Besuch bei den Christen und anderen Minderheiten im Irak

Besuch bei den Christen und anderen Minderheiten im Irak

21.02.2012Hintergrund erstellt von Dr. Kamal Sido, Nahostreferent der GfbV

Während meiner Irakreise Ende Januar/Anfang Februar 2012 führte ich unter anderem Gespräche mit Vertretern der Christen im Autonomen Irakisch-Kurdistan und in der Niniveh-Ebene. Die Christen im Irak gehören verschieden Kirchen wie der Chaldäischen, der Altapostolischen Kirche des Ostens, der Assyrischen, der Syrisch-Orthodoxen, der Syrisch-Katholischen und anderen kleineren christlichen Kirchen an.

Besuch bei den Christen und anderen Minderheiten im Irak

Die seit 2003 fortgesetzte brutale Gewalt gegen Christen im Irak führte dazu, dass die Mehrheit der Christen den Süd- und Zentralirak verlassen hat. Mindestens 400.000 Christen verließen den Süd- und Zentralirak. Nur im autonomen Bundesstaat Kurdistan genießen irakische Christen Sicherheit, Glaubensfreiheit und Nationalitätenrechte. Ein Leben in Sicherheit für die christlichen Minderheiten außerhalb der autonomen Region Kurdistan und außerhalb der von ihren Milizen geschützten angrenzenden Niniveh-Ebene scheint nicht mehr möglich zu sein. 
  
Eine Ausnahme stellten die gewaltsamen Ausschreitungen der kurdischen Islamisten vom 2. Dezember 2011 in der Provinz Duhok dar. Durch diese Exzesse der Islamisten waren Angehörige der Minderheiten stark beunruhigt. Ein radikaler islamistischer Mob hat damals Geschäfte und Einrichtungen von Christen sowie von kurdischsprachigen Yeziden angegriffen. Die Geschäfte, in denen auch Alkohol verkauft wurde, mehrere Massagepraxen und ein Salon eines Damenfriseurs in der Ortschaft Zakho in der Provinz Dohuk und der Stadt Smel wurden nach dem muslimischen Freitagsgebet demoliert. Dabei wurden 37 Menschen, überwiegend Polizisten, verletzt. Es entstanden Schäden in Millionenhöhe. 
  
Bartalla – Die uralte syrisch-orthdoxe Stadt 
Am 3. Februar begleitete ich den Leiter der Generaldirektion für aramäische (Suryani) Sprache und Kultur und Beiratsmitglied der GfbV-Sektion Kurdistan/Irak Dr. Saadi Almaleh nach Bartalla. Dort nahmen wir an einer Trauerfeier (40 Tage nach dem Tod) für den syrisch-orthodoxen Bischof Ishak Sako teil. Ishak Sako war eine führende Persönlichkeit der syrisch-orthodoxen Kirche. 
  
Vor der Trauerfeier sprach ich mit Vertretern der zivilen Gesellschaft in Bartalla. Bartalla liegt 20 km östlich von Mossul. In dieser überwiegend von syrisch-orthodoxen Christen bewohnten Ortschaft leben etwa 30.000 Einwohner. Durch den Zugang der Flüchtlinge aus dem arabischen Irak stieg die Anzahl der Bevölkerung in den letzten Jahren sehr stark. Vor 2003 lebten dort etwa 20.000 Menschen. Bartalla ist eine uralte syrisch-orthodoxe Stadt. Lange Zeit war sie nur von Christen bewohnt. Etwa 20% sind syrisch-katholische Christen, der Rest gehört der syrisch-orthodoxen Kirche an. Sie alle sprechen Aramäisch. In den letzten Jahren siedeln sich hier auch Angehörige der Shabak-Minderheit an. Die Shabak sind mehrheitlich schiitische Muslime und sprechen einen kurdischen Dialekt. Auch die Shabak mussten vor Terroranschlägen aus Mosul fliehen.

Besuch bei den Christen und anderen Minderheiten im Irak
Kamal Sido in Bartalla

  
Bartalla wurde im 2. Jahrhundert christianisiert, im Jahre 610 fand der Anschluss an die syrisch-orthodoxe Kirche statt. Ab 1153 wurde Bartalla zu einem wichtigen Zentrum der Christen in der Region. Es befinden sich mehrere teilweise zerstörte Kirchen in der Stadt: Mar Shmony Kirche (Taufbecken aus dem Jahr 1343), Jungfrau Maria Kirche (errichtet 1890), Mar Giwargis Kirche (erbaut 1939), Al-Sayida Kirche (komplette Zerstörung 1934), Ber Nagara Monastery (erbaut 1285, zerstört 1653, nur noch Ruinen übrig), Mar Aho Dama Kirche (erbaut 1153, Zerstörung 1386). Es befinden sich außerdem drei Klöster in der Nähe: Mar Giwargis (1701), das Kloster der 40 Märtyrer und Mar Youhanna, nördlich der Stadt. 

