Eine Firnlinie und ein Felsgrat. Vereint zu einem der schönsten Anstiege in den Alpen.
Es sind die Schritte, von denen unzählige Bergsteiger auf der ganzen Welt träumen, die ich gerade gehe. Viele sind sie in den letzten Tagen vor mir gegangen und haben perfekte Stufen auf der geschwungenen Firnschneide hinterlassen. In sie setze ich jetzt meine Steigeisen. Stapf, stapf, stapf. Nicht schnell, nicht langsam, aber mit großer Leichtigkeit und Freude steige ich diese Traumlinie höher. Ich kann hiermit bestätigen: Ja der Biancograt auf den Piz Bernina ist so wunderschön, wie gerne behauptet wird. Warum? Lass es mich dir zeigen!
Piz Bernina über Biancograt: zuerst die nüchternen Fakten
- Unsere Route: Pontresina > Val Roseg > Tschiervahütte (Übernachtung) > Biancograt > Piz Bernina > Spallagrat > Rifugio Marco e Rosa > Bellavista Terrasse > Fortezza-Grat > Diavolezza (essen, essen, schlafen)
- Ausgangspunkt: Bahnhof Pontresina
- Stützpunkt: Tschiervahütte
- Zustieg zur Tschiervahütte: 12 km, 800 Höhenmeter, 2,5 Stunden
- Aufstieg (Gipfeltag): 2.200 Höhenmeter
- Abstieg (Gipfeltag): 1.800 Höhenmeter
- Länge (Gipfeltag): 15 Kilometer
- Dauer (Gipfeltag): 13 Stunden
- Technik: bis 45° in Schnee/Eis, klettern bis III UIAA in teilweise heiklem, stark exponiertem Gelände, Alpinerfahrung notwendig (mehrmaliges Abseilen, selbstständiges Absichern und sicheres Gehen mit Steigeisen)
- Ausrüstung: Hochtourenausrüstung, Seil, Helm, 5 Expressschlingen, Bandschlingen (am Felsgrat kann man gut über Köpfel sichern), Tuber oder ähnliches zum Abseilen. Tipp: Falls ihr zu 4 unterwegs seid, verwendet 3 30m-Einfachseile – diese könnt ihr für die Abseiler zusammenknoten.
Biancograt Piz Bernina
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Das Auto kann man für einige Franken am Langzeitparkplatz am Bahnhof abstellen und von dort aus direkt ins Val Roseg aufbrechen. Dass man vom Bahnhof aus auch mit der Pferdekutsche ins Tal hineinfahren kann, merken wir erst, als uns das erste Gespann mit einer Fuhr grinsender Bernina-Aspiranten überholt. Wir genießen die Landschaft also länger. Zweieinhalb Stunden, um genau zu sein. So lange brauchen wir für die 12 Kilometer und 800 Höhenmeter bis zur Tschiervahütte.
Durchs Val Roseg auf die Tschiervahütte
Der Zustieg verläuft zuerst über einen breiten Schotterweg entlang des Baches Ova da Roseg. Die Sedimente des Gletscherwassers färben den Bach milchig weiß. Tief hinten im Tal strahlen die Gletscher der Bernina-Gruppe. Wir wandern durch eine Schweizer Traumlandschaft. Sechs Kilometer schlendern wir flach ins Val Roseg hinein. Kurz bevor wir das Hotel Roseg erreichen, zweigt links der Steig zur Tschiervahütte ab.
Gemächlich beginnt der Weg nun anzusteigen. Die Bergkolosse vor uns erscheinen mit jedem Schritt monumentaler. Ganz langsam realisieren wir die Dimensionen des Tschierva Gletschers und der Seracs, die seine Zunge wild zerklüftet erscheinen lassen.
Nur der Biancograt macht sich noch rar. Ihn sehen wir erst in voller Länge, als wir auf die Moräne des Tschierva Gletschers treten. Wie die Zuckerglasur auf einer Nussschnecke schmiegt sich die Firnlinie an die dunkle Felswand. Bei diesem Anblick wir sofort klar, warum der Biancograt auf den Piz Bernina zu den schönsten Gratanstiegen in den Westalpen gehört. Seine Form und sein Verlauf sind einfach einzigartig.
