Bewerbungen, die sie wie Expertisen aussehen lassen

Nun gut, wir wissen jetzt also, dass der Mindestlohn sogar sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen geschaffen hat. Wir wissen expliziter, dass geringfügige Arbeitsverhältnisse umgewandelt wurden, weil sie mit Mindestlohn nicht mehr haltbar waren und die Arbeit ja trotzdem gemacht werden musste. Wir wissen auch, dass einige geringfügige Stellen gestrichen wurden, wahrscheinlich auch, weil einige Geschäftsmodelle auf ausbeuterischen Säulen standen und sie nur geringfügig mit niedrigem Stundenlohn tragfähig waren. Was wir aber immer noch nicht wissen: Warum erkannten das die hofierten Ökonomen dieser Republik vorher nicht? Wir wissen außerdem nicht, wieso diese Ökonomen Lügen verbreiten. Das kann bisher kein Institut beantworten, dazu erhalten wir keine Statistiken.

Für diese Betriebswirtschaftler, die als Volkswirtschaftler durch die Studios turnen, war natürlich eines völlig klar: »Der Mindestlohn? Der, liebe Leute, der kostet euch richtig was ... Wenn ihr den nicht verhindert, dann geht es uns schlecht. Schreibt eurem Abgeordneten!, ruft zum Boykott auf!, tretet aus der Gewerkschaft aus!, wenn ihr den nicht vereitelt, dann seid ihr bald arbeitslos. Dann wandern die Unternehmen nämlich ab. Gehen dann ins Ausland, dorthin wo man ihnen keine Vorschriften macht ... Der Mindestlohn ist eine gefährliche Waffe, liebe Zuschauer. Man darf ihn nicht bloß wegen ideologischer Gründe einführen. Ideologie macht alles kaputt, wie man weiß ... Was sagen Sie den Bürgern, Herr Minister, wenn sie plötzlich ihre Kündigung erhalten? ... Verhindert ihn! Zur höheren Ehre des Marktes.«
So sprach diese Clique mehrheitlich. Manche schlugen einen schrecklichen Gelehrtenton an, ergaunerten sich so den Ehrerbietung des Publikums. Andere warnten konziliant. Dich man muss sich einfach weigern zu glauben, dass diese Leute einen so einseitigen Blick auf die Wirtschaft haben, als dass sie wirklich annehmen konnten, dass Unternehmen einfach zu Flüchtlingen würden; dass Arbeitsplätze ohne viel Federlesens wegfallen, obgleich doch Arbeit da war, die verrichtet werden wollte. Angebot und Nachfrage. Aber diese Angebotsökonomen haben den zweiten Aspekt einfach ausgeblendet. Für sie ist der (Arbeits-)Markt kein Ansammlung voller Dynamiken, sondern ein Feld, auf den Unternehmen generalisch Takte vorgeben. Sie sind die Macher, also muss alles sich ihren Interessen unterordnen. Dass aber Unternehmer genauso flexibel im Hinblick auf soziale Rahmenbedingungen sein können und müssen, wenn es weitergehen soll, hört man von ihnen eher nicht. Sie stellen Unternehmen als starre Kolosse dar, die bei jeder noch so kleinsten Modifikation am sozialen Rahmen völlig vor den Kopf gestossen sind und wanken. Also fordern sie zur Unterlassung auf, denn wenn die tönernen Füße Risse kriegen, dann kracht alles ein.
Andererseits ist man so stolz auf die stabile Wirtschaft und die Unternehmen. Was denn nun? Sind sie stabil oder brechen sie gleich ein, weil mal nach langer Zeit die Personalkosten angeglichen werden mussten? Das muss ja ohnehin ein windiges Geschäft gewesen sein, das Stabilität auf Kosten einer Belegschaft generierte, die einen Hungerlohn erhielt.

So oder so muss man sich wieder mal fragen: Sind die Sinns, xxx und xxx alle ahnungslos oder lügen sie wie gedruckt und die Presse druckt ihre Lügen? Sie haben keine schon damals keine Krise gesehen, diese Alchimisten, haben bis kurz davor ihr Credo gepredigt, nicht gewarnt, es entweder nicht erkannt oder es passte ihnen halt nicht in den Kram. Wie auch immer. Wahrscheinlich wird sein, dass sie natürlich wie eh und je wussten, dass ihre »absolute Wahrheit« eine von vielen möglichen Entwicklungen ist, die der Markt nehmen kann, aber nicht zwingend muss. Nach vorne ist immer alles offen, Wenn-Dann-Strategien sind ungeeignet, weil es so viele Dynamiken, Motivationen und versteckte Abläufe gibt, dass man nie genau sagen kann, was folgerichtig geschehen könnte oder nicht. Sie verkaufen seit so vielen Jahren ihr Metier als exakte Wissenschaft. Das ist es aber nicht. Ökonomie streift so viele Felder, so viele gesellschaftliche Nischen, dass nie und nimmer Genauigkeit erlangt werden kann. Und das wissen diese homini oeconomici auch ganz genau. Sie geben es nur nicht zu.
Dass also ein Lohnstandard plötzlich den Untergang der Wirtschaft verursachen würde, kann man sich ausmalen und sicherlich auch mit Thesen unterfüttern. Es kann aber auch das Gegenteil geschehen. Oder gar nichts. Und einen so genannten Fachmann könnte man sich so in seiner Vorstellung ausschmücken, dass er jegliche Option offenlässt. Oder lieber gar nichts sagt. Wenn man als Privatmann unliebsame Aspekte unterschlägt, zum Beispiel bei einem Bewerbungsgespräch, dann ist das keine klassische Lüge und eher akzeptabel. Man will doch für sich werben, Nachteiliges muss man da nicht vertiefen. Wenn man hingegen als Fachmann befragt wird und einen Teil der gesamten Komplexität einfach nicht ausspricht, dann ist es allerdings schon weitaus mehr. Dann kann man getrost sagen: Es ist gelogen.
Nun gut, wahrscheinlich sahen und sehen viele dieser Zunft ihre öffentlichen Auftritte auch als Bewerbungsgespräche, man will ja auch mal in einen Aufsichtsrat reinrutschen, einen Versicherungsvorstand um sein Know-How bereichern. In diesem Lichte betrachtet hätten sie also nicht gelogen, sondern einfach nur Werbung für sich gemacht und die unliebsameren Teile verschwiegen. Es ist jedoch unhaltbar, dass diese Betriebswirtschaftler ihre Bewerbungen in aller Öffentlichkeit austragen und es »Expertise« nennen!

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