Besuch bei den Christen und anderen Minderheiten im Irak
Christliche Würdenträger in Bartalla, Irak

  
Bartalla wird von kurdischen Sicherheitskräften sowie von einer christlichen Miliz geschützt. Durch die starke Ansiedlung der Muslime, vor allem Shabak, befürchten die Christen eine Änderung der demografischen Zusammensetzung der Stadt. Viele Christen fühlen sich durch die Muslime in die Enge getrieben. In den letzten Jahren hat sich eine Initiative zum Schutz des kulturellen Erbe der Stadt gegründet. In dieser Initiative sind Repräsentanten nahezu aller politischen und kirchlichen Strömungen vertreten. Die Initiative hat zum Ziel, die bestehenden Eigentumskonflikte mit Angehörigen der Shabak-Minderheit friedlich zu lösen. Hiebei wünschen sich die Menschen in Bartalla auch eine Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). 
  
Die Yeziden von Bashik & Bahzani 
In Bartalla habe ich auch eine Delegation der Yeziden aus Bashik & Bahzani getroffen. In der Provinz Ninawa (Mosul) werden auch Yeziden seit 2003 immer wieder Ziel von Terroranschlägen durch islamische Extremisten. Die beiden Dörfer Bashik & Bahzani spielen in der Geschichte der Yeziden eine nicht unbedeutende Rolle. Die yezidischen Geistlichen, die „Qewals“, die jährlich zu ihren Glaubensschwestern und Brüdern in allen Siedlungsgebieten der Yeziden im Irak, Syrien, der Türkei sowie in die Ex-UdSSR wandern, stammen aus Bashik & Bahzan. Die Aufgabe der „Qewals“ besteht darin, die Qewls (religiöse Gedichte, Erzählungen und Lobhymnen) und die Di‘a (Gebete) auswendig zu lernen und an die Yeziden weiterzugeben. 
  
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Kamal Sido mit Vertretern der Yesiden

Arbil und der christliche Vorort Ankawa 
Durch Neubaugebiete droht Ankawa heute in der kurdischen Metropole Arbil gänzlich zu verschwinden. Hier leben 25.000 bis 40.000 Einwohner. In den Neunzigern lebten hier nur etwa 8.000 Einwohner. Die Bevölkerungszahl nahm stark zu, nachdem sich immer mehr christliche Flüchtlinge aus Bagdad oder Mosul hier ansiedelten. Ferner dient Ankawa als „Durchgangsstation“ für Flüchtlinge nach Europa. Ankawa ist nahezu komplett von Christen bewohnt. Es befinden sich in der Stadt mehrere Kirchen und Kapellen. Älteste Kirche ist die Kirche von Mar Gourgis, die 816 gebaut wurde. Gegründet wurde Ankawa im 2. Jahrhundert durch Apostel Thomas. 
Als ein Stadtteil von Arbil wird Ankawa von kurdischen Sicherheitskräften geschützt. Da auch viele ausländische diplomatische Vertretungen hier beheimatet sind, sind die Sicherheitsmaßnahmen hier im Vergleich zu anderen Regionen Kurdistans deutlich stärker. Ankawa ist der Sitz vieler politischer und kultureller Einrichtungen der christlichen Assyrer-Chaldäer-Aramäer. 
  
Auch die Christen in Ankawa befürchten eine „Überfremdung“ durch das nicht mehr aufzuhaltende Wachstum von Arbil. Die Ansiedlung von Menschen von außerhalb (Christen und Muslime) könnte sehr bald dazu führen, dass Ankawa sein historisches und einzigartiges Gesicht für immer verliert. Aus diesem Grunde sollten die Baugenehmigungen nur dann erteilt werden, wenn die Bevölkerung dem zugestimmt hat. Auch der Ausbau des internationalen Flughafens von Arbil darf nicht auf Kosten der Ländereien von Ankawa vorangetrieben werden. Die Eigentümer sollten ausreichend entschädigt werden. Außerdem sollte der Zuzug nach Ankawa nicht unkontrolliert ausgedehnt werden. Die Regionalregierung Kurdistan muss daher gemeinsam mit Vertretern der zivilen Gesellschaft in Ankawa die weitere Entwicklung der Ortschaft abstimmen. 
Eine Initiative zum Schutz von Ankawa hat bereits einen ersten Erfolg erzielt, indem das Bauprojekt der sogenannten "Vier Türme" (ein Hotelkomplex) am 16.1.2012 von der Regionalregierung gestoppt wurde. 
  
