Berlin Velothon 2018 – tausende Laufräder summen um die Wette

Foto: © Getty Images

„Ah komm, scheiß drauf, lass‘ nochmal alles rauspressen“, denke ich mir und schalte in das kleinste Ritzel. Nochmal 4.000 Meter Vollgas. Ich muss an Tony Martin denken, wie er sich 2015 auf den letzten Kilometern der vierten Tour de France Etappe vor das Peloton setzt und das Ding phänomenal gewinnt. Was für eine Power! Mit diesem extrem positiven Bild in meinem Kopf rasen ich und elf andere mit mehr als 40 Km/h der Ziellinie am Brandenburger Tor in Berlin entgegen. Die Atmosphäre ist grandios. Die Zuschauer peitschen uns mit lauten Schlägen an die Werbebanden voran. Noch 500 Meter. Ich merke, wie mir jetzt endgültig der Saft aus den Beinen ausgeht. Bis zur Oberlippe laktatisiert, aber trotzdem schmunzelnd, warte ich eigentlich nur noch darauf, bis meine Hintermänner den finalen Sprint lancieren. Doch dann passiert etwas Unerwartetes…

***

Einmal 100km Vollgas, bitte!

Fünf Stunden vorher sitze ich tiefenentspannt am Küchentisch und löffle mein selbstgemachtes Porridge. Feinblättriges Müsli in etwas Wasser aufgeköchelt, dazu zwei Bananen und ein Brötchen mit Haselnuzelcreme. Nichts besonderes, eher ein Klassiker – meine Morgenroutine – vor einem Wettkampf. Ich lausche den rockigen Klängen von Bon Jovi, eine kurze Abmoderation, dann nimmt der Radiomoderator das Wort „Velothon“ in den Mund. Ich schaue derweil aus dem Fenster und frage mich, wie der Berlin Velothon heute für mich ausgehen wird. Immerhin ist es mein bislang längstes Radrennen, zumindest wenn wir den Ötztaler mal ausklammern. Das war eine andere Herausforderung – vor allem mental. Heute sehe ich die sportliche Herausforderung eher beim physischen – 100 Kilometer Radrennen? Noch dazu sehr flach und windanfällig. Diese Zutaten rufen bei mir sofort eins in den Kopf: Den 40er Schnitt!

Was zuvor mit Velothon-Markenbotschafter und Radkollege Max Victor eher als Spaß gemeint ist, wird schon nach wenigen Kilometern immer mehr Realität. Wenige Momente nach meinem Start aus Block E (A bis H) finde ich ein paar Gleichgesinnte: Radfahrer, die offensichtlich auch wenig mit Block E zu tun haben wollen und daher mit ordentlich Speed – als gäbe es kein Morgen mehr – losknallen. Das Tempo in meiner kleinen Gruppe ist hoch, so hoch, dass während des welligen Profils aus Berlin raus ab und an die fünf vorne auf dem Geschwindigkeitsfeld meines Radcomputers aufpoppt. Doch wirkliche Teamarbeit entsteht nicht. Kaum jemand will jetzt schon unnötig seine Körner verschießen. Belgischer Kreisel? Vergiss es!

Hallo Adrenalin und Serotonin!

Trotzdem rasen wie wir ein D-Zug an vielen Radfahrern links vorbei. Jetzt kommt die hüglige Waldallee bei Grunewald. Aufgrund des zehnminütigen Zeitunterschieds beim Start, fahren wir auf die ersten großen Radgruppen auf. Es staut sich. Die Lücken sind klein. Teamarbeit ist jetzt sowieso nicht drin. Ich schleuse mich irgendwie durch die Massen, bis ich endlich freie Bahn habe. Meine Gruppe steckt irgendwo in der Masse fest. Egal! Ich habe Bock, schnell zu fahren und will nicht warten.

Mir ist bewusst, dass es jetzt ein einsames Rennen für mich werden könnte. Die wirklichen schnellen sind uneinholbar weiter vorne, andere potentielle Mitfahrer irgendwo hinter mir. Wenn auf mich keine schnelle Gruppe auffährt, werde ich bis zum Ziel alleine im Wind von Gruppe zu Gruppe pacen müssen. Ist mir egal und fahre mehr oder weniger weiter Vollgas.