Über die Moräne erreichen wir wenig später die Tschiervahütte, die einst direkt am Gletscherrand gelegen haben muss. Der Rückgang der Gletscher ist wie an vielen anderen Orten in den Alpen hier ebenfalls deutlich bemerkbar.
Bis zum Sonnenuntergang sitzen wir auf der Terrasse der Hütte und können die Augen nicht von unserem Ziel lassen. Das Service auf der Hütte ist großartig, das Bier schmeckt auch in der Schweiz und eine bessere Grundlage als eine Gemüsesuppe und Spaghetti Bolognese hätten wir uns für die morgige Tour nicht wünschen können.
Siebenschläfer, Glühwürmchen, Katzenaugen
Um 3 Uhr gibt es Frühstück. Das heißt, unser Wecker läutet um 02:59. Vor einer Tour wie der über den Biancograt auf den Piz Bernina ist jede Minute Schlaf wertvoll. Während die anderen vom Matratzenlager in den Frühstücksraum stürmen, packen wir gemütlich unsere Rucksäcke. Wir werden die Tschiervahütte als letzte Partie verlassen, das steht fest.
Als sich der Rest der Biancograt-Anwärter bereits die Bergschuhe schnürt, gießen wir uns die erste Tasse Tee ein und verstauen Müsli und Brotscheiben mit viel Butter als Proviant in unseren Mägen. Um 4:30 treten wir in die schon nicht mehr ganz so dunkle Nacht.
Die Lichtkegel unserer Stirnlampen reichen aus, um uns halbwegs im Gelände zu orientieren. Der Steig ist meist gut erkennbar und zusätzlich weisen uns Katzenaugen den Weg. Immer wieder leuchten die kleinen Reflektoren im Strahl unserer Stirnlampen auf. Sie versichern uns, dass wir am richtigen Zustieg zum Biancograt sind.
Als erstes müssen wir die Fuorcla Prievlusa auf 3.430 Metern erreichen. Diese Scharte ist die Eintrittspforte zum Biancograt und markiert den Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten der Route auf den Piz Bernina.
Jeder tief in Gedanken versunken steigen wir hoch über dem Tschierva Gletscher ins Tal hinein Richtung Fuorcla Prievlusa. Der Weg führt uns über Geröll und Steinplatten, einmal müssen wir einen kleinen Wasserfall queren und vereinzelt sind schwierigere Steilstufen mit Eisenketten und Stiften versichert.
Dieser erste Teil der Strecke ist flach. Nur langsam gewinnen wir an Höhe. Und bemerken zu spät, dass wir längst vom Weg abgekommen sind. Wie vier verirrte Glühwürmchen stehen wir plötzlich in steilem, brüchigem Gelände.
Fuorcla Prievlusa: Endlich am Einstieg zum Biancograt
Wir sind viel zu hoch, erkennen wir frustriert. Die Lust, endlich an Höhe zu gewinnen hat uns in die Irre geleitet. Wir müssen ganz hinab zum Gletscher. Zwanzig Minuten kostet uns der Umweg. Vertretbar, sind wir uns einig. Der Tag ist noch lang. Genau genommen fängt er gerade erst an.
Der Biancograt leuchtet in einem reinen Weiß noch weit über uns. Wir löschen das Licht unserer Stirnlampe und folgen dem Gletscher sehr flach mal über Steinplatten, mal über Schneefelder an den Fuß der Fuorcla Prievlusa.
Hier müssen wir uns entscheiden. Wollen wir geradeaus über den Klettersteig in die Scharte aufsteigen, oder rechts den Weg über einen steilen Firnhang nehmen? Nach kurzer Beratung entscheiden wir uns für das Firnfeld und legen die Steigeisen an. Es ist Anfang Juli und wir können durchgehend im Schnee zur Scharte stapfen.
Später im Jahr, wenn kein durchgehendes Schneeband mehr vorhanden ist, sollte man unbedingt den Anstieg über den Klettersteig wählen. Am Rande des Firnfeldes bröckelt das Gestein ohne den verfestigenden Schnee nämlich unangenehm ab.
