Morgen wird gewählt, und die Berliner SPD will mir Lebensgefühl andrehen. „184 Nationalitäten – 1 Stadt – 1 Lebensgefühl“ prangt mir vom Wahlplakat entgegen. Das klingt schick, ist aber fatal.
Nehmen wir den Spruch mal auseinander. Gegen die ersten beiden Teile ist nichts einzuwenden. Es leben Menschen mit 184 Nationalitäten hier, es ist aber trotzdem 1 Stadt. Ergänze: Und das ist gut so. Alle Menschen haben ihren Platz hier, und wir sollen respekt- und rücksichtsvoll miteinander umgehen. Soweit alles klar.
Aber warum zum Teufel soll ich auch dasselbe Lebensgefühl haben wie die pelztragende alte Dame, die ich neulich in Zehlendorf zur CDU-Veranstaltung eilen sah, oder der türkische Rapper aus der Sonnenallee oder der Mitte-Yuppie, der in lukrative „Objekte“ investiert oder der biertrinkende Rentner aus Köpenick? Das angenehme fand ich hier immer, dass man mich machen lässt und mir nicht vorschreibt, was ich zu denken und zu fühlen habe. Es leben, man höre und staune, sogar Leute hier, die Berlin scheiße finden und auf das Berliner Lebensgefühl pfeifen! Echt, ja. Alles kein Problem.
Erstaunlicherweise geht auf städtischer bzw. regionaler Ebene in Deutschland problemlos, was auf nationaler Ebene verpönt ist: das Pathos einer Leitkultur zu beschwören. „Ein echter Berliner macht…“ geht klar, während „Ein echter Deutscher macht…“ verboten ist. Beides ist genauso bescheuert. Ich muss weder treu und tiefsinnig sein, um ein echter Deutscher zu sein, noch lässig, weltoffen und unverblümt, um ein echter Berliner zu sein. In Berlin gibt es dreieinhalbmillionen Lebensgefühle.
Besonders seltsam klingt der Wahlslogan der SPD wegen seiner suggestiven Dreigliedrigkeit. Haben wir nicht ähnlich konstruierte Sprüche schon früher mal gehört? Vom Schwarzwald… aus Dresden… von der Donau… von der Saar… 1 Volk – 1 Führer – 1 Reich! – ???
Aus vielem wird eins – „e pluribus unum“ – aber, und das ist das entscheidende: es wird nicht ein abstraktes Gebilde daraus, ein Staat oder eine Stadt, sondern etwas ganz konkretes, etwas emotionsgeladenes: ein Lebensgefühl, oder ein Führer. Ich muss nicht nur die Gesetze befolgen – ich muss sie lieben. Fuck you.
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„Miethaien Zähne ziehen“ erzählen mir die Grünen. Ja, ich finde die Mieten auch unangenehm hoch. Ich bin ebenfalls besorgt, dass in zehn Jahren die Berliner Künstlerszene, deren Teil ich bin und die immer noch so unvergleichlich ist, verschwinden könnte. Ich denke ebenfalls, dass die Politik Maßnahmen ergreifen sollte, damit aus Berlin kein London oder Paris wird. Sofern sich das überhaupt verhindern lässt. Was ich nicht beurteilen kann.
Aber mir geht es hier nicht um den Inhalt, sondern um die Sprache. Die Grünen machen zweierlei: sie vergleichen Menschen mit Tieren, und sie rufen – metaphorisch – zur Körperverletzung auf. Das stellt offensichtlich für niemanden ein Problem dar, weil es ja „die richtigen“ trifft.
Nun ist zweifellos der Vergleich mit einem Hai nicht so verletzend wie z.B. mit einer Kakerlake, und ebenso ist es ein Unterschied, ob ein Mensch aufgrund seiner Herkunft oder aufgrund seines Verhaltens zum Tier gemacht wird. Aber ist es deswegen in Ordnung? Wo ist die Grenze? Welche Tiere sind erlaubt? Haie sind ok, Affen nicht? Kakerlaken sind verboten, Heuschrecken nicht? Was ist mit Dinosauriern? Pinschern? Eseln? Zecken?
Überall, wo Menschen zu Tieren gemacht werden, geht es um das Schüren personenbezogener Abneigung. Man könnte die Botschaft der Grünen zweifellos auch sachlich („Immobilienspekulanten gesetzliche Grenzen setzen“) oder sogar impersonal formulieren („Immobilienspekulation gesetzlich begrenzen“). Aber das brächte wahrscheinlich weniger Stimmen. Darum spitzt man das Feindbild emotional an und ruft dann diesem Feindbild gegenüber zu einer metaphorischen Gewalttätigkeit auf, die man bei echten Haien niemals dulden würde. Wow, endlich darf auch der Grüne mal Tiere quälen! Yippie!
Wie gesagt: Haie sind kein Ungeziefer – sie sind nicht würdelos, sondern stark und gefährlich. Und „Zähne ziehen“ ist nicht zertreten oder Insektenvergiftungsmittel versprühen. Die Grünen überschreiten nicht die Grenze zum Unerträglichen. Trotzdem sind solche Sprüche nicht gut.
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Näher an diese Grenze kommt die AfD. Sie plakatiert im Großformat Abwehrkräfte. Auf ziemlich perfide Weise werden hier drei grundverschiedene Vorgänge zu einem Wort zusammengefasst.
Die eigentliche Bedeutung von „Abwehrkräfte“ ist das körperliche Immunsystem. Bei den „Abwehrkräften“, die die AfD auf dem Plakat zeigt, handelt es sich hingegen um Pfefferspray zur Abwehr möglicher Übergriffe von Flüchtlingen/Migranten auf Frauen. Diese „Abwehrkräfte“ sind jedoch nur die zweitbeste Lösung: die beste Lösung wäre, AfD zu wählen. Denn dies, so soll ganz offensichtlich suggeriert werden, wird die „Abwehrkräfte“ in Form von Pfefferspray überflüssig machen. Warum? Weil die AfD über noch bessere Abwehrkräfte verfügt: nämlich die Rückführung von Flüchtlingen, die Begrenzung der Aufnahmezahlen etc.
Die politische Abwehr von Flüchtlingen wird hier über die Bande sprachlich mit der körperlichen Abwehr von Krankheitserregern, Fremdkörpern und sonstigen Schädlingen durch das Immunsystem parallelgeführt. Flüchtlinge werden mit Viren oder Bakterien verglichen. Zum „gesunden Volkskörper“ ist es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt.