Bevor ich falle
Lilly Lindner
Knaur, 2012
978-3426226223
16,99 €
Eine Mutter springt aus dem Fenster und hat zuvor ihre kleine Tochter ins Bett gebracht. Cherry ist neun und versucht seit diesem Tag Worte zu finden, um zu beschreiben, wie es ihr geht. Aber die Welt ist nicht einfach, die Worte gibt es, aber niemanden der sie hören will. Cherry spielt mit den Worten, bis sie vielleicht die Richtigen gefunden hat …
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Cherry ist ein kleines Mädchen, das seine Mutter verliert und einen gruseligen Vater hat. Aber Cherry ist auch zerbrechlich und aufmüpfig, hart und ganz leise. In ihr sammeln sich alle Widerstände, die ein Mensch gegen die Welt haben kann und gegen sich selbst. Es ist kein Wunder, dass ich das Buch sofort geliebt habe.
Alle anderen Figuren sind fast nur am Rande sichtbar: Lichtstreifen oder Nachtstreifen am Horizont von Cherrys Leben. Und ich habe mich gefreut, als sie nicht allein im Schnee bleibt und fast ein neues Zuhause findet.
“Ich dulde in meinem Haus keine Wortschäden von psychotischen Weltumseglern! Literatur ist etwas für schwergewichtige Satzfresser! Ich hasse Poesie!”(S. 123)
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Die Handlung ist traurig, geprägt von Schuldgefühlen und trotzdem konnte ich alles nachempfinden. Ich schreibe oft, dass Charaktere ihre Gefühle auf der Zunge tragen müssen, damit ich sie verstehe. Lilly Lindners Cherry trug diese Gefühle mit ihren gewaltigen Worten hinaus, egal ob sie jemanden verletzten wollte oder jemanden mochte. Gäbe es in dem Buch niemanden, der versuchen würde zu helfen, wäre es ein einseitiges Buch. Aber Landon, der sie im Schnee findet, will helfen und prallt gegen eine undurchdringliche Mauer aus Worten und Sätzen. Ein Schutzpanzer aus Worten der stabil genug ist, all jene zu vertreiben, die Cherrys Schuldgefühle nicht ernst nehmen.
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Ich habe “Splitterfasernackt” nicht gelesen. Ich war also überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass ich das ganze Buch markieren müsste, weil jedes Wort ein Gedicht ist. Ich war auch nicht darauf vorbereitet, dass jedes Wort mein Herz treffen würde – entweder mit Dornen oder mit einem Sonnenstrahl. Ich kann niemandem richtig erklären, was mich an diesem Buch gepackt hat, aber als ich die erste Seite aufschlug, war ich Zuhause, ein Gefühl, das mir lange kein Buch mehr gegeben hat. Dadurch, dass das Buch eine enorme Melancholie ausstrahlt, ist es umso bittersüße, wenn ich das Wort “Zuhause” verwende.
“Denn das Gewisse, das wir prägen, wird immer unsere Unterschrift tragen.”(S. 85)
Aber es gibt an diesem Buch einfach nichts zu meckern. Jeder höllische, lange Satz ist ein Leben und ein Teil von Cherrys Seele, den ich gern ein mich aufgenommen habe. Jeder Satz über Literatur, Bücher und den Verlagskonzern ihres Vaters hat mein Bücherherz zum Leuchten gebracht und das auch, wenn die Sätze negativ waren.
Wörter sind für mich wie Atem, ohne sie könnte ich nicht leben – nicht einen Tag. Und so kam es mir auch bei Lilly Lindner vor.
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Mein Highlight, dem ich keine 5 Bücherpunkte geben kann, weil es noch viel besser ist, besser auf seine Art, seine Traurigkeit und ich werde es wieder lesen …
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