Neue Protestwelle in Prenzlauer Berg: "Nein zur Zerstörung der Kastanienallee!"
Gentrification wird in den stadtpolitischen Auseinandersetzungen immer mal wieder als ‘Kampfbegriff“ beschrieben. Kein Wunder, geht es doch auch um einen von verschiedenen Interessen und Gruppen umkämpften Raum. Insbesondere die drohende Verdrängung von Bewohner/innen mit geringeren ökonomischen Ressourcen löst regelmäßig Mobilisierungen der Betroffenen aus. Die breitangelegten Wir-Bleiben-Alle-Mieterproteste Anfang der 1990er Jahre in Prenzlauer Berg dürften als Prototyp solcher Anti-Verdrängungs-Mobilisierungen gelten.
Doch mit der Aufwertung der Quartiere und dem Austausch der Bewohnerschaft verschieben sich nicht nur die Anforderungen der Bewohner/innen an ihre Nachbarschaften, sondern die Konfliktstrukturen städtischer Proteste. Stadtteilbezogene Proteste – ihre Themen, ihre Artikulationsformen und nicht zuletzt die Zusammensetzung der Aktiven – können dabei als Indikator für die Veränderungsprozesse selbst gelten.
In den aktuellen Protesten gegen die bezirklichen Umbaupläne der Gehwege in de Kastanienallee wird dies exemplarisch deutlich. Das Bezirkamt argumentiert mit den erneuerungsbedürftigen Gehwegplatten und einer mehr als unbefriedigenden Verkehrssituation insbesondere für den Fahrradverkehr. Anwohner/innen und Gewerbetreibende sehen in den Umbauplänen vor allem eine Verkleinerung der Gehwegflächen, befürchten den Verlust der einzigartigen Atmosphäre der Straße und kritisieren die mangelnde Beteiligung an den Umbauplänen.
Mit dem Slogan der Kastanie21 versuchen die Aktiven sich zumindest rhetorisch in die Nähe der Bahnhofsproteste in Stuttgart zu stellen. Die taz greift diese Selbstdarstellung ironisch auf und berichtet über den Bürgersteigaufstand in der Castingallee. Auch die Berliner Abendschau berichtet in einem Beitrag über die Proteste in Prenzlauer Berg: Streit in der Kastanienallee.
Vom Mietprotest zur Quality-of-Life-Mobilisation
Klassische Ansätze der Protestforschung analysieren Soziale Bewegungen nicht nur nach ihren politischen Gelegenheitsstrukturen, den Framing-Strategien sowie den der Bewegung zur Verfügung stehenden Ressourcen. Darüber hinaus können gerade Proteste in der Stadt auch als Spiegelung verschiedener Interessen in umkämpften Räumen gelten. Im Mittelpunkt eines solchen Ansatzes steht eine Kontextualisierung der Themen, Aktiven und der gewählten Protestformen. Die aktuellen Konflikte in und um die Kastanienallee lassen sich im Vergleich zu früheren Mobilisierungen im Bezirk als inhaltliche, personelle und habituelle Verschiebungen skizzieren:
Thematische Verschiebungen: An die Stelle früherer Mobilisierungen um Mietsteigerungen, Modernisierungsverfahren und der Ausgestaltung von Sanierungssatzungen steht heute die Auseinandersetzung um die Umgestaltung der öffentlichen Straßenlandes. Abstrakter gesprochen haben sich die Konflikte von existentiellen und unmittelbaren Wohnfragen zu ästhetischen und funktionsbezogenen Auseinandersetzungen um das Wohnumfeld verschoben. An die Stelle von übergreifenden Forderungen (etwa nach Mietobergrenzen oder Fördergeldern) beziehen sich die aktuellen Proteste auf konkrete/einzelne Projekte (Marthashof, Kastanienallee, Mauerpark). Die überwiegend wohnungspolitischen Forderungen (Wir Bleiben Alle!, Keine Verdrängung!) ist der Verteidigung von lebensstilbezogenen Nachbarschaftsqualitäten (Angst um das Flair der Kastanienallee) gewichen.
