Seit ein paar Monaten treffen sich Anwohner/innen und Aktive aus verschiedenen Initiativen regelmäßig zum “Runden Tisch gegen Gentrification in Moabit” und haben begonnen, Fälle der Verdrängung in der Nachbarschaft zu dokumentieren und gemeinsam Strategien zu entwickeln. Die Beispiele zeigen die hässliche Seite der Stadtentwicklung in ihrer ganzen Bandbreite: von der skandalöse Verdrängungs-Modernisierung über die drohende Zwangsräumung bis hin zum ganz normalen Mietenwahnsinn im Rahmen des Mietspiegels.
Dass diese Beispiele keine Einzelfälle sind, sondern für einen schleichenden Aufwertungsprozess stehen, zeigt die drastische Verringerung von preiswerten Wohnungen im Gebiet. Im Rahmen eines Forschungsprojektes hatte ich die Gelegenheit die Wohnungsangebote bei Immoscout24 für den Zeitraum von 2007 bis 2011 auszuwerten. Ziel war es, jeweils für die Ortsteile die Anzahl und den Anteil von Wohnungen zu identifizieren, die unterhalb der sogenannten Bemessungsgrenzen (für die Kosten der Unterkunft) liegen, die vom Jobcenter an Mietkosten übernommen werden. Die Ergebnisse für den Ortsteil Tiergarten sind verherrend: die Zahl der als angemessen geltenden Wohnungen hat sich in nur vier Jahren um etwa 75 Prozent verringert. Das ist ein Rückgang, der deutlich über dem Berliner Durchschnittsniveau liegt.
Die Übersicht zeigt einen Rückgang der Wohnungsangebote insgesamt – von über 8.000 Wohnungen 2007 auf etwa 5.000 Wohnungen 2011. Die Anzahl der Wohnungen mit Mieten unterhalb der Bemessungsgrenze jedoch verringerte sich im selben Zeitraum von über 4.000 (2007) auf 995 (2011). Waren 2007 noch fast die Hälfte aller Wohnungsangebote auch für Hartz-IV-Bedrafsgemeinschaften zugänglich, hat sich dieser Anteil auf unter 20 Prozent reduziert. Sollte sich also in den nächsten Jahren der Anteil von Arbeitslosen und Transferleistungshaushalten in Moabit verringern, muss dies kein Effekt eines lokalen Jobwunders sein, sondern wird wesentlich mit den steigenden Mietpreise und den damit verbunden Schließungstendenzen des Wohnungsmarktes erklärt werden können.
Ulrike Steglich hat mich für die Stadtteilzeitung “ecke turmstraße” zu den aktuellen Entwicklungen in Moabit befragt:
Ein Gespräch mit dem Stadtsoziologen Andrej Holm
Dr. Andrej Holm forscht und lehrt Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität. Seine Schwerpunkte sind Gentrification, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik. In den 90er Jahren war er insbesondere in Prenzlauer Berg aktiv, wo er lange lebte, engagierte sich gegen Verdrängung und hat die dortigen Entwicklungsprozesse intensiv untersucht. Inzwischen lebt er in Moabit.
Gentrifizierung war bis vor einigen Jahren vor allem ein Fachwort der Soziologie, inzwischen wird in der ganzen Stadt darüber gesprochen. Im Wedding, in Moabit oder Neukölln fürchtet man heute massive Aufwertungsprozesse, die Mieten steigen. Ist das vergleichbar mit der Entwicklung in Mitte-alt, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain vor 15 Jahren, wo liegen die Unterschiede?
Holm: Anders als in den Sanierungsgebieten der 90er Jahre gibt es heute keine massiven staatlichen, politisch organisierten Anreize mehr, keine Fördermittel für Wohnraummodernisierung, keine steuerlichen Sonderabschreibungsmöglichkeiten. Es gibt auch keinen vergleichbaren vollständigen Wandel der Eigentümerstruktur, wie er damals in Ostberlin durch Rückübertragungen und Privatisierung stattgefunden hat.
