Berlin: Verdrängung als Geschäftsmodell

Berlin: Verdrängung als GeschäftsmodellFür das Festival „Berlin bleibt!“ am Berliner HAU rund um das Musical zur Wohnungsfrage „Stadt unter Einfluss“ (von Christiane Rösinger) habe ich eine Beitrag für das Begleitheft (pdf) geschreiben: „Wohnungskrise in Berlin: Verdrängung als Geschäftsmodell„. Das Musical von Christiane Rösinger ist ein sehenswertes und mutmachendes Spektakel.

Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit, ganz besonders in Berlin. Auf der Straße, in Bars und Büros – wo man hinhört, Mieter*innensorgen: Angst vor Modernisierung und Mietsteigerung, vor Verdrängung, Umwandlung und Wohnungsnot. Auch in anderen Kreisen spricht man über das Wohnen, aber nicht über das Wohnen als Zuhause, sondern als Kapitalanlage. Berlin ist eine Stadt unter Einfluss, unter schlechtem Einfluss. Aber die Berliner*innen haben angefangen sich zu wehren: 40.000 Menschen gingen für die “Mietenwahnsinn”-Demo im Mai auf die Straße. Etwa zur gleichen Zeit hat Christiane Rösinger im Auftrag des HAU ein Musical zur Mieter*innenbewegung erarbeitet. Die Musikerin und Autorin, die seit 30 Jahren mit ihren Bands Lassie Singers, Britta und auch solo über Berlin singt und schreibt, bringt die Wohnungsfrage mit acht Musiker*innen und einem Chor aus Kreuzberger und Neuköllner Mietaktivist*innen auf die Bühne. Als Spezialist*innen in Sachen Verdrängung und Mieter*innensorgen singen und tanzen sie ihre eigenen Geschichten. Am Ende wird natürlich alles gut – es ist schließlich ein Musical!

Meinen Festivaltext gibt es auch hier zu lesen:

Wohnungskrise in Berlin: Verdrängung als Geschäftsmodell

von Andrej Holm

Seit Jahren kennen die Mieten in Berlin nur eine Richtung: nach oben. Aufwertung und Verdrängung beschränken sich dabei nicht mehr auf hippe und angesagte Nachbarschaften, sondern haben weite Teile der Stadt erfasst. Gentrifizierung ist zur Regel geworden und Mietsteigerungen lassen sich nicht mehr auf kulturelle Aufwertungen und veränderte Lebensstile in einzelnen Stadtteilen zurückführen. Wer nicht zahlen kann, hat kaum noch eine Chance auf eine Wohnung in Berlin. Kein Wunder also, dass Mieter*inneninitiativen und inzwischen weit über 100 Hausgemeinschaften versuchen, ihr Recht auf Wohnen zu verteidigen und eine Sozialisierung der Wohnungsversorgung vorschlagen. Immobilienlobby und Teile der Politik kennen nur eine Lösung und setzen auf „bauen, bauen, bauen!“. Doch die steigenden Mieten im Bestand, die Verdrängung durch Modernisierungsankündigungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen sind nicht allein durch den Wohnungsmangel zu erklären und leistbare Mieten für Haushalte mit weniger Geld werden nicht durch die unsichtbare Hand des Marktes entstehen, sondern müssen durch Mietschutz erhalten und durch die Ausweitung des gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbestandes aktiv geschaffen werden.