Das Schneeband ist unsere Verbindungslinie zur Fuorcla Prievlusa. Und die Verbindung vom Schatten ins Licht. Als wir auf der Scharte ankommen, begrüßt uns die Morgensonne. Was für ein Moment! Auf der anderen Seite bricht der Grat tief zum Morteratsch Gletscher ab. Wild zerklüftet liegt er im Grau des Tagesanbruchs, während wir uns heroben von den ersten Strahlen wärmen lassen.
Biancograt & Piz Bernina: Auf Fels folgt Schnee, folgt Fels
Nach der Scharte beginnt endlich die Gratgaudi. Der Fels ist trocken und frei von Schnee und Eis. Wir legen deshalb die Steigeisen wieder ab und beginnen zu klettern. Der Grat beginnt luftig und teilweise ausgesetzt. Dafür halten sich die Schwierigkeiten in Grenzen und der Fels bombenfest.
Wir sind überwältigt, wie gut es sich anfühlt, hier zu klettern. Etwa 100 Klettermeter liegen zwischen uns und dem Beginn des eigentlichen Firngrates. Die Kletterstellen im Fels übersteigen hier nie den III. Schwierigkeitsgrat, weshalb wir noch auf das Seil verzichten. Wir fühlen uns sicher und steigen unbeschwert und immer noch einsam höher. Kein Stau, kein Stimmengewirr. Nur wir und unsere Hände und Schuhsohlen auf festem Fels.
Diese erste Passage am Fels ist ganz gut mit Bohrhaken abgesichert. Auch einige Stände sind gebohrt. Sie helfen uns bei der Wegfindung. Obwohl – wirklich verirren kann man sich hier nur mit ganz wenig Hausverstand. Wer hier bereits Probleme hat, sich sicher zu bewegen, sollte überlegen, ob der Weiterweg sinnvoll ist. Denn der Felsgrat zwischen Piz Bianco und Piz Bernina, der noch zwischen dem Biancograt und dem eigentlichen Gipfel liegt, ist um einiges ausgesetzter, anspruchsvoller und gar nicht mehr Bohrhaken abgesichert.
Die Sonne hat die Steinplatten bereits fein angewärmt. Handschuhe sind nicht mehr nötig und wir überlegen sogar, unsere Hardshell-Jacken auszuziehen. Wir ziehen uns über Felsstufen, balancieren auf großen Steinplatten, steigen durch Kamine, umklettern einen Zacken links, den anderen rechts.
Biancograt: Die Himmelstreppe auf den Piz Bernina
Und dann sind wir plötzlich so hoch, dass der Felsgrat den Blick auf den Biancograt und seinen Verlauf zum Piz Bernina freigibt. Das ist sie also – die Leiter, die von Bergsteigern aus aller Welt in den Himmel gelobt wird. Weniger steil und etwas breiter, als viele Bilder oder Videos vermuten lassen, steigt der Grat vor uns an. Eines aber ist sicher: er ist wunderschön und wir können es kaum erwarten, unsere Füße auf ihn zu setzen.
Der Felsgrat nimmt langsam ein Ende. Nur ein Turm und die Haifischflosse trennen uns noch von der leuchtenden Firnleiter. Je nach Jahreszeit und Schneeverhältnissen, kann man den Felsgrat früher auf der Ostseite verlassen und den Turm im Schnee umgehen. Da wir guten Stapfschnee vorfinden, entscheiden wir uns für diese Option. Die zweite, etwas zeitaufwändigere Variante wäre es, dem Felsgrat bis zum Ende zu folgen uns sich von dort aus auf den Schneegrat abzuseilen.
Wir schnallen die Steigeisen an. Diese werden wir ab jetzt vom Biancograt über den Piz Bianco bis zum Piz Bernina und im weiteren Abstieg brauchen.
Der Quergang um den Turm zieht sich. Das hat doch von hinten so kurz ausgesehen! Irrtum! Sie Sonne heizt jetzt mit voller Kraft in den Osthang. Uns ist warm und die Tritte im Schnee sind wieder einmal viel zu hoch für meine Hasenbeine.
Hechelnd und durchgeschwitzt erreiche ich nach 10 Minuten Quergang den Frühstücksplatz. Dieses sonnige Plateau im Schnee markiert den eigentlichen Beginn des Biancograts. Wir trinken etwas und essen einen Apfel. Immerhin ist das Frühstück schon dreieinhalb Stunden her.
