was ist an klassischen Berufen aus der Arbeiterklasse schlimm? Denn die Flucht aus dieser Arbeiterklasse, die nun so nicht mehr heißt, ist doch das Ziel. Die Bildung soll Fluchthelfer sein.
Es gibt Tätigkeiten die gemacht werden müssen. Auch in einer Abi-Gesellschaft. Man könnte Precht und Hüther nun unterstellen, sie würden sich unterschwellig dafür aussprechen, dass man dann Zuwanderung entbürokratisieren sollte, um die anfallende minderwertige Arbeit erledigt zu bekommen. Oder man könnte annehmen, dass sie bei achtzig Prozent Abiturienten, die restlichen zwanzig Prozent dafür vorsehen - quasi als Reminiszenz an das Schreckgespenst 20-zu-80-Gesellschaft, das in Zeiten, als man noch reger von der Dienstleistungsgesellschaft sprach, herumspukte. Könnte man unterstellen! Nur in diese Richtung ging die Diskussion nie und beide unterstrichen ja mehrmals, dass sie klassistische Ansätze nicht verfolgten. Und warum eine vernünftige Wissensbildung unbedingt mit verbesserten Abschlüssen korrelieren muss, obgleich es doch hieß, dass Schulen das Potenzial der Schüler einschläfere, obgleich man betonte, dass Schule nicht alleinige Bildungsinstanz sei, wollte Precht nicht erklären.
Sonderbar war letztlich auch, dass Precht attestierte, nie vorher hätten es Schüler einfacher gehabt, in Berufe zu kommen. Das ist weltfremd. Und ob es mehr in Frage kommende Berufe in einer Gesellschaft mit achtzig Prozent Abiturienten gäbe, darf stark bezweifelt werden. Das soll kein Plädoyer sein, nicht jedem den Weg zu einem höherwertigen Schulabschluss zu ermöglichen. Aber wenn alle Abitur haben, dann ist es so, als habe es keiner - die logische Schlußfolgerung wäre dann aber, Zensuren abzuschaffen und Reifeprüfungen anders, lebensbezogener zu gestalten. Hüther meinte, dass viele Schulabgänger heute frustriert ins Berufsleben gingen, weil sie im Bildungsapparat erstickt wurden - auch Alkoholismus ist eine schichtübergreifende Folge hiervon. Precht verlagert die Unzfriedenheit mit seiner Achtzig-Prozent-Vision nur; solange noch die Hoffnung besteht, der angehende Abiturient erhielte später, nach dem Studium, einen Arbeitsplatz, der relativ anspruchsvoll ist, bleibt Zuversicht - aber zwangsläufig landen auch welche in Berufen, die sie nicht beglücken und erfüllen werden, oder sie werden arbeitslos, womit dieselbe Depression einträte, die nun beklagt wird.
Die Fetischierung der Bildung, die man als Aufstiegschance sieht, kann nur in begrenzten Rahmen so gesehen werden. Auch wenn die Abiturienten-Gesellschaft unrealistisch ist, so muss doch unbedingt ein positiverer Bezug zur Wissensbildung umgesetzt werden - bewusst sei gesagt zur Wissensbildung, nicht zur Bildung. Bildungsgipfel, wie sie dieses Land schon hatte, sind nur strukturierte Lehrplanabgleiche - nötig ist es, eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung zur Wissensvermittlung und -aneignung zu schaffen, Freude an der Wissbegier zu fördern. Ob das dann mehr Abiture ermöglicht oder nicht, ist dabei irrelevant - Hauptschüler, die in der Hauptschule umfassend beschult wurden, denen man eine ansehnliche Allgemeinbildung vermittelte, brauchen zumindest kein Abitur dafür, um selbstbestimmt und selbstbewusst ins Leben zu treten. Denn Wissen ist vom Abschluss unberührt - die Macht des Wissens greift auch dann, wenn der Abschluss nicht von hohen Weihen ist.
Eine solche Aufbruchsstimmung zu schüren, schmiss vieles auf den Prüfstand. Auch müssten die Medienwächter wieder weniger zurückhaltend sein, dürften nicht wortlos abnicken, was an Stumpfsinn über den Äther läuft. Da finge es an, ein neues Bewusstsein für Wissen zu vermitteln. Und Dialoge wie jener zwischen Precht und Hüther gehörten nicht in die Nacht, sondern - trotz aller Kritik - müssten Abendsendung sein - der Markt, auf dem sich das Fernsehen immer dann beruft, wenn es seine eigene Dumpfheit seinem Publikum in die Schuhe schieben will, wenn es sagt, die Zuschauer wollten es so, darf nicht als Alibi herhalten.