Ertragserwartungsspekulation
Die letzten zehn Jahre zeigen, warum sich Investor*innen über die Veränderungen in Berlin freuen dürfen: Steigende Mieterträge, immer höhere Verkaufsgewinne und ein boomender Grundstücksmarkt haben den Berliner Wohnungsmarkt in eine Goldgrube für anlagesuchendes Kapital verwandelt. Allein zwischen 2008 und 2018 sind die durchschnittlichen Bestandsmieten – also die Mietpreise in Wohnungen mit alten Mietverträgen – um 37 Prozent (von 4,79 €/m² auf 6,56 €/m²) gestiegen. Insbesondere für Haushalte mit geringen Einkommen sind diese Mietentwicklungen mit einem deutlichen Anstieg der Mietkostenbelastung verbunden. Schon jetzt liegt die mittlere Mietkostenbelastung in Berlin bei 32 Prozent – als leistbar gelten Wohnungen, wenn die Bruttowarmmiete 30 Prozent des Einkommens nicht übersteigt. Für die Hälfte aller Berliner Haushalte sind also schon die vergleichsweise günstigen Bestandsmieten zu teuer.

Die Steigerung der Neuvermietungsmieten betrug im selben Zeitraum sogar 78 Prozent. Statt bei 6,00 €/m² (2008) liegt die durchschnittliche Neuvermietungsmiete inzwischen bei 10,70 €/m² (2018). Vor allem in den attraktiv geltenden Innenstadtlagen werden noch deutlich höhere Mietpreise verlangt, so dass dort auch die Differenz zu den Bestandsmieten höher ausfällt. Schon der durchschnittliche Mietsprung von mittlerweile über 4 €/m², der durch einen neuen Mietvertrag erreicht werden kann, stellt sich aus der Sicht vieler Eigentümer*innen als erhebliche Ertragslücke dar, die es zu schließen gilt. Je höher der Abstand zwischen Bestands- und Neuvermietungsmieten, desto höher auch der ökonomische Anreiz, die bestehenden Mietverträge aufzulösen. Die Verdrängung von Altmieter*innen hat sich in Berlin zu einem zentralen Geschäftsmodell entwickelt, da mit der Verdrängung die Mieten in vielen Lagen auf einen Schlag verdoppelt oder sogar verdreifacht werden können. Übertroffen werden die Verdrängungsgewinne der Neuvermietung nur von der Umwandlung in Eigentumswohnungen. Die Kaufpreise für Eigentumswohnungen sind von durchschnittlich 1.540 €/m² (2008) auf 4.098 €/m² (2018) gestiegen und haben sich damit fast verdreifacht. Entsprechend hoch ist der Anreiz, Wohnungen umzuwandeln und zu verkaufen.

Egal, ob Neuvermietung oder Umwandlung – für die Mieter*innenschaft ist jede Ertragssteigerung mit einer Verdrängung aus ihren Wohnungen verbunden. Diese Situation ist der ökonomische Kern der Gentrifizierung, denn die Verdrängung ist nicht nur Nebeneffekt einer wohnungswirtschaftlichen Aktivität, sondern wird zur notwendigen Voraussetzung für die Realisierung wirtschaftlicher Höchstrenditen.

Das Geschäft mit der Verdrängung beschränkt sich nicht länger auf Nischen des Wohnungsmarktes, sondern ist zu einem stadtweiten Trend geworden und hat eine regelrechte Marktextase ausgelöst. So wurden in den Jahren von 2009 bis 2018 insgesamt fast 240.000 Eigentumswohnungen verkauft – die meisten davon im Bestand. Der Umsatz dieser Verkäufe hat sich von 1,9 Mrd. Euro für 16.000 verkaufte Wohnungen im Jahr 2009 auf einen Jahresumsatz von über 6 Mrd. Euro (für knapp 22.000 Wohnungsverkäufe) im Jahr 2018 erhöht.

