berliner zeitung über s21

Erstellt am 27. August 2010 von Nic4u

auch wenn stuttgart ja viel schöner als berlin ist – der bislang beste pressetext zu stuttgart 21 steht meiner meinung nach in der berliner zeitung:

Stuttgart 21
Abriss und Aufruhr
Nicht mit uns: Im sonst so beschaulichen Stuttgart protestieren die Bürger gegen des umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21.

von Josef-Otto Freudenreich

Stuttgart – Oberbürgermeister Wolfgang Schuster kommt durch die Hintertür ins Alte Schloss. Ungelenk und mit eingefrorenem Lächeln. Im Innenhof sitzen die Honoratioren der Stadt, um ihr Weindorf zu eröffnen, eine jährliche Veranstaltung, die viel mit kollektivem Betrinken gemein hat. Doch diesmal ist die Freude getrübt. Draußen vor den Toren, die polizeilich noch schnell abgesperrt wurden, skandieren Demonstranten „Schuster raus“ und unterstützen ihr Verlangen mit Trillerpfeifen, was die Rede des 60-jährigen Christdemokraten empfindlich in ihrer Verständlichkeit stört. Aber so viel ist doch noch zu hören: „Wir lassen uns das Weindorf nicht vermiesen“. Das sagt er ganz tapfer, hebt ein Glas Wasser zum allgemeinen Prosit und entschwindet, eskortiert von der Polizei, durch den Hinterausgang. Er weiß warum. Drei Stunden zuvor ist mit dem Teilabriss des Hauptbahnhofs begonnen worden, und seitdem ist ein Aufruhr in der Stadt, wie sie ihn noch nie erlebt hat. Man nennt Stuttgart inzwischen auch die Hauptstadt des Widerstands.

Zehntausende ziehen durch die Straßen, Kreuzungen und Züge werden blockiert, und ein Ende ist nicht abzusehen. Der Bürgerentscheid, den Schuster einst versprochen hat, findet jetzt mit den Füssen statt. Angefangen hat es mit den Montagsdemos, die mittlerweile in die vierzigste Folge gehen, mit renitenten Schwaben, die ihre Fahnen hoch halten, in Vuvuzelas blasen, auf Topfdeckel schlagen, „oben bleiben“ brüllen und Menschen wie Wolfgang Drexler ratlos zurück lassen. Er versteht die Welt nicht mehr. Vom sechsten Stock eines angestaubten Verwaltungsbaus hat er den besten Blick auf den Nordflügel des Bahnhofs, wo sich der Zorn ballt, und er muss feststellen, dass es von Mal zu Mal mehr werden, was nicht unbedingt für den Erfolg seiner Arbeit spricht. Der 64-Jährige ist Sprecher des Prestigeprojekts Stuttgart 21, abgekürzt S 21. Seit geraumer Zeit trinkt er Tee statt Kaffee. Das Koffein mache ihn aggressiv, sagt er. Nebenher ist der Sozialdemokrat auch noch Vizepräsident des Landtags, aber das hilft nicht wirklich weiter, weil er für die da unten nur das verkörpert, wogegen sie seit Monaten anrennen: den schwäbischen Filz aus Politik und Wirtschaft.

Natürlich schafft Drexler wie ein Brunnenputzer für die „Jahrhundertchance“, sein Duktus hat bereits ICE-Tempo, das nächste Mikrofon wartet. Aber irgendwie funktioniert das nicht so wie im Parlament, wo er vor allem als Rabauke aufgefallen ist, und die Rolle des Integrators und Moderators, die ihm Bahnchef Rüdiger Grube zugedacht hat, ist eine glatte Fehlbesetzung. Und dann parken da unten, klagt Drexler, sozusagen als äußerer Schutzschild um die Demonstranten, auch noch die Porsche Cayennes der Bourgeoisie, die sich von der Halbhöhe herunter begeben hat, um den Wert ihrer Immobilien zu erhalten. Wenn’s denn nur das übliche Protestvolk wäre, die Grünen oder Greenpeace oder attac. Das sind Gegner, die ein Politprofi packen kann.
Aber was soll er den Perlenkettenwitwen vom Killesberg sagen? Dass ihnen die SPD, wie weiland Klaus Staeck warnte, die Villen weg nehmen will? Wo es doch allenfalls ein bisschen wackelt, stinkt und lärmt, wenn bis 2019 und darüber hinaus gebuddelt wird. Der neue Bürstenhaarschnitt, der wohl Dynamik vermitteln soll, macht den Wortschwall auch nicht durchschlagskräftiger.