Precht argumentiert aus dem Postulat der Mittelschicht heraus. Hüther, auch Mitglied des Zukunftsrats der Bundesregierung, nickt es ab. Gleichwohl ist das Format Precht lehrreich und relativ frei, von einigen Floskeln abgesehen, vom Mainstreamsprech, der andernorts jeden Erkenntnisgewinn untergräbt. Insofern zeigt sich, dass Wissenvermittlung, und Precht ist ja nichts anderes, als über Fernsehen vermitteltes Wissen, immer auch ideologisch gefärbt ist.
Prechts Gast Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher, sprach davon, dass man Bildung nicht schaffen könne, sie könne wohl aber gelingen - dieses Wörtchen Gelingen sei der Schlüssel. Im Gelingen stecke alles, was eine Kultur freudigen Erfahrenwollens und der bewusst geförderten Neugier, eigentlich ausmache. Bildung schaffen ist der Weg humorloser Schulbürokraten, von eingerosteten Strukturen - Bildung gelingbar machen ist die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung an Wissensbildung, die durch die Hirnforschung unterstützt, nur durch Leidenschaft und die Gier auf neu Erfahrbares, wirklich werden könne. Neugier sei somit das Einfallstor in Bildung; jene Neugier, die wir bei Kindern oftmals bemängeln und die wir aberziehen wollen.
Hüther finde es schlimm, dass die Schule als einziger Ort der Bildung angesehen wird - Bildung ist allumfassender und überall, meint er. Die britische Bildungsaktivistin Fiona Millar sieht es ähnlich, wird aber konkreter: "Die Schule beeinflusst den Lernerfolg von Kindern höchstens zu 20%, wenn man den Studien glauben darf. Stadtgeographie und Wohnsituation, die Lerngruppe, der Bildungsstand der Eltern, die Unterstützung durch die Eltern" hält sie für wichtiger. Bildung bedeutet nicht das schematische Erlernen von Lehrplaninhalten, sondern meint auch Herzensbildung, wie Hüther es nannte. Was zu kurz kam in dieser Erkenntnis, wonach Schule nicht gleich Bildung ist, ist jenes, was Millar meint: Wer Bildungspolitik machen will, der muss Sozialpolitik machen, der muss die allgemeine soziale Situation von Schülern und Eltern verbessern. Nicht in der Schule reformieren, sondern im Sozialen. Das räumt mit bürgerlichen Prämissen auf, denn Bildung schafft so gesehen nicht die Chancen für einen sozialen Aufstieg, sondern die soziale Besserstellung ist förderlich für die Bildung. Eltern aus allen Gesellschaftsschichten, da sind sich Hüther und Millar aber einig, machen es sich sehr einfach, wenn sie ihren Bildungsauftrag den Schulen überschreiben - Bildung kann nach beider Ansicht auch sein, wenn man sich beim Abendessen über ein aktuelles oder historisches Thema unterhält; alleine das Dogma, dass Schule gleich Bildung sei, verniedlicht solche Tischgespräche zu nutzlosem Geschwätz und macht sie zu intellektuellem Zeitraub.
Precht kommt darauf zu sprechen, dass Wilhelm von Humboldt der Hirnforschung auf diesem Gebiet vorausging. Was Entwicklungspsychologen und Neurobiologen heute wüssten, habe Humboldt geahnt und umgesetzt. Die Köpfe der Kinder seien keine Trichter, die man einfach bloß abfüllen könne oder dürfe. Das könnte Humboldt auch bei John Locke gelesen haben, der es schon weit vor Humboldt ähnlich aufschrieb. Humboldt habe auch die Freude am Erlernbaren als wesentlichen Antrieb gelingender Bildung angesehen und angeregt, sei aber an seiner Zeit gescheitert, die sich somit, so Precht, kaum verändert habe in dieser Beziehung.
Man kann dem nur zustimmen. Dass heute einvernehmlich von Bildung gesprochen wird, wo eigentlich Wissensbildung und Charakterbildung gemeint sind, sagt vieles über die starren Strukturen innerhalb des Bildungssektors aus - dass es einen Begriff wie Bildungssektor überhaupt gibt, ist insofern schon verräterisch, denn Bildung ist kein abzugrenzendes Areal, sondern ein Lebensgefühl und insofern Lebensrealität, denn Erfahren, Erlernen und Erkennen sind tägliche Konstanten im Leben jedes Menschen. Kreativ könne man in einem solchen Sektor jedenfalls nicht werden und er bringe die Schüler gegen das Lernen auf, meint Precht weiter.