Sulaimaniya – Die „Braut von Kurdistan“ 
Vor Bartalla und Ankawa besuchte ich am 31. Januar auch die kurdische Stadt Sulaimaniya. Diese Stadt im äußerten Nordwesten von Irakisch-Kurdistan wird wegen ihrer Schönheit und Sauberkeit von vielen Menschen als die "Braut von Kurdistan" bezeichnet. Mit dem GfbV-Beitratmitglied Dr. Yousuf Dzai und Muhammad Hamo, einem im Irak lebenden syrischen Kurden, fuhren wir über Kirkuk in den Nordosten. Bereits am frühen Morgen setzte ein starker Regen ein. Auf der Straße zwischen Kirkuk und Sulaimaniya wurden wir von heftigen Schneefällen überrascht. Da unser Fahrzeug  keine Winterreifen und Schneeketten hatte, konnte es sich nur schwer fortbewegen. 
In Sulaimaniya angekommen suchten wir die chaldäische Kirche Mar Yousuf auf. Dort sprachen wir mit einem chaldäisch-katholischen Priester aus Kirkuk, der seinen Dienst erst vor einigen Wochen in Sulaimaniya aufgenommen hat. Der Priester kümmert sich um die etwa 260 christlichen Familien (900 Personen) in der Stadt. Es sind vor allem Chaldäer, aber auch Angehörige anderer Kirchen. Die Kirche wird auch von sieben armenischen Familien besucht, die in der Stadt leben. Die Kirche organisiert ferner kulturelle Aktivitäten. Sie kümmert sich um Kinder, Kranke und Alte. 

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Mar Yousuf  


„Emna Soreke“, die Erinnerungsstätte in Sulaimaniya 
In Sulaimaniya besichtigten wir ebenfalls das so genannte „Emna Soreke“, die „Zentrale des Schreckens“. Das war ein Baukomplex des irakischen Geheimdienstes. Von hier aus beherrschte das Regime Saddam Husseins die Stadt bis 1991. Nun ist der Baukomplex in eine Erinnerungsstätte umgewandelt worden. Die Räume, in denen die Gefangenen festgehalten wurden, sehen nahezu wie damals aus. Bestimmte Foltermethoden wurden mittels Skulpturen bildlich dargestellt. An den Wänden sind noch handschriftlich von den Gefangenen eingetragene kurze Aufsätze zu lesen. Ein junger Mann im Alter von 13 Jahren schreibt: „Mama, Papa, ich werde wahrscheinlich morgen früh abgeholt, ihr werdet mich nie wieder sehen…“  
Die Erinnerungsstätte ist ein gemeinsames Projekt der Stadt und der Universität von Sulaimaniya. 

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Folterszene in der Gedenkstätte Emna Soreke, Irak


Ein schneller Besuch fand auch bei dem Radiosender „Nawa“ statt. Dieser sendet weltweit in zwei Sprachen, Kurdisch (Sorani & Kurmanci) und Arabisch. Der Sender ist weitgehend unabhängig. Regelmäßig informiert der Sender auch über die GfbV-Arbeit für die Minderheiten im Nahen Osten. 

  
In Arbil nahm ich gemeinsam mit dem GfbV-Beiratsmitglied Dr. Yousuf Dzai an der Trauerfeier für die Opfer der Terroranschläge vom 1. Februar 2004 teil. Damals 
sprengten sich in Arbil zwei als religiöse Würdenträger verkleidete Selbstmordattentäter in zwei Gebäuden der regierenden Kurdenparteien (Kurdische Demokratische Partei (KDP) und Patriotische Union Kurdistans (PUK)), zeitgleich in die Luft. Die Opferzahlen waren besonders hoch (56 Tote und 200 Verletzte) da Hunderte von Menschen gekommen waren, um zum islamischen Opferfest zu gratulieren. 
  
Am 1. Februar besuchte ich auch die turkmenischen Einrichtungen in Arbil. Dort traf ich unseren turkmenischen Freund Karkhi Najmeddin, der die „Turkmenische Demokratische Organisation“ führt. Die Turkmenen haben fünf Sitze im Regionalparlament. In Kurdistan existieren auch turkmenische Schulen, Zeitungen, Rundfunk und einige Fernsehstationen. Ferner existiert eine private türkische Universität, an der die Turkmenen in ihrer Muttersprache studieren können. 

Quelle: Gesellschaft für bedrohte Völker

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