Seitdem das so ist, mit den schwäbischen Revoluzzern, üben sich auch auswärtige Beobachter in Beschreibungsversuchen. Die einen sehen Stuttgart entgleist, die anderen auf den Barrikaden, die nächsten in der Hamburger Hafenstraße und alle wundern sich, warum in dieser Stadt, in der sie immer den Hort der Biederkeit wähnten, plötzlich brave Bürger die Wege für ander Leute heilig’s Blechle versperren. Das sei gar nicht gut für die Neckarmetropole, argwöhnen ihre Tourismuswerber. Sie berichten bereits von Problemen, Gäste davon zu überzeugen, dass der Schwarze Block die Königsstraße noch nicht eingenommen hat. Auch Investoren seien scheu wie Rehe. Sie kämen und blieben nur wegen der langfristigen Stabilität des Ballungsraums am Nesenbach. Schließlich stehe Stuttgart, so glauben sie, für Werte wie Sicherheit und Ordnung. Für „Let’s putz“ eben, wie OB Schuster einst seine fulminante Meister-Proper-Kampagne genannt hat, an der sich alle Untertanen beteiligen sollten.

Lustig ist auch, dass alle Walter Sittler entdecken. Ist das nicht der, der mit Mariele Millowitsch in der Comedyserie Nikola aufgetreten ist? Der mal einen Kommissar oder Diplomaten gespielt hat, der immer so sympathisch rüber gekommen ist und jetzt der bekannteste Kopf der S 21-Gegner ist, die Ikone des zivilen Ungehorsams? Er ist’s tatsächlich. Ein unprätentiöser, ernsthaft formulierender Mensch. „Sie werden mich weg tragen müssen“, betont er, „die Polizei tut mir heute schon leid“. Er gehört zu den 21390 Parkschützern, die sich vor die störenden Bäume im Schloßgarten stellen werden, und er weiß, dass dieses Bild durch die Republik gehen würde.

Der 57-jährige Schauspieler ist zum ersten Mal in seinem Leben auf die Straße protestieren gegangen, weil er das teuerste Infrastrukturprojekt Europas für einen „Kannibalen“ hält, der alles frisst. Das Geld für die Kindergärten, die Schulen, die Theater und den „Rest von demokratischen Strukturen“. Das hat er auch Drexler erzählt, worauf der ihm nur geantwortet hat, dass alles demokratisch legitimiert sei. Abgesegnet von den Parlamenten in der Stadt, in der Region und im Land. Offenbar hat Sittler das so wenig beeindruckt, dass er bei nächster Gelegenheit von einem Kartell sprach, das man „eher bei Silvio Berlusconi und seinen Hintermännern“ vermuten würde.

Das ist selbstverständlich übertrieben, weil es in Stuttgart keine Mafia geben kann. Man spricht hier lieber von einer Maultaschen- oder Spätzlesconnection, die sich in jahrzehntelanger CDU-Herrschaft zusammen gefunden hat. Zu ihr gehören die jeweiligen Ministerpräsidenten, Landräte, Oberbürgermeister, Bankdirektoren und Unternehmer, die sich allesamt, wie zufällig, im Unterstützerkreis von Stuttgart 21 wieder treffen. Oder, wie der Stuttgarter Finanzbürgermeister Michael Föll, im Beirat jenes Bauunternehmens, das den Zuschlag für den Abriss des Nordflügels erhalten hat. (Der Ordnung halber: Nach Bekanntwerden der delikaten Personalie war der Nebenjob erledigt).

Alles nur zum Wohl des Bürgers, der halt noch nicht kapiert hat, dass mit S 21 die Zukunft seiner Enkel gesichert wird. Das muss dem Steuerzahler den Aufwand wert sein, dessen Höhe, je nach Standort, mit 4,5 Milliarden Euro (Befürworter) oder zehn Milliarden Euro (Gegner) beziffert wird. Und weil das so ist, muss Drexler mantramäßig verkünden, dass der Bau unumstößlich, unumkehrbar und nicht mehr kompromissfähig ist. Selbst dann noch, wenn 30 000 auf den Beinen sind.

Kein Wunder, dass sie das „Milliardengrab“ längst nicht mehr als bloßes Verkehrsprojekt betrachten. Es ist für sie zu einer Metapher für eine kaltschnäuzige Cliquenwirtschaft geworden, zum Inbegriff einer abgehobenen, arroganten Klasse, die ihren Mythos einer Gesellschaft pflegt, in der nur Schnelligkeit, Fortschritt, Wachstum und die Bezwingbarkeit der Natur zählen – und die nicht mehr darüber redet. Sie hat sich in ihren Büros eingebunkert, kein Ministerpräsident, kein Bahnchef, kein Oberbürgermeister sucht mehr den Dialog. Doch Achtung: Bei so viel Borniertheit kann der Schwabe grundsätzlich und fuchsteufelswild werden, und am Ende den Marbacher Friedrich Schiller zitieren: „Der Schein regiert die Welt, und die Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne.“ Ist es einmal so weit, wird er bockig.