Dann können wir der Versuchung dieser Linie nicht mehr widerstehen, die uns jetzt schnurstracks auf den Piz Bianco leiten wird.
Biancograt: Vollkommen in seiner Schlichtheit
Es ist nicht viel, was die Schönheit dieses Grates ausmacht. Aber vielleicht ist er genau deshalb so anziehend. Wegen seiner schlichten Form, die ihn trotzdem vollkommen einzigartig macht.
Zunächst flach, dann zweimal etwas steiler, auf eine sanfte Linkskurve folgt ein dezenter Rechtsschwung, bevor sich die Firnleiter obenhin immer mehr verschmälert und im Piz Bianco gipfelt.
Bis zur Schneekuppe des Piz Bianco liegt noch ein gutes Stück Biancograt vor uns: etwa ein Kilometer, um dieses gute Stück zu konkretisieren. Der Grat gibt uns noch etwas Zeit, uns auf ihn einzustellen. Er startet flach und gewinnt im Verlauf immer mehr an Steigung – bis zu 45°, wie man in diversen Führern liest.
Gleich zu Beginn des Firngrates spitzt die Haifischflosse aus dem Schnee heraus. Dieses spitze Gebilde aus plattigen Felsblöcken können wir ebenfalls links im Schnee umgehen.
Dahinter lässt uns der Biancograt lange keine Verschnaufpause. Stapfspur um Stapfspur schiebe ich mich höher. So gut wie möglich, helfe ich mit dem Pickel nach und entlaste die Beine etwas.
Die Verhältnisse könnten besser nicht sein. Kein Eis, nicht einmal ein laues Lüftchen, keine Wolke am Himmel und zusätzlich pure Einsamkeit. Einwondfreier ist schwer möglich. Der Biancograt fesselt meine Aufmerksamkeit so sehr, dass ich beinahe vergesse, auch das Drumherum wahrzunehmen.
Tiefblicke auf den Morteratsch- und den Tschierva Gletscher; sogar die Hütte sieht man von hier oben perfekt. Der Blick reicht weit in die Schweiz hinein und nach Italien bis zur Ortler-Gruppe.
Nur vor uns versperrt der steiler werdende Biancograt das Panorama auf den Piz Bernina und seine Nachbarn.
Piz Bianco und Piz Bernina: Von der Welle auf die Klippen
Wie auf den Wogen einer überdimensionalen, erstarrten Welle reiten wir am Grat höher. Er schwingt kurz Richtung Osten und Westen, bevor er oben abflacht, sich verschmälert und am Piz Bianco (3.993 m) bricht.
Wir sind am Vorgipfel des Piz Bernina angekommen; der Biancograt ist hier zu Ende, unsere Tour aber noch lange nicht. Vom einzigen 4.000er der Ostalpen trennt uns ein weiterer, ausgesetzter Felsgrat.
In vielen Führern ist der Übergang vom Piz Bianco auf dem Piz Bernina fast als Katzensprung beschrieben. Die Realität sieht anders aus: ausgesetzte Querungen direkt am schmalen Felsgrat, Kletterstellen bis III, zweimaliges Abseilen, ein unheimlicher Spreizschritt und ein steiler Anstieg im Mixed-Gelände zum Drüberstreuen.
All das kostet uns etwa eineinhalb weitere Stunden, bis wir endlich am Hauptgipfel stehen. Aufgrund der Schneelage klettern wir am gesamten Grat mit Steigeisen weiter und sichern uns am laufenden Seil an Felsköpfen und einzelnen Bohrhaken.
Besonders gruselig ist der Spreizschritt vor der zweiten Abseilstelle. Für einige Sekunden schwebt man beim Übergang zwischen zwei Felsblöcken hoch über dem Abgrund. Ein Fixseil hilft bei der mentalen und tatsächlichen Überwindung.
Nach dem zweiten, 12 Meter langen Abseiler, stellt sich die Gipfelflanke vor uns auf. In der Draufsicht erscheint sie unheimlich steil und fast unüberwindbar. Hat man sich aber erst in die Wand getraut, klettert man an ihrer linken Kante recht gemütlich höher und erreicht wenig später den Gipfel des Piz Bernina. Yeah!