Personelle Verschiebungen: An dies Stelle der auf Massenmobilisierung setzenden Mieterproteste Anfang der 1990er Jahre und die institutionellen Bürgerbeiteiligung im Rahmen der (gewählten) Betroffenvertretungen werden die aktuellen Proteste vor allem von verschiedenen Initiativen getragen, deren Legitimität auf der öffentlichen Artikulation der jeweiligen Interessen basiert. Der Anteil von gewerblich mit den Themen der Mobilisierung verbundenen ist deutlich gestiegen. Waren beispielsweise in die Betroffenvertretungen der Sanierungsgebiete Gewerbetreibende und Hauseigentümer/innen eine seltene Ausnahme, dominieren Gewerbetreibende zumindest die öffentliche Wahrnehmbarkeit des Protestes gegen den Umbau der Kastanienallee. Die überwiegend akademische Zusammensetzung der Nachbarschaft prägt auch die neue Protestgeneration und hat das Laien-Professionellen-Gefälle in Beteiligungssituationen zugunsten der Bewohner/innen verschoben. Professionell mit Themen der Stadtentwicklung und Verkehrsplanung beschäftigt, artikulieren die Protestierende nicht nur abstrakte Ablehnung sondern legen fachlich hochwertige Alternativvorschläge vor.
Habituelle Verschiebungen: Die Organisation des Protestes kann sich anders als Mobilisierungen vor 15 Jahren auf moderne Netzwerkmedien stützen. Mehrere Webseiten, twitter-Hash-Tags und eine Facebook-Gruppe stehen für die neuen Mobilisierungsmedien.
Bürgerbeteiligung 2.0: Kastanienaktivist beteiligt sich übers Internet an der Diskussion im Bezirk (Bild: Prenzlberger Stimme)
Ein Vermittlungstreffen musste ausdrücklich in den Geschäfts-räumen der Grünen stattfinden, damit ein Aktivist mit verkehrspolitischer Expertise über eine Video-Schaltung via Internet an der Diskussion beteiligt werden konnte.
Auch wenn der am Protest beteiligte Dr. Motte die Anwohner/innen der Kastanienallee von den „neoliberalen Grünen wie Sklaven behandelt sieht“ und „Montagsdemos wie in der DDR“ vorschlägt, ist die hegemoniale Selbstdarstellung des Protestes alles andere als klassenkämpferisch. Protest formiert sich hier nicht von ‘unten gegen die da oben’, sondern aus der (Neuen) Mitte der Gesellschaft. Die Verdrängungsprozesse der vergangenen Jahre werden nicht problematisiert, sondern geraten zum Ausgangspunkt des neuen Protestes.
Die Berliner Abendschau (0:17 – 0:37 min.) fasst treffend zusammen:
„K wie kreativ, kosmopolitisch kinderfreundlich und trotzdem irgendwie kuschlig – das ist die Kastanienallee“
Ebenfalls via Abendschau (1:11 – 1:27 min.) erklärt eine Münchener Journalismusvolontairin den Kiez zur zweiten Heimat:
„Das Feeling der Kastanienallee ist für mich einfach pures Lebensgefühl, pures Berlin und tolle Leute, süße Läden, nette Cafés. Ich fühl mich hier total wohl.“
Im Streit um die Kastanienallee geht es offensichtlich vor allem um dieses Lebensgefühl der aktuellen Bewohnerschaft – und für die Gewerbetreibenden auch um ihre Geschäftsgrundlage. Die im Zuge der Aufwertung der letzten Dekade entstandene Bewohner- und Gewerbestruktur soll in ihrem Kern konserviert werden. Wir haben es mit einem typischen Post-Gentrification-Protest zu tun: Die Pioniere und Gentrifier der vorherigen Aufwertungsphase schließen die Tore und verteidigen die von ihnen symbolisch und materiell angeeigneten Räume.