Dass sich die Schule in sechs Jahren hirngerechter anstellen wird, dass sie neue Wege betreten werde, die sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse stützten, dass überhaupt Bildung nicht mehr alleine schulische Veranstaltung sein wird, sondern ein gesamtgesellschaftliches Milieu der Wissensbegierigkeit entsteht, wie Hüther optimistisch träumt, dürfte als Hirnforschungsesoterik eingestuft werden. Aber er hat recht: Der heutige Apparat ist ineffizient - er kostet viel Geld, wobei auch da immer weniger dort ankommt, wo es sollte, nämlich bei den Schülern. Und er erstickt kindliche Begabungen. Er erhöht Zensuren zu Alleinstellungsmerkmalen der Schüler, obgleich auch andere Begabungen als schulisch gefragte für eine Gesellschaft wichtig sind - Hüther erklärt, es gäbe Kinder, die begabt sind im Zwischenmenschlichen, die Empathie leben können, was aber im Schulalltag nur peripher interessant ist, wenn es um die Klassenordnung geht beispielsweise. Als Lerninhalt kommt diese Begabung zur Nächstenliebe nicht vor, die charakterliche Schulung beschränkt sich auf Melde Dich, wenn Du was sagen willst! und Lass Deinen Mitschüler aussprechen!
So wohlwollend und richtig Prechts und Hüthers rhetorischer Einsatz für eine neue Mentalität der Wissensvermittlung und -bildung auch ist, so offenbart sich in ihm gleichzeitig der Fetisch der Mittelschicht. Als man den Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten bestritt, griff man auf die Leitmotive des Thatcherismus zurück. Eines davon war, dass es die Arbeiterschicht nicht mehr gäbe oder jedenfalls nicht mehr geben sollte - stattdessen sei die ganze Gesellschaft nun Mittelschicht und jeder der dazugehören wolle, der könne dorthin auch aufschließen. Der Klassenkampf war nun auch offiziell von sozialdemokratischer Seite beendet worden. Das Stichwort zum Beitritt in die Mittelschicht sei Bildung - gute Abschlüsse, der Griff nach Hochschulabschlüssen sei es, der die Gesellschaft klassenfrei mache, sie zu einer geschlossenen Mittelschicht erhebe. Phantasmagorien wie die Dienstleistungsgesellschaft rekrutierten sich aus diesem neuen Gesellschaftsbild. Alle, die nicht in diese vermeintlich für jeden offene Gesellschaft vordringen, sind entweder faul oder dumm oder beides. Nun haben Precht und Hüther nicht davon gesprochen, dass es von Natur aus Bildungsfaulheit gäbe, sie sprachen auch nicht von klassenbedingter Faulheit, ganz im Gegenteil, Precht hat sogar ausdrücklich jenen Genetik-Hokuspokus verlacht, der viele Eltern aus der Mittelschicht verzaubert, indem er ihnen weismachen will, dass ihre Intelligenz auf ihren Nachwuchs vererblich sei.
Einem anderen Hokuspokus ließen Precht und Hüther aber freie Bahn. Dem, der meint, Bildung sei der einzige Schlüssel zu einer wohlständigen Gesellschaft. Teilweise phantasierten beide von einer Gesellschaft, in der achtzig Prozent aller Schüler das Abitur machten - dies sei möglich, weil eine Beschulung auf Grundlagen der Erkenntnisse aus der Hirnforschung natürlicheres, unverkrampfteres Lernen ermögliche; denn es sei ein Lernen, das auf Grundlage der Erfahrbarmachung basiert. Daran ist überhaupt nicht zu zweifeln, womöglich kann man Lernprozesse tatsächlich sinnlicher gestalten. Hüther führte auf, dass nun sogar Menschen mit Down-Syndrom ihr Abitur gemacht hätten, obwohl man bis vor einigen Jahren dachte, dass man solche Menschen gar nicht beschulen könne. Die Hirnforschung hat dabei geholfen, die zerebralen Prozesse bei Menschen mit Down-Syndrom besser zu verstehen und hat folglich Lerntaktiken entwickelt, die gelingen können. Fraglich bleibt aber doch, ob eine Gesellschaft, in der achtzig Prozent Abitur hätten, so viel anders aussähe als die jetzige. Ein ordentlicher Schulabschluss kann (muss aber nicht!) tatsächlich für den Einzelnen Aufstiegschancen mit sich bringen - wenn aber so gut wie alle einen ordentlichen Schulabschluss mitbringen, wohin steigt man dann auf? Werden alle Sachbearbeiter, Fachangestellte und Beamte? Oder landen nicht zwangsläufig massenhaft Abiturienten in Call-Centern und bei Regaleinräum-Services? Und was ist an klassischen Berufen aus der Arbeiterklasse schlimm? Denn die Flucht aus dieser Arbeiterklasse, die nun so nicht mehr heißt, ist doch das Ziel. Die Bildung soll Fluchthelfer sein.