Abstieg über den Spallagrat: Traumpanorama und eine Fleischwunde
Einer unserer Begleiter hüpft ein wenig zu motiviert über die letzten Felsblöcke vor dem Gipfel. Kurz unaufmerksam und plötzlich steckt eine Zacke des Steigeisens tief in der Wade. Blut, Alkoholpads, Schmerzen, Druckverband.
Unseren Gipfelerfolg können wir nicht wirklich genießen. Die Gedanken kreisen um die nächsten Stunden und Kilometer, die uns noch vom Berghaus Diavolezza trennen. Unserem Patienten steht eine harte zweite Hälfte der Tour bevor.
Wir steigen über den Spallagrat zur Marco e Rosa Hütte ab, der im Vergleich zum Aufstieg gemütlich, aber landschaftlich kaum zu toppen ist. Auch hier bewegt man sich abwechselnd auf einem ausgesetzten Fels- und Firngrat.
Da die Schneelage noch gut ist, müssen wir uns nur zweimal abseilen, um den Gletscher zu erreichen und können über den steilen Hang mühsam im tiefen Schnee zur Marco e Rosa Hütte absteigen.
Die Schmerzen unseres Kollegen sind während des steilen Abstiegs immer schlimmer geworden. Was sollen wir tun? Wir wägen die Optionen ab. Auf der Marco e Rosa Hütte eine zusätzliche Nacht einlegen? Das wird die Schmerzen auch nicht lindern. Die Wunde müsste dringend genäht werden. Den Hubschrauber rufen? Wegen einer mittelgroßen Wunde? Das will er nicht. Selbst nähen? Das will von uns niemand.
Wir entscheiden uns dafür, die Tour bis zur Diavolezza durchzuziehen und am nächsten Tag möglichst schnell mit der Bahn ins Tal zu fahren.
Piz Palü oder Fortezzagrat?
Wir kaufen uns bei der Hütte noch schnell etwas zu trinken, füttern den Verletzten mit Schmerztabletten und setzten den Weg in sengender Hitze über die Bellavista Terrasse fort. Für Bella Vista haben wir gerade wenig übrig, obwohl die Landschaft eigentlich zum Niederknien wäre.
Eine Stunde nach Aufbruch von der Marco e Rosa erreichen wir eine Abzweigung. Rechts steigt die Spur zum Piz Palü an, links fällt sie zum Fortezzagrat an. Was tun?
Die eine Hälfte hält es für schöner und schneller, wenn wir gleich noch die Überschreitung des Piz Palü dranhängen. Die andere Hälfte ist überzeugt, dass die Variante über den Fortezza Grat weniger anstrengend ist – immerhin gehen da fast alle anderen auch.
Was tun? Hin und her. Die Entscheidung fällt schwer, zumal der Abstieg über den Fortezzagrat einen weiteren Gegenanstieg vom Persgletscher zur Diavolezza bedeutet. Am Ende lassen wir uns vom Herdentrieb leiten und steigen wie die übrigen auch über den Fortezzagrat ab.
Mehrere Abseilstellen müssen wir noch überwinden. Der Grat zieht sich nicht enden wollend bis zum Persgletscher hinab – diesen müssen wir schließlich auf Höhe der Diavolezza queren. Zumindest das ist kein Problem mehr. Am Ende seiner Zunge ist der Gletscher schneefrei und nur wenige kleine Spalten durchziehen ihn.
Dann stellt sich ein 200 Höhenmeter langer Gegenanstieg hinauf zur Diavolezza gegen uns und ein baldiges Abendmahl.
Leiden und lieben
200 Höhenmeter sind eigentlich nicht viel. Nach 13 Stunden, 14 Kilometern und 2.000 Höhenmetern auf ständig über 3.000 Metern sind 200 Höhenmeter viel. Sehr viel. Die Rucksäcke ziehen uns fast wieder über die Moräne zurück auf den Gletscher. Jeder Schritt ist ein Kampf. Der Rücken schmerzt. Ich kann nicht mehr. Ich hasse das hier. Aber ich gehe trotzdem weiter. Einen weiteren Schritt habe ich immer noch geschafft.
Drei Stunden nach unserer Entscheidung, über den Fortezzagrat abzusteigen, lassen wir uns auf die Terrasse der Diavolezza fallen. Der letzte Schritt der Tour ist getan. Okay, ich liebe das.