Berlinale 2012: Menschen

Von Denis Sasse @filmtogo

Man könnte es „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Berlinale Zeit“ nennen, wollte man das derzeit in Berlin umhertreibende Volk unter einen Filmtitel zusammenfassen. Was der spätere ‚Sophie Scholl‘-Regisseur Marc Rothemund 1998 in seinem Film inszenierte, lässt sich in diesen Tagen wunderbar in der deutschen Hauptstadt wiederfinden. Es geht nicht, wie der eigentliche Filmtitel verlauten lässt, um die sexuellen Triebe der anwesenden Besucher, Journalisten oder Bürger, sondern vielmehr um deren Auseinandersetzung mit dem Alltag inmitten des Filmfestivals.

Er will einfach nur lesen, während die Pressekonferenz im Gange ist.

Welche Gruppen von Menschen treffen hier aufeinander? Oben wurden sie bereits genannt. Zuallererst lockt ein solcher Event natürlich die Presse aus allen Ecken der Welt in die Stadt. Da ist die schreibende Zunft, die sich mit Notizblock bewaffnet, irgendwo in eine Ecke hockt um einen Stift nach dem anderen zu verbrauchen. Diese Gattung der Journalisten findet man auch schon einmal beim Lesen einer Zeitung inmitten einer Pressekonferenz wieder. Was vorne geschieht, ist erst einmal egal. Das Weltgeschehen will nebenher auch noch aufgesogen werden. Vielleicht hört man ja das ein oder andere Schlagwort und es lohnt sich daraufhin hellhörig zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt allerdings, wundert sich der Beobachter, dass hier nicht noch eine selbstgeschmierte Stulle aus der Tasche hervorgezaubert wird. Nicht alle Schreiberlinge greifen derweil auf den alteingesessenen Notizblock zurück. Da wird auch schon einmal ein iPad in die Höhe gehalten, um einfach die gesamte Veranstaltung aufzuzeichnen – zum späteren vor- und zurückspulen natürlich ideal, um sich Freunde unter seinen Kollegen zu machen wiederum nicht. Denn spätestens hier meldet sich die Fotografen- und Kameramannfront der Journalistengattung zu Wort, denen ein iPad im Bild natürlich gar nicht schmeckt. Und vor diesen Menschen sollte man besonders viel Angst haben. Sie sind die Prügelknaben ihrer Zunft. Sie schwingen mit ihren Utensilien, als hätten sie Schädel zerschmetternde Knüppel in ihren Händen. Ihre Ellbogen scheinen eine besondere Menschen abwehrende Hornhaut entwickelt zu haben. Sobald man sie nicht in einem Raum eingepfercht, sondern in freier Wildbahn wiedertrifft, sind sie in der Lage, mehrere Tage eine Tür zu besetzten, nur für den Fall, dass sich ihnen die Gelegenheit bietet, zehn Sekunden lang Fotos von einem vermummten B-Promi zu machen. Und wenn man sich mit Journalisten ins Kino setzt, muss man aufpassen, dass man nicht auf das Vorurteil hereinfällt, dass diese immer zu spät zu einem Termin kommen. Denn bereits eine halbe Stunde vor Filmbeginn, ist es auf der Berlinale schon schwer, noch einen Sitzplatz zu bekommen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die ersten Badehandtücher herausgeholt werden, um bereits einen Tag vor der Filmvorführung einen Sitzplatz als den seinen zu markieren.

Schlange stehen für Kinotickets

Die Besucher haben aber auch keine besseren Eigenarten zu bieten. Da ist es schon einmal ein emotional schwer zu tragendes Schicksal, wenn ausgerechnet zum Berlinale-Start eine Beziehung zerbricht. Nicht umsonst werden unter Jugendlichen Unterhaltungen geführt, die mit einem „Mensch, das verdirbt dir jetzt aber wirklich die Berlinale, dass er ausgerechnet heute mit dir Schluss gemacht hat“ beendet werden. Und das nette Ehepaar, welches so ausschaut, als würde es den normalen Alltag mit dem Konsum vom Privatsender Vormittagsprogramm verbringen, quittiert das Auflaufen der Stars und Sternchen am roten Teppich mit einem „Im Fernsehen würden wir jetzt doch auch nix anderes gucken“. Im Fernsehen hätten diese Besucher sich jedoch zweistellige minus Grade und den dazugehörigen Schnee ersparen können, über den dann aber doch noch gemurrt werden muss. Nichtsdestotrotz sind Kinogänger zur Berlinale-Zeit offenbar weitaus robuster. Da steht man nicht nur blaugefroren in der Kälte, sondern nimmt auch schon einmal zwei Stunden am Ticketschalter auf sich, um eine Karte für seinen hoffentlich zukünftigen Lieblingsfilm zu bekommen, der zumeist erst in unfassbaren zwei oder drei Wochen seinen offiziellen Kinostart feiern würde. Welcher normal sterbliche Kinogänger würde sich im Alltag wohl zwei Stunden an die Kinokasse stellen ohne dabei auch nur die Miene in Richtung Wutausbruch zu verändern?

Und was machen eigentlich die Berliner zu dieser Zeit? Wenn man darüber nachdenkt, dass die beiden oben beschriebenen Bevölkerungsschichten frei in der Stadt herumlaufen dürfen, sollte man sich als Berliner wahrscheinlich besser in den heimischen vier Wänden einschließen, seinen Urlaub auf diese Zeit des Jahres legen oder mit den Besuchern sympathisieren, aber doch das nötige Maß an Lebens- und Berlinale-Erfahrung nutzen, um den großen Menschenanstürmen aus dem Weg zu gehen.