Vollgas, das sich ziemlich gut anfühlt. Klar, meine Motivation kennt in diesen Momenten keine Limits. Und schon gar nicht will meine Vernunft irgendetwas von smartem Pacing wissen. Die Bewohner der kleineren Örtchen jubeln mir zu, als wenn ich ein Ausreißer bei einem großen Profiradrennen wäre. Ich bekomme ab und zu Gänsehaut. Minutenlanges Treten über meiner Wattschwelle? Geschenkt! Der Adrenalin- und Serotonincocktail killt jegliche Schmerzanzeichen.  Was für ein geiler sportlicher Moment. Doch den 40er Schnitt bekommt man nicht einfach so geschenkt! Ab und an habe ich das Gefühl, dass die Lausitzer Winde etwas dagegen haben. Besonders außerhalb der kleinen Örtchen wie Stansdorf oder Kleinmachnow bremsen starke Gegenwinde mich und meinen Adrenalinkick buchstäblich aus.

Endlich die erhoffte Teamarbeit

Inzwischen habe ich knapp zwei Drittel der Strecke hinter mir. Aus Ludwigsfelde herausfahrend sehe ich ein paar Hundert Meter vor mir eine große Gruppe. Wieder alleine im Wind kämpfend, muss ich ein paar Minuten derart hohe Wattzahlen treten, dass ich bei meinem Anschluss an die Gruppe erstmal ein paar Minuten brauche, wieder klar zu denken. Das hat mal Kraft gekostet. Trotzdem orientiere ich mich recht schnell nach vorne. Ohne das ich lange nachdenken kann, ob ich auch aus dieser Gruppe rausknalle, höre ich hinter mir einen lauten Schrei: „NACH RECHTS!!!“. Ein Dutzend Radfahrer rast an der Gruppe vorbei. Ich zögere keinen Moment und gehe in den Wiegetritt, um mich im letzten Moment an die Gruppe ranzusaugen. „Die Gruppe gefällt mir“, denke ich noch. Vorne drei eines Radteams, doch auch der Rest ist sich nicht zu schade, sich mal vorne im Wind blicken zu lassen.

So auch ich. Speziell der Moment die Gruppe vorne im Wind auf der Autobahn respektive B101 anzuführen, hat und kann was! Diese zwei, drei Minuten schmerzen, immerhin will ich mir auch keine Blöße geben vor den anderen. Drei oder vier Mal zeige ich mich vorne, während wir weiter mit mehr als 40 Km/h zurück nach Berlin sausen.

Was wurde aus meiner Hommage an Tony Martin?

Zeitraffer. Die letzten 10 Kilometer. Wir rasen durch die verwinkelte Berliner Innenstadt. Unsere einst funktionierende Gruppe ist jetzt ein Haufen von Einzelkämpfern geworden. Keiner will mehr so richtig Führungsarbeit leisten. Außer zwei andere und ich. Ob das clever ist? Sicher nicht, aber ich habe Bock. Taktikspielchen hin oder her! Eine scharfe Linkskurve, dann erblicke ich das eingangs erwähnte 4 Kilometer Schild. Noch ein Zeitraffer. Wieder eine Linkskurve, die letzte! Jetzt sehen wir das Brandenburger Tor. Die vom Asphalt aufsteigende Hitze vernebelt mir ein bisschen den klaren Blick auf die Ziellinie 500 Meter vor mir. Oder ist es das Laktat, welches mir gefühlt in den nächsten Sekunden aus den Ohren schießen wird? Mein Hommage an Tony Martin wird anscheinend kein Happy-End haben, und das so knapp vor dem Ziel. Doch dann merke ich es. Ich sehe es in meinem peripheren Blickwinkel.

Ja, da sind Laufräder, aber sie kommen nicht näher und bewegen sich auch nicht hin und her, so wie es sich für einen echten Sprint gehört! Ehe ich die Situation voll reflektiere fahre ich schon als erster der Gruppe über die Ziellinie. Wenige Momente später klopft mir ein Niederländer auf den Rücken: „Man! You killed it, how fast was that?!“. Ich grinse und bedanke mich, kann aber noch immer nicht richtig geradeaus schauen, dieser Kraftakt auf den letzten Kilometern war heftig. Auch zwei der drei Fahrer aus dem Radteam bedanken sich bei mir, man klatscht sich ab und ich beginne zu realisieren, dass sie mir den imaginären Sieg geschenkt haben. Nicht dass ich mir darauf etwas einbilde oder es irgendetwas wert sei, doch zeigt es vor allem eins: Sportsgeist! Das war ein schöner Moment und eine faire Geste der anderen!

Langsam rolle zu den Verpflegungsständen, um mir ein erstes hochverdientes Erdinger abzuholen. Kaum daran genippt will ich es nun aber doch schon noch wissen: Was ist mit dem 40er Schnitt?

Tja, knapp vorbei ist auch daneben… 39, 86 km/h zeigt mir mein Garmin an! „Wiiiiieeee Bitte!? Och komm schon….“ 😀

Dann klopft mir mein Cousin auf die Schultern und wir flachsen über das Rennen – 40er Schnitt? Hin oder her…


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