Der Druck, der heute in Moabit und Wedding auf Wohnungsteilmärkten lastet, hängt vielmehr mit der Verdrängung in anderen Berliner Gebieten zusammen. Es sind die letzten Bereiche innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, die als Rückhaltebecken oder Ausweichmöglichkeit fungieren. Man sieht das an Umzügen von Bewohnern mit türkischen Wurzeln oder auch von Studenten. Die hohe Mobilität wird also wesentlich getragen von Aufwertungsverlierern auf der Suche nach bezahlbaren Wohnungen. Das kann aber trotzdem zu Aufwertung führen, z.B. durch Studenten-WGs. Manche nennen das einen Verdrängungskampf von Armen gegen noch Ärmere. Der Druck wird hier nicht durch Modernisierung und Umwandlung erzeugt, sondern durch die Differenz von Bestandsmieten und Neuvermietung, von der die Eigentümer profitieren.
Preiswerter Wohnraum wird immer knapper in der Innenstadt, aus dem einstigen Mietermarkt mit Wohnungsleerstand ist ein Vermietermarkt geworden. Aber verbreitet ist auch die Auffassung, dass die Aufwertung durch Infrastruktur, durch Szenekneipen, Kunst und hochwertiges Gewerbe zur Verdrängung beiträgt, weil Viertel plötzlich als attraktiv gelten.
Holm: Meiner Meinung nach wurde dieser Effekt schon Prenzlauer Berg und Mitte überschätzt. Dort waren vielmehr die riesigen Investitionsanreize entscheidend – Steuersparer aus ganz Westdeutschland wurden quasi dazu eingeladen, die Häuser im Osten zu sanieren. Der Kernprozess der Gentrifizierung ist die Wechselwirkung zwischen einer wohnungswirtschaftlichen Gewinnstrategie für die Eigentümer und den sozialen Folgen für die Bewohner. Der Einfluss der Kulturszene wird dagegen oft überschätzt.
In der internationalen Forschung gibt es jedoch zahlreiche Studien zu Großprojekten, die Gentrifizierungsprozesse auslösen – so wurden beispielsweise in Peking ganze Viertel für die Olympiade einfach abgeräumt.
Wenn es um die Neugestaltung von Parks oder Plätzen wie dem Leopoldplatz geht, ist in den Aktiven Zentren und Sanierungsgebieten oft von erwünschter Aufwertung die Rede. Das verunsichert Bewohner, weil sie Aufwertung mit Verdrängung assoziieren.
Holm: Die Umgestaltung von Parks ist in Moabit und Wedding keine Anreizstruktur für Investoren. Das muss man nüchterner sehen. Es geht hier vielmehr darum, welche Auswirkungen konkrete Maßnahmen für einzelne Nutzergruppen haben, beispielsweise, ob Trinkergruppen in Nischen verdrängt oder aber einbezogen und als Teil des Gebiets akzeptiert werden. Da geht es um die Aushandlung von Interessen unterschiedlicher Gruppen und deren Durchsetzungskraft.
Aufwertung der Gebiete, Sanierung, Gentrifizierung, Verdrängung sind Begriffe, die oft eher undifferenziert vermengt werden. Und auch die Wünsche etlicher Bewohner sind ja oft widersprüchlich: Sie klagen einerseits über Billigläden und türkische Imbisse beispielsweise in der Turmstraße, wünschen sich hochwertigere Angebote, zugleich klagen sie aber über stetige Verteuerung – auch bei den Mieten.
Holm: Die Turmstraße spiegelt mit ihrer Gewerbelandschaft erstmal einfach die soziale Situation wider – und ihr Wandel dokumentiert eher, wie sich das Quartier verändert. Wenn in der Elberfelder Straße ein Bio-Eisladen aufmacht, dann ist das nicht der Startschuss der Gentrification, sondern vielmehr ein Indikator für bereits stattgefundene Entwicklungen: Zumindest die Ladenbetreiber scheinen davon auszugehen, dass es eine lokale Kundschaft für 1,20-Euro-Eiskugeln gibt.
Interview: Ulrike Steglich
Das Interview ist zuerst erschienen in der ecke turmstraße, Nr. 4, mai/juni 2012.