Der Schwabe und verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Hermann, kennt diese Welt aus dem Bundestag. Technikfeind, Modernisierungsgegner, Ewiggestriger – alles hat er sich anhören müssen, wenn er beharrlich gegen den „Größenwahn“ zu Felde gezogen ist. Seine S 21-Anfragen an die Regierung füllen Aktenordner, die nichtssagenden Antworten auch, bis er am Ende begriffen hat, dass dahinter Methode steckt. Ein politisches Projekt wie Stuttgart 21, so wurde ihm bedeutet, ist nicht kritisch zu debattieren, es ist einfach umzusetzen. Koste es, was es wolle.

Das ist der Boden, aus dem der Protest wächst. Mitten in der Gesellschaft. Es sind Architekten und Denkmalschützer, die für den Erhalt des historischen Bahnhofs kämpfen. Verkehrsplaner, die vor einem Infarkt des Zugverkehrs warnen. Gärtner, die das Abholzen von 200 Jahre alten Platanen, 280 an der Zahl, für einen Frevel halten. Geologen, die um die Reinheit der Mineralquellen und die Stabilität der Tunnel mit einer Länge von insgesamt 33 Kilometer fürchten. Und es sind Promis wie der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter und der Sternekoch Vincent Klink, die ihre Namen unter einen „Stuttgarter Appell“ setzen, in dem ein Moratorium sowie ein Volksentscheid gefordert wird – gefolgt von 36 000 weiteren Unterzeichnern.

Interessant wird sein, wie lange der Block aus CDU und SPD dem Trommelfeuer stand halten wird. Noch gibt die Union den Hardliner, agiert, als hätte sich nichts verändert, als lebte sie immer noch in der Zeit, in der sie so tat, als gehöre ihr die Stadt. Fern der Erkenntnis, dass sie, auch wegen Stuttgart 21, im Juni 2009 als kommunaler Platzhirsch abgewählt wurde und den Grünen Platz machen musste. Noch stemmt sich die Sozi-Spitze gegen den Widerstand in der eigenen Partei, die sehenden Auges in ein weiteres Debakel stürzt. Warum auch nicht, wenn bereits ausgedealt sein soll, wer nach den Landtagswahlen im März 2011 auf der Regierungsbank sitzen wird: Die dezimierte CDU mit der marginalisierten SPD, was immer noch für die Mehrheit reicht und die Grünen außen vor lässt. Die nämlich seien, sagen die Augen-zu-und-durch-Genossen, „nicht regierungsfähig“ solange sie gegen Stuttgart 21 sind. Stefan Mappus, der schwarze Ministerpräsident, muss das dann nur noch seiner Kanzlerin erklären.

Dieses Geschacher, Pöstchensichern, machtpolitische Taktieren, schafft zusätzlich Verdruss bei den Menschen, die sich fragen, wem sie eigentlich noch trauen können. Sie sehen sich als Figürchen auf Reißbrettern, deren Skizzen sie nicht kennen, als Objekte in tiefliegenden Plänen, auf deren Gestaltung sie keinen Einfluss haben. Geplant war nur nicht, dass sie ihre Rolle als Zaungäste der Demokratie und der vorgespiegelten Moderne satt haben.

Statt zuzugucken rennen sie dem Hausregisseur des Staatstheaters, Volker Lösch, die Bude ein, um in seinem Bürgerchor mitzumachen, der, im Stile der Antike, die Herrschenden anklagt. Bei Kahlkopf Lösch, dem Rächer der Enterbten, wissen sie sich gut aufgehoben, schließlich hat er zuletzt seinen Hamlet Flaschen in den Sumpf rammen lassen, unter voller Namensnennung. Zetsche, Cordes, Cromme, Bischoff. Zusammen mit Sittler hat Lösch auch den „Schwabenstreich“ ins Leben gerufen. „Lasst es krachen, fetzen, knallen“, fordert das Demoduo, und die Schwaben folgen. Jeden Tag, pünktlich um sieben Uhr abends, lärmen sie mit Tröten, Kochtöpfen, Autohupen durch die Straßen, dass Gott erbarm. Selbst Steuerberater und Omas aus dem Altersheim sind dabei schon ertappt worden.

Schöner ist ein anderes Symbol der neuen Protestkultur: der Bauzaun am Hauptbahnhof, den man getrost als Kunstmeile bezeichnen darf. Hier hängen hunderte, wenn nicht tausende Bekundungen besorgter Bürger. Manche erwartbar („Lügenpack“), manche anrührend wie das kleine Plakat von Italienern, die daran erinnern, wie sie als Gastarbeiter an der stazione termini angekommen sind und dort Billard gespielt haben. Viele liebevoll drapiert, mit Fotomontagen, gestickten Tüchern oder Entchen im Plastikpack („S21 kann baden gehen“), bis hin zu den Ermunterungen eines Ernst Blochs: „Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt“.

Wenn sie klug wären, die getriebenen Betreiber von Stuttgart 21, würden sie damit werben. Wo sonst im Land ist derzeit so viel Kreativität, Spontaneität und Leidenschaft? Aber sie sind nicht klug.

Berliner Zeitung, 26.8.2010