Betrunkene Bäume und entwurzelte Menschen

Betrunkene Bäume und entwurzelte Menschen

Betrunkene Bäume bezeichnete nicht etwa eine bestimmte Art oder Gattung von Bäumen, sondern konnte jeden unter ähnlichen Bedingungen in Schieflage geratenen Baum bezeichnen. Ein Stamm, der im schmelzenden Permafrostboden an Halt verlor, kippte im tauenden Matsch, weil seine Wurzeln, den festen Permafrostboden gewohnt, keinen Halt mehr fanden. Ganze Wälder konnten so in Schieflage geraten (S. 139/140).

Begleitet vom Bild der betrunkenen Bäume im Permafrost, erzählt Ada Dorian in ihrem Debüt von Menschen, die den Halt verloren haben. Sie erzählt vom alten Erich mit seinem beigefarbenen Commodore, der wegen seiner schlechten Augen eigentlich gar nicht mehr fahren darf. Altersbedingt bereits ein bißchen hilflos, doch immer noch recht pfiffig, züchtet er in seinem Schlafzimmer einen kleinen Wald aus Birken, Erlen und Pappeln, weil er beim Geruch der Pflanzen besser schlafen kann. Sie sind seine besten Freunde. Am längsten lebt bei ihm der Ahorn, der nun bereits an die Decke stößt. Vor seiner strengen Tochter Irina hält er die Tür zu diesem Raum stets verschlossen. Sie würde ihn sicher für verrückt erklären – 

Da ist auch Erichs Ehefrau Dascha aus Sibirien, die zurück in die alte Heimat geht, weil es ihr nie gelungen ist, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Oder Wolodja, der ein Lager in Kolyma überlebt hat. Gemeinsam mit seinem Hund Laika führt er Menschen durch die undurchdringlichen sibirischen Wälder, spricht dabei aber kein einziges Wort. Heimat- und wurzellos lebt er wie ein einsamer Wolf.

Auch Katharina weiß nicht so genau, wo sie hingehört. Die Schule hat sie abgebrochen und versucht nun, mit Drogen zu dealen. Ebenfalls in Schieflage geraten ist das Leben ihres Vaters Rolf. Freiwillig war er nach Sibirien gegangen, um Pipelines zu verlegen oder durch tauenden Boden verrutschte Ölleitungen zu korrigieren. Ein Wahnsinnsjob. Dort, in der unbegrenzten Weite der Tundra mit ihrer kargen baumlosen Landschaft, lediglich bewachsen von  Sträuchern, Moosen und Flechten, fühlte er sich eigentlich einsamer als je zuvor. Doch eine Rückkehr in die Familie scheint ihm unmöglich. Ständiges Alleinsein macht einen Menschen ja auch seltsam. Die Einsamkeit all dieser entwurzelten Figuren zwischen Sibirien und Berlin hält Ada Dorian uns vor wie einen Spiegel.

Die wirkliche Stärke des Romans liegt für mich aber in der Beschreibung der sibirischen Taiga und Tundra – wo über Hunderte von Kilometern die Kolyma fließt, an deren Ufer sich im vergangenen Jahrhundert unzählige Strafgefangenenlager zum Abbau von Gold, Zinn und Uran befanden. Wenn Ada Dorian ihre Figuren dorthin führt, dann fühle ich mich erinnert an Warlam Schalamows Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma (erschienen bei Matthes & Seitz Berlin). Wie Schalamow vom weißen Nebel Sibiriens, von Zwergbirken, sechshundertjährigen Lärchen und dem berühmten Krummholz erzählt, von runzligen gefrorenen Heidelbeeren oder gefrorener Spucke bei fünfzig Grad Frost – das ist für mich unvergesslich, haftet in meinem Gedächtnis wie Spuren im Schnee.
Auch Ada Dorian kennt Schalamows Bücher. Auf dem Ullstein-Bloggertag am 02. Feburar 2017 erzählt sie, dass sie aber nicht nur seine Kolyma-Erzählungen sondern außerdem jede Menge Literatur zum Thema Permafrost gelesen hätte, um sich in die Handlung einzufühlen.

Betrunkene Bäume und entwurzelte Menschen

© Melanie Hauke

So bleiben ganz besonders in meinem Kopf die Beschreibungen der sibirischen Taiga, welche Wolodja und Erich durchstreifen, und wo Dascha mit ihrer Großmutter in einem kleinen Holzhaus im Wald lebt. Es bleiben intensive Bilder von Kälte, Frost und Eis. Es bleibt der Duft von Bäumen und von Schnee. Und genau davon hätte ich gern viel mehr gehabt. Fast kommt es mir vor wie eine zweite Stimme, wenn sie von den Weiten Sibirien erzählt. Geschichten aus einer verlorenen Zeit. Ich habe beim Lesen das Gefühl, sie fühle sich in der Vergangenheit wohler als in der Gegenwart. Auch im Gespräch mit ihr denke ich das. Dafür würde auch sprechen, dass sie in den Sozialen Medien ganz bewusst wenig aktiv ist. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte sie weder einen Account bei Facebook, Twitter oder Instagram (das hat sich seit Erscheinen des Buches geändert). Ein weiterer spannender Aspekt ihres Schreibens ist, dass sie Gedanken für ihre Geschichten oft bis zu 2 Jahre lediglich in ihrem Kopf trägt, ohne diese zu notieren. Erst wenn der Gedanke überlebt hat, ist er es wert, aufgeschrieben zu werden, sagt Ada Dorian. Keine Angst, in dieser Zeit den Gedanken zu verlieren? Warum keine Notizen? Gedanken ohne Sinn könne sie gewissenlos verlieren. Gedanken, die wichtig sind, überleben diese Zeit.

Betrunkene Bäume wirft aber auch Fragen auf. Was bedeutet Familie? Warum läuft man besser weg, statt miteinander zu reden? Wie kann man absolute Einsamkeit einem Leben in Gemeinschaft vorziehen? Ada Dorian führt ihre Figuren an schmerzhafte Grenzen und lässt Erich sowie Katharina am Ende erkennen, was ihnen wirklich wichtig ist. Dass es nur dieses eine Leben gibt. Als Erich das endlich begreift und einen abenteuerlichen Plan fasst, ist es eigentlich zu spät. Katharina ist sehr jung. Als sie sich schließlich eingesteht, wie sehr sie ihren Vater vermisst, nutzt sie ihre Chance, ihn zurückzuholen.

Betrunkene Bäume und entwurzelte Menschen

© Melanie Hauke

Ada Dorian war nominiert für den Bachmannpreis 2016.
Ihr Debüt ist nun gleichzeitig der Startschuß für das Imprint Ullstein fünf, einem Programm deutschsprachiger Autoren der Ullstein Buchverlage. Über die Begegnung mit Ada Dorian und deren Buch erzählt Isabella von novellieren. Eine weitere Rezension zu Betrunkene Bäume findet Ihr bei Jochen von lustauflesen.de.

Ada Dorian. Betrunkene Bäume. Ullstein fünf bei Ullstein Buchverlage Berlin. 268 Seiten. 18 €



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