Insgesamt wurden in den letzten zehn Jahren fast 140 Mrd. Euro für Immobilientransaktionen ausgegeben. Davon entfallen etwa 8 Prozent (11 Mrd. Euro) auf unbebaute Grundstücke, 32 Prozent auf Eigentumswohnungen (45 Mrd. Euro) und mit 60 Prozent (fast 84 Mrd. Euro) der größte Anteil auf bebaute Grundstücke. Diese Umsätze sind keine Investitionen in Steine, sondern ausschließlich in Eigentumstitel, die zur Abschöpfung der Grundrente berechtigen. Statt also in den dringend benötigten Wohnungsbau zu investieren, konzentrieren sich die Ausgaben auf den Erwerb von Bestandsimmobilien – also von zumeist bewohnten Häusern. Oft wird begründet, die hohen Kaufpreise gingen auch auf die günstigen Zinsen zurück, doch letztendlich werden die Investitionen in den Immobilienerwerb aus den Mieterträgen bzw. den Verkaufseinnahmen umgewandelter Eigentumswohnungen refinanziert werden müssen, wenn das Geschäft mit dem Betongold aufgehen soll. Die steigenden Preise für Immobilien und Eigentumswohnungen sind dabei nichts anderes als eine Anzahlung auf die künftigen Gewinne aus den Häusern und Wohnungen. Eine ökonomische Rationalität unterstellt, dass hinter jedem gezahlten Kaufpreis eine Ertragserwartung steht, die die bisherigen Einnahmen aus den Bestandsimmobilien bei Weitem überschreitet. Sollen sich die investierten Milliardensummen tatsächlich rentieren, müssen die künftigen Einnahmen enorm gesteigert werden. Die Verdrängung der Bestandmieter*innen ist in den Verkäufen einer solchen Ertragserwartungsspekulation bereits eingepreist und wird als Verdrängungsdruck für viele Hausgemeinschaften sichtbar. Egal, ob sich die Verdrängung als energetische Modernisierungen, Eigenbedarfskündigungen, Vernachlässigung der Bausubstanz oder Schikanen durch den*die Eigentümer*in vollzieht – fast alle Verdrängungsgeschichten beginnen mit dem Satz: „Und dann kam der neue Eigentümer.“

Berlin kann Vorbild für eine soziale Wohnungspolitik im 21. Jahrhundert werden
Die jüngsten Veränderungen in Berlin zeigen deutlich, dass soziale Aspekte des Wohnens auf der Strecke bleiben, wenn der Ökonomie der Maximalverwertung freie Hand gelassen wird. Mit den massiven Privatisierungen der letzten Dekaden – in Berlin wurden mehr als 220.000 landeseigene Wohnungen verkauft – haben die politischen Entscheidungsträger wesentlich zur aktuellen Situation beigetragen. Der Verkauf des wohnungspolitischen Tafelsilbers hat nicht nur die kommunalen Handlungsspielräume in Berlin verringert, sondern vor allem Private Equity Fonds, Hedgefonds, börsennotierten Wohnungsunternehmen und anderen institutionalisierten Anleger*innen die Türen zum Berliner Wohnungsmarkt geöffnet. Diese Finanzialisierung der Wohnungsversorgung bedeutet für die Mieter*innen vor allem eines: Die Bewirtschaftung der Wohnungsbestände entkoppelt sich sowohl von den Gebäuden als auch von dem eigentlichen Vermietungsgeschäft. Wohnen ist nicht länger der Zweck der Vermietung, sondern nur noch notwendige Begleiterscheinung einer wirtschaftlichen Optimierung.

Egal, ob die neuen Wohnungsunternehmen Deutsche Wohnen, Aspire oder Taekker Immobilien heißen; egal, ob die Häuser internationalen Fonds, anonymen Verwertungs-GmbH oder Luxemburger Briefkastenfirmen gehören: Solange Immobilien unter der Maßgabe der Gewinnoptimierung bewirtschaftet werden, werden steigende Mieten und Verdrängungsangst den Alltag der Berliner Mieter*innen prägen. Soziales Wohnen muss immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden.

