Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können.
Kommenden Sonntag können sich knapp 400.000 wahlberechtige EU-Bürger wieder in Demokratie üben. Sie haben die Wahl zwischen 25 Parteien und ihren monströsen Programmen. Die Repräsentanten der größten Parteien treten vorab in den Massenmedien auf, die Wahlprogramme sind frei verfügbar. Die schwierige Aufgabe ist nun ehrliche von gelogenen Informationen zu trennen, damit aus Schwarmdummheit Schwarmintelligenz wird.
Werden die EU-Bürger es schaffen, gemeinsam die optimale Lösung zu finden? Wie könnte eine Regierung aussehen, mit der alle EU-Bürger zufrieden wären?
Wenn neue Strategien gesucht werden, schauen die Menschen oft in die Natur. Schließlich hatte die Millionen Jahre Zeit und war hochmotiviert im Wettrennen um die besten Anpassungen, die optimale Lösung für ihre Probleme zu finden.
Staatenbildende Insekten wie die westliche Honigbiene sind mit einem sehr spannenden Problem konfrontiert: Jeden Sommer, wenn es im Stock zu voll wird, teilt sich der Staat in zwei Hälften, die eine bleibt mit einer neuen Königin im Stock, während die andere Hälfte mit der alten Königin in eine neue Behausung zieht. Man stelle sich vor: 10.000 Individuen verlassen plötzlich den alten Stock, sammeln sich z.B. in einem Baum und finden innerhalb von wenigen Stunden bis Tagen den optimalen neuen Wohnort, an den sie gemeinsam fliegen.
Dazu verwenden sie keine Repräsentanten, Wahlplakate, Wahlwerbespots, Immobilienmakler, Stimmzettel oder liquid feedback. Obwohl… letzteres kommt dem Ganzen immerhin schon ein wenig nah. Wie entscheiden diese Mini-Borg mit ihren winzigen Gehirnen, welches der optimale Wohnort ist und auf welche geheimnisvolle Weise diskutieren sie das aus?
Thomas D. Seeley ist seit über 40 Jahren fasziniert von genau dieser Frage und hat sein Lebenswerk nun in einem Buch zusammengefasst. Es richtet sich an alle Menschen, die sich für spannende Fragen aus der Natur und die wissenschaftliche Ergründung von natürlichen Phänomenen begeistern können. In jedem Kapitel stellt der Autor eine Frage an seine Forschungsobjekte (“Wer sucht nach neuen Nistplätzen?”), formuliert Hypothesen (“die ehemaligen Nektarsammlerinnen”), erläutert die wissenschaftlichen Methoden, mit denen er seine Hypothesen bestätigen oder ablehnen kann und fügt am Ende Puzzlestück für Puzzlestück, ein ganzes Bild zusammen. Das Bild von der sogenannten Schwarmintelligenz, denn die Schwärme einigen sich nie auf einen Kompromiss, sie wählen immer die beste Option.
BILD Seeleys Leidenschaft begann als er als junger Biologiestudent die Arbeiten der deutschen Zoologen Martin Lindauer (1918–2008) und dessen Doktorvater und “Bienenflüsterer” Karl von Frisch (1886–1982) studierte. Von Frisch fand bereits in den 1930er Jahren heraus, dass sich Bienen mit einer Art Tanz über Nektar- Pollen- und Wasserquellen gegenseitig informieren. Dazu wackeln sie mit dem Hinterleib und laufen in Form einer Acht, deren Mittelachse zur Senkrechten den Winkel der Futterquelle zur Sonne repräsentiert (siehe Abbildung). Schwänzeln sie also genau senkrecht nach oben auf der Wabe, wissen ihre Schwestern, dass sie genau in Richtung Sonnenazimut fliegen müssen. Die Entfernung ist in der Anzahl der Zick-Zack-Bewegungen kodiert.
Schwänzeltanz – Abbildungsquelle:
Imkerverein IV Vorspessart
Von Frischs Student Lindauer beobachtete nun, dass einige tanzende Bienen auf einer Schwarmtraube irgendwie dreckig aussahen: eine mit rotem Ziegelstaub, eine rußig schwarz und eine mit Mehl eingestäubt. Handelt es sich um Kundschafterinnen, die Werbung für mögliche neue Behausungen machen? Tatsächlich: Etwa 5% der Schwarmbienen erkunden die Umgebung und bewerben ihre Funde mit dem gleichen Schwänzeltanz, mit dem sie zuvor Futterstellen angegeben haben.
Im Unterschied zur EU-Wahl geht es den einzelnen Bienen nicht darum zu gewinnen, sondern den optimalen Wohnort zu identifizieren, da sie alle ein gemeinsames Ziel und keine entgegengesetzte Interessen haben. Ohne zu vergleichen können sie Dank ihres genetischen Erbes die Qualität einer neuen Immobilie in ihrem Tanz kodieren und damit andere Bienen auf sich aufmerksam machen. Diese begutachten die betanzte Stelle und bewerben sie je nach Qualität selber. Mit diesem simplen Verstärkungsprogramm kristallisiert sich schon nach wenigen Stunden eine Gewinnerbehausung heraus: alle Kundschafterbienen tanzen in die gleiche Richtung. Auf ein Signal hin erhebt sich der Schwarm und fliegt zu seiner neuen Heimat.
Im Gegensatz zur Schwarmdummheit verlassen sich die Bienen bei ihrer Wahl nicht auf den, der am lautesten brüllt, sondern überzeugen sich selbst von der Qualität des Unterschlupfes und bewerben ihn ehrlich ohne sich wichtig zu machen, die Königin hat übrigens nicht mitzuentscheiden. Auch wenn menschliche Demokratien ganz anders funktionieren als die der Bienen, manches können wir also von den kleinen Krabbeltieren lernen: Das gemeinsame Interesse betonen, der ehrliche und offene Informationsaustausch und die Gleichberechtigung bei der Wahl. Lasst uns ein bisschen Demokratie tanzen. Thomas D. Seeleys Buch macht Lust darauf.
Adriana Schatton
Thomas D. Seeley, Bienendemokratie – Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können, S. Fischer Verlag, 2014[Erstveröffentlichung hpd]