Es gibt Tätigkeiten die gemacht werden müssen. Auch in einer Abi-Gesellschaft. Man könnte Precht und Hüther nun unterstellen, sie würden sich unterschwellig dafür aussprechen, dass man dann Zuwanderung entbürokratisieren sollte, um die anfallende minderwertige Arbeit erledigt zu bekommen. Oder man könnte annehmen, dass sie bei achtzig Prozent Abiturienten, die restlichen zwanzig Prozent dafür vorsehen - quasi als Reminiszenz an das Schreckgespenst 20-zu-80-Gesellschaft, das in Zeiten, als man noch reger von der Dienstleistungsgesellschaft sprach, herumspukte. Könnte man unterstellen! Nur in diese Richtung ging die Diskussion nie und beide unterstrichen ja mehrmals, dass sie klassistische Ansätze nicht verfolgten. Und warum eine vernünftige Wissensbildung unbedingt mit verbesserten Abschlüssen korrelieren muss, obgleich es doch hieß, dass Schulen das Potenzial der Schüler einschläfere, obgleich man betonte, dass Schule nicht alleinige Bildungsinstanz sei, wollte Precht nicht erklären.
Sonderbar war letztlich auch, dass Precht attestierte, nie vorher hätten es Schüler einfacher gehabt, in Berufe zu kommen. Das ist weltfremd. Und ob es mehr in Frage kommende Berufe in einer Gesellschaft mit achtzig Prozent Abiturienten gäbe, darf stark bezweifelt werden. Das soll kein Plädoyer sein, nicht jedem den Weg zu einem höherwertigen Schulabschluss zu ermöglichen. Aber wenn alle Abitur haben, dann ist es so, als habe es keiner - die logische Schlußfolgerung wäre dann aber, Zensuren abzuschaffen und Reifeprüfungen anders, lebensbezogener zu gestalten. Hüther meinte, dass viele Schulabgänger heute frustriert ins Berufsleben gingen, weil sie im Bildungsapparat erstickt wurden - auch Alkoholismus ist eine schichtübergreifende Folge hiervon. Precht verlagert die Unzfriedenheit mit seiner Achtzig-Prozent-Vision nur; solange noch die Hoffnung besteht, der angehende Abiturient erhielte später, nach dem Studium, einen Arbeitsplatz, der relativ anspruchsvoll ist, bleibt Zuversicht - aber zwangsläufig landen auch welche in Berufen, die sie nicht beglücken und erfüllen werden, oder sie werden arbeitslos, womit dieselbe Depression einträte, die nun beklagt wird.
Die Fetischierung der Bildung, die man als Aufstiegschance sieht, kann nur in begrenzten Rahmen so gesehen werden. Auch wenn die Abiturienten-Gesellschaft unrealistisch ist, so muss doch unbedingt ein positiverer Bezug zur Wissensbildung umgesetzt werden - bewusst sei gesagt zur Wissensbildung, nicht zur Bildung. Bildungsgipfel, wie sie dieses Land schon hatte, sind nur strukturierte Lehrplanabgleiche - nötig ist es, eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung zur Wissensvermittlung und -aneignung zu schaffen, Freude an der Wissbegier zu fördern. Ob das dann mehr Abiture ermöglicht oder nicht, ist dabei irrelevant - Hauptschüler, die in der Hauptschule umfassend beschult wurden, denen man eine ansehnliche Allgemeinbildung vermittelte, brauchen zumindest kein Abitur dafür, um selbstbestimmt und selbstbewusst ins Leben zu treten. Denn Wissen ist vom Abschluss unberührt - die Macht des Wissens greift auch dann, wenn der Abschluss nicht von hohen Weihen ist.
Eine solche Aufbruchsstimmung zu schüren, schmiss vieles auf den Prüfstand. Auch müssten die Medienwächter wieder weniger zurückhaltend sein, dürften nicht wortlos abnicken, was an Stumpfsinn über den Äther läuft. Da finge es an, ein neues Bewusstsein für Wissen zu vermitteln. Und Dialoge wie jener zwischen Precht und Hüther gehörten nicht in die Nacht, sondern - trotz aller Kritik - müssten Abendsendung sein - der Markt, auf dem sich das Fernsehen immer dann beruft, wenn es seine eigene Dumpfheit seinem Publikum in die Schuhe schieben will, wenn es sagt, die Zuschauer wollten es so, darf nicht als Alibi herhalten.
Precht argumentiert aus dem Postulat der Mittelschicht heraus. Hüther, auch Mitglied des Zukunftsrats der Bundesregierung, nickt es ab. Gleichwohl ist das Format Precht lehrreich und relativ frei, von einigen Floskeln abgesehen, vom Mainstreamsprech, der andernorts jeden Erkenntnisgewinn untergräbt. Insofern zeigt sich, dass Wissenvermittlung, und Precht ist ja nichts anderes, als über Fernsehen vermitteltes Wissen, immer auch ideologisch gefärbt ist.