Berlin Feuerland
Titus Müller
Blessing, 2015
978-3896675033
19,99 €
Hannes Böhm lebt in dem Industrieviertel, das die Berliner Feuerland nennen, weil hier die Schornsteine der Industrie qualmen. Als eine Art selbst ernannter Fremdenführer verdient er sich ein kleines Zubrot, indem er neugierigen Bürgern die Armut und die Not in den Hinterhäusern zeigt. Bei einer solchen Gelegenheit lernt er Alice kennen, die als Tochter des Kastellans im Berliner Stadtschloss wohnt, der Frühlingsresidenz des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Alice ist schockiert über das Ausmaß der Verelendung – und zugleich tief beeindruckt von Hannes, der voller Ehrgeiz und Fantasie zu sein scheint.
Doch als die Märzunruhen 1848 ausbrechen, als sich der Konflikt zwischen dem preußischen König und den Aufständischen zuspitzt und gemäßigte Kräfte nur schwer Gehör finden, scheint es für die Gefühle, die Hannes und Alice füreinander entwickeln, keine Zukunft mehr zu geben.
Hannes und Alice sind erst einmal dazu da, einen Gegensatz zu schaffen. Mit wem leidet der Leser mehr? Wen kann er besser verstehen?
Hannes, der in einem Viertel arbeitet, wo Armut herrscht, aber Innovation geschaffen wird? Oder Alice, die nicht viel tun muss in ihrem Leben und nur mal “eben” über den Tellerrand schaut?
Mir persönlich hat Alice besser gefallen. Sie überlegt ihr Handeln und reflektiert die Welt, die sie umgibt. Der Leser kann mit ihr “mitdenken” und sieht aus ihren Augen, die auch Hannes erblicken.
Hannes ist in der denkbar schlechteren Situation, macht aber etwas aus seinem Leben. Er hat Tricks gelernt und Arbeiten angenommen, um nicht in der Armut zu versinken. Trotzdem bleibt er an vielen Stellen zu blass und lässt mich nicht an seinen Gedanken teilhaben. Der Blick aus seinen Augen auf Alice ist nicht detailliert genug für mich.
Warum in die Ferne schweifen, wenn es Revolution, Liebe, Verrat und Industrie auch in der Heimat gibt? Der Roman spielt 1848, in einer Zeit die voller Unruhen steckt und zeigt, wie unterschiedlichen Menschen ihren Lohn und ihr Brot verdienen müssen – oder auch nicht.
Ich selbst wusste nicht viel über diese Zeit, die auch im Geschichtsunterricht keinen Platz finden zwischen Französischer Revolution und Drittem Reich.
Titus Müller hat mich schon oft verzaubert. Ob mit einem Jugendbuch, einer religiösen Geschichte oder seinen historischen Romanen. Er ist immer darauf bedacht, ein authentisches Bild zu schaffen, das der Leser nicht so schnell vergisst.
Berlin ist nicht weit weg. Die meisten waren alle schon einmal da, viele Leben dort. Ich wusste nicht wirklich etwas von einer Revolution, die sich 1848 abgespielt hat. Warum, wieso und vor allem was trieb die Menschen dazu?
Titus Müller spinnt einen großen Bogen von den unterschiedlichen Klassen, in denen die Menschen leben bis hin zu einer Liebe, die recht außergewöhnlich zu sein scheint. Während Hannes um jeden Pfennig kämpfen muss und schwere Arbeit verrichtet, ist Alice gut behütet. Sie verbringt ihre Tage am Fenster, trägt ordentliche, vor allem saubere Kleidung und hat in ihrem Leben noch nicht viele Tränen und Schweiß vergossen. Angezogen von alldem, was sie nicht ist, wagt sie einen Blick in das Leben von Hannes.
Hannes ist gut beschrieben und der Leser versteht die Anziehung, die Alice spürt. Allerdings nicht, weil ich mich mit Hannes so gut angefreundet hätte, sondern weil der Unterschied der beiden sehr gut recherchiert und herausgearbeitet wurde. Es gibt nicht nur ein: arm – reich oder eine Arbeit – nicht-Arbeit. Es sind die kleinen Nuancen, die den Unterschied der beiden Menschen wirklich ausmacht.
Gefehlt hat mir die Bindung zu Hannes, die sich bei mir nicht einstellen wollte. Er erfüllt das Bild eines soliden, jungen Mannes. Seine Gefühle, Gedanken und Dinge, die er macht, verstehe ich allerdings nicht immer.
Eine Revolution ist zudem eine Sache, die im Verborgenen schwelt und nicht sofort ausbricht. Der Roman hat eine gewisse Anlaufzeit, die widerspiegelt, wie die Prozesse laufen, die eine Revolution in Gang setzten. Zudem darf sich der Leser nicht auf so etwas, wie die Revolutionen einstellen, die er aus Filmen oder anderen Büchern kennt. Diese hier ist leiser, gemächlicher und vernünftiger – wenn ich das sagen darf.
Das Buch zeigt eine Frau am Fenster, die auf das Geschehen niederblickt. Nicht alle Figuren sind passiv, viele greifen mit ein. Wird Alice auch etwas tun?
Ganz konnte mich die Berliner Revolution nicht überzeugen. Es lag nicht an der guten Recherche und dem Thema, sondern an Hannes, der etwas hölzern wirkte und mich nicht an die Hand nahm, um seine Welt zu erkunden.