Die Mietenproteste der vergangenen Jahre habe viele konkrete Forderungen formuliert, wie eine sozial orientierte Wohnungspolitik aussehen könnte. Vor allem eine grundlegende Wende der Liegenschaftspolitik, eine Ausweitung der öffentlichen Wohnungsbestände und ein besserer Mietschutz zählen mittlerweile auch zu den Zielen der Landespolitik in Berlin. Um den Verwertungsdruck eines entfesselten Immobilienmarktes zu stoppen, wird es aber nicht ausreichen, die Mietpreise, das Umwandlungsgeschehen und die Modernisierungsaktivitäten ein wenig strenger zu regulieren. Milieuschutzsatzungen und Mietpreisbremsen allein werden die Mieter*innen in Berlin vor Verdrängung nicht schützen können. Notwendig wäre vielmehr eine Immobilienpreisbremse, die den Handel mit Grundstücken und Immobilien einschränkt und die Ertragserwartungen drosselt. Denkbar wäre beispielsweise die Festlegung von Höchstpreisen für Grundstücke und Immobilien, die sich an den potenziellen Erträgen einer rechtskonformen Bewirtschaftung orientieren. Eine solche Preiskappung würde nicht nur die Logik von Verkaufsketten zu immer höheren Preisen durchbrechen, sondern es auch kommunalen, genossenschaftlichen und gemeinnützigen Bauträgern ermöglichen, Projekte zu leistbaren Mieten in Berlin umzusetzen. Letztendlich wird die soziale Stadtentwicklung davon abhängen, ob es gelingt, den Anteil der nicht profitorientierten Wohnungsbestände auszuweiten. Eine verstärkte Anwendung von Vorkaufsrechten und auch die Möglichkeit der Enteignung (gegen Entschädigung) zur Sicherung der Wohnversorgung für alle Einkommensgruppen werden zurzeit in Berlin und anderen Städten intensiv diskutiert und zeigen, dass ein Umdenken im Bereich der Wohnungspolitik zumindest auf der lokalen Ebene möglich ist.

Flankierend dazu müssen die Instrumente des Mietschutzes ausgebaut und konsequenter umgesetzt werden. Eine Abschaffung der Modernisierungsumlagen, der Ausschluss von befristeten Mietverträgen und Staffelmietvereinbarungen, eine effektive Begrenzung der Neuvermietungsmieten sowie die Ausweitung der gemeinwirtschaftlich verwalteten Wohnungsbestände stehen ganz oben auf der Liste der Forderungen von Mieter*inneninitiativen und Verbänden. Der zurzeit diskutierte Mietendeckel verspricht einen Zeitgewinn, grundlegende Reformen der Mieten- und Wohnungspolitik umzusetzen.

Rückblickend auf 30 Jahre Neoliberalismus und den Raubbau an den Instrumenten einer wohlfahrtsstaatlichen Wohnungspolitik erscheinen die Forderungen zur Rückgewinnung einer sozialen Stadtpolitik utopisch – angesichts der aktuellen Entwicklungstendenzen sind sie vor allem eines: notwendig. Wenn eine Stadt zur Entwicklung einer sozialen Wohnungspolitik im 21. Jahrhundert prädestiniert ist, dann Berlin. Kaum eine andere Metropole hat einen so hohen Mieter*innenanteil, in wenigen anderen Städten wird so viel über die Wohnungskrise gesprochen und nirgendwo gibt es so viele organisierte Hausgemeinschaften wie in Berlin. Schon die letzten Wahlen haben gezeigt, dass gegen die Interessen der Mieter*innen keine Mehrheiten zu gewinnen sind. Wenn es gelingt, die noch vielfach bestehenden Fragmentierungen der vielen Basisinitiativen zu überwinden und eine gemeinsame Agenda zu formulieren, können auch bisher unbekannte und neue Wege der Wohnungspolitik durchgesetzt werden. Ob sich der Trend von ständig steigenden Mieten in Berlin umkehren lässt, liegt also auch in unseren Händen.

Andrej Holm arbeitet als Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Themen sind die Stadt- und Wohnungspolitik sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Konflikte. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit engagiert er sich seit über 25 Jahren in Stadtteilinitiativen und Mieter*innenorganisationen und setzt sich aktiv für das Recht auf Wohnen ein.


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