Mal abgesehen von den Negativ-Schlagzeilen in Sachen italienischem Gesundheitssystem muss ich an dieser Stelle eine Entwarnung durchgeben: Das italienische Gesundheitssystem ist besser als sein Ruf!
Ja, und damit meine ich vor allem die Erreichbarkeit der Ärzte und der Notfall-Dienstleistungen: Jedes noch so kleine Dorf kann eine „Pubblica Assistenza“, zu deutsch „öffentliche Hilfestellung“ vorweisen, wo Volontäre auf Abruf bereit stehen (ja, auch nachts!) und mehrere Ambulanzfahrzeuge auf ihren Einsatz warten.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Erreichbarkeit der Ärzte: Man darf in der Praxis des Hausarztes auch unangemeldet vorbeigehen, sofern man die Zeit und Geduld mitbringt, Schlange zu stehen (oder sitzen) und zu warten, bis man an der Reihe ist. Doch in Sachen Schlangenstehen sind die Italiener ja bekanntlich geübt und somit kaum aus der Ruhe zu bringen. Die Hausärzte darf man aber auch auf ihr Handy anrufen – tagsüber, denn nachts ist die Pubblica Assistenza da. Undenkbar in der Schweiz, einen Arzt auf seine streng diskret gehaltene Handynummer anzurufen, abgesehen von – vermutlich wenigen – Ausnahmen.
Ich finde bereits diese zwei Pluspunkte sehr beruhigend und musste glücklicherweise noch kaum davon Gebrauch machen. Wenn aber, dann muss ich mich auf lange Wartezeiten gefasst machen. Die „attesa“ kann zermürbend sein, doch wenn man ihr mit einer grossen Portion Philosophie begegnet, hat sie durchaus ihre positiven Seiten: Wo sonst wenn nicht im Wellnesstempel hat man die Möglichkeit, sich von sanfter Entspannungsmusik berieseln zu lassen und in aller Ruhe ein spannendes Buch zu lesen als im Wartezimmer? Oder mit anderen Müttern die verschiedenen Kinderärzte und das Wachstum der eigenen Sprösslinge zu vergleichen, und das ohne Zeitdruck? Bei meiner Kinderärztin stellt die Wartezeit eine spezielle Geduldsprobe dar, denn ein übervolles Wartezimmer lässt sie kalt. Sie übt ihren Beruf mit derartiger Leidenschaft aus, dass sie noch zwei oder mehrere Stunden über der regulären Sprechstunde in ihrer Praxis sitzt und kränkelnde Kinder untersucht. Darauf angesprochen, meinte sie voller Überzeugung: Ich widme mich jedem Kind so lange, wie es dieses braucht. Basta.
Um die endlos lange Wartezeit zu umgehen, haben die gewitzten Italiener den einen oder anderen Trick auf Lager: Die Mütter schicken Väter oder Grosseltern als „Platzhalter“ vor, um dann ein paar Minuten, bevor sie an der Reihe sind, frisch-fröhlich mit dem Nachwuchs zu erscheinen. Oder platzieren sich mit dem Picknick und dem halben Hausrat etliche Stunden vor Sprechstundenbeginn im Umkreis von 20 Metern von der Arztpraxis entfernt. Das sei in Süditalien gang und gäbe, erzählte mir eine Freundin. Doch kaum nähere sie sich der Praxis, tauchten aus dem Nichts Leute auf, die angeblich vor ihr dagewesen sein sollten.
Diesen Trick wende ich mangels Grosseltern vor Ort ebenfalls an: Steht der jährliche (!) Kontrolltermin an, richte ich mich mindestens eine Stunde vor Sprechstundenbeginn mit meinem Nachwuchs im kleinen Garten vor der Arztpraxis ein, bewaffnet mit Hausaufgabenbüchern, Spielen und Imbiss und warte auf die Ankunft meiner Ärztin. Für meine Kinder geht dieser Arztbesuch jeweils glatt als Familienausflug durch!
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Mehr über Sarah und ihre Familie erfährt ihr in im spannenden Interview, das wir mit ihr führen durften!
Seid gespannt auf Sarahs nächster Bericht, in welchem sie uns erzählen wird, warum in Italien an Kindergeburtstagen nichts ohne Eltern läuft.
Sarahs bisher erschienenen Beiträge könnt ihr hier nachlesen:
- Vom Schlangenstehen in der Schneckenpost
- Von wegen Januarloch – In Italien heisst es “Ausverkauf”!
- Festtage all’ italiana: Es geht nichts über Gaumenfreuden
- Alles eine Frage der Verantwortung
- Italien: Sport und andere Aktivitäten im Leben der bambini
- Nach drei Monaten Schulferien: Endlich heisst es Back to School in Italien