In der Sicht des tibetischen Buddhismus tritt beim Tod das Bewusstseinsprinzip, das als Namshe (tib., rnam shes) bekannt ist, aus dem Inneren des eigenen Leichnams (tib., bem po) aus und das körperlose Bewusstsein findet sich wieder in einem subtilen Geistkörper hausend, wo der Geist, die Erinnerungen, Emotionen und die Sinne einschließlich Sehen, Riechen, Hören usw. noch immer einsatzbereit sind. So ein geistgeschaffener Körper der subtilen psychischen Energie und des Bewusstseins wird „Yilü“ (tib., yid lus) genannt. Es gibt ein allgemeines Verständnis unter den Tibetern, dass Bewusstsein oder die bewusste Existenz eine Art von Körper erfordert, egal ob physisch, ätherisch oder geistig, da es ansonsten keine Aktivität der Sinne geben würde. Der allgemeine Begriff für Bewusstsein ist Namshe (tib., rnam shes), das die Übersetzung des Sanskrit-Begriffs „vijnana“ ist. Der Begriff „Geist“ oder Sem deckt beide Aspekte des geistigen Lebens ab, die in der buddhistischen Psychologie als Bewusstsein an sich (tib., sems; skt., citta) und als die Inhalte des Bewusstseins (tib., sems byung; skt., chaitta) unterschieden werden, welche sozusagen die geistigen Aktivitäten oder Funktionen sind. Die Wurzel des Bewusstseins und sogar noch grundlegender ist Shepa (tib., shes pa; skt., jna) oder das Basisbewusstsein. Dieses Basisbewusstsein wird „Bewusstsein“ oder Namshe, wenn es erhellt und in geistigen Vorgängen gefangen ist. Namshe scheint ein Wort zu sein, das aus miteinander verbundenen Sanskrit-Begriffen gebildet wurde: rnam-par steht im Sanskrit vi– für „diskursiv“ und shes-pa aus dem Sanskrit jnana ist „uranfängliches Erkennen“. Die wird nun allgemein von den Buddhisten und Bönpos verwendet. Darüber hinaus wird dieses Wort dafür verwendet, um auf das Bewusstseinsprinzip hinzuweisen, dass nach dem körperlichen Tod überlebt und in neue Geburten übergeht, wiederum erwachend, sich im Zwischenzustand des Bardo vorzufinden, dem Abschnitt zwischen Tod und Wiedergeburt. Das scheint mit dem zu korrespondieren, was wir im Westen „die Seele“ bezeichnen. Jedoch ist das Namshe eine komplexe Struktur des Geistes, einschließlich des Bewusstseins und der Erinnerungen und der subtilen psychischen Energien (tib., rlung sems), die im Bardo aufgrund der Macht des Karma auferstehen. Daher gibt es zwei unterschiedliche Bedeutungen für diesen tibetischen Begriff „Namshe“.
Seele durch die Hintertür?
Ein paar westliche Gelehrte erheben den Einspruch, dass diese tibetische Bezeichnung von Namshe den Tod eines Individuums überlebt und in den Bardo oder den Zwischenzustandserfahrung zwischen Tod und Wiedergeburt eintritt, weil dies dem grundlegenden buddhistischen Prinzip von „Nicht-Selbst“ (skt., anatman; tib., bdag med), da es kein Selbst oder keine Seele im menschlichen Sein gibt, das reinkarniert. Sie behaupten, dass die Tibeter diese Idee eines dauerhaften Selbst oder einer unsterblichen Seele, so wie man sie im Hinduismus findet und als Atman benannt wird, eingeführt haben. Jedoch ist in buddhistischen Bezügen das Namshe keine Substanz oder Entität, die dauerhaft ist und eine inhärente Existenz hat. Es ist etwas, das von vorherigen Ursachen bedingt ist und sich somit in einem Zustand des beständigen Fließens befindet. Man kann es am besten mit einem Strom oder Fluss vergleichen. Weil die Wasser dieses Flusses sich von Moment zu Moment beständig von verändern, sind sie niemals dieselben. Und obwohl sich die Inhalte des Bewusstseins die ganze Zeit über wandeln, behält das Bewusstsein eine Individualität aufrecht und eine Beständigkeit, genauso wie beim Dahinströmen eines Flusses in seinen Ufern. Namshe ist keine geistige Substanz oder ein Geistgegenstand, sondern „ein Strom des Bewusstseins“ (skt., vijnana santana; tib., shes rgyud) und dieser Begriff wurde in der buddhistischen Psychologie schon lange vorher verwendet, bevor William James ihn in die westliche Experimentalpsychologie einführte. Dieser Strom des Bewusstseins, der sich immer wandelt und in einem Fluss dahinfließt, ist durch viele Leben dahingeflossen, genauso wie ein großer Fluss durch viele unterschiedliche und vielfältige Landschaften dahinfließt. Es ist immer gleiche Fluss und dennoch nie derselbe. Die Wasser oder Inhalte dieses Flusses haben sich von Moment zu Moment gewandelt. So wie der griechische Philosoph Herakleitus fragte: „Steigen wir zweimal in denselben Fluss?“ Und dennoch aus einer größeren Perspektive ist es derselbe Fluss. Tatsächlich ist es dieser Strom des Bewusstseins, der ein Leben mit einem anderen verbindet. Somit ist Wiedergeburt oder der Zyklus von Tod und Geburt keine Angelegenheit desselben Handelnden, der verschiedene Gewänder und Masken anlegt, um verschiedene Rollen während des Verlaufs eines Spiels auf der Bühne spielt, sondern es ist wie ein Fluss. Da besteht ein echter Unterschied. Obwohl man Bewusstsein mit einem Fluss vergleichen kann, wird der Strom des Bewusstseins eines Individuums als ungeschaffen und ohne zeitlichen Beginn angesehen. Es gibt aus buddhistischer Sicht keinen großen Ozean, in den das Bewusstsein am Ende der Existenz einfließt, gleich einem Regentropfen, der in das große, glänzende Meer fällt. Obwohl das Bewusstsein sich von Moment zu Moment ändert, hat dieser Strom des Bewusstseins keinen Schöpfer und keinen Anfang in Zeit und Geschichte. Es gibt keine Schöpfung in einem absoluten Sinne. Noch gibt es ein Ende im absoluten Sinne. Dieses Basisgewahrsein ist an der Wurzel des Bewusstseins grundlegend und dem Dasein genauso innewohnend wie der Raum selbst. Beim Abidharma fortsetzend, greift Dzogchen die Sicht auf, dass Raum und Gewahrsein seit allem Anfang an untrennbar sind (tib., ye nas stong rig dbyer med).
Aus„TIBETAN CONCEPT OF THE SOUL” von Lama Vajranatha (John M. Reynolds, 2011). Übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2018).