Berlin! Berlin!

Berlin! Berlin!

quanquam ridentem dicere verum quid vetat?
(Bei alldem lachend die Wahrheit sagen, was hindert daran?)

‚Der Berliner' ist nicht ausschließlich männlich gegendert,
kein typisches Gebäck, auch nicht J. F. Kennedy,
sondern steht für den/die Bewohner/in Berlins.

Über dieser Stadt gibt es keinen Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin. Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau, manchmal kommt er auch aus der Uckermark, und hat überhaupt keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät - und hat sehr viel zu tun.

In dieser Stadt wird nicht gearbeitet -, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu er eigentlich auf der Welt ist. Er würde auch noch im Himmel - vorausgesetzt, dass der Berliner in den Himmel kommt - um viere was vorhaben. Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause. Sie sind gerade zwischen zwei Telefongesprächen oder warten auf eine Verabredung oder haben sich - was selten vorkommt - mit irgend etwas verfrüht - da sitzen sie und warten. Und schießen dann plötzlich, wie der Pfeil von der Sehne - zum Telefon - zur nächsten Verabredung.

Diese Stadt zieht mit gefurchter Stirne - sit venia verbo! - ihren Karren im ewig selben Gleis und merkt nicht, dass sie ihn im Kreise herumzieht und nicht vom Fleck kommt. Der Berliner kann sich nicht unterhalten. Manchmal sieht man zwei Leute miteinander sprechen, aber sie unterhalten sich nicht, sondern sie sprechen nur ihre Monologe gegeneinander. Die Berliner können auch nicht zuhören. Sie warten nur ganz gespannt, bis der andere aufgehört hat, zu reden, und dann haken sie ein. Auf diese Weise werden viele ‚Berliner Konversationen' geführt.

Die Berlinerin ist sachlich und klar. Auch in der Liebe. Geheimnisse hat sie nicht. Sie ist ein braves, liebes Mädel, das der galante Ortsliederdichter gern und viel feiert. Der Berliner hat vom Leben nicht viel, es sei denn, er verdient Geld. Geselligkeit pflegt er nicht, weil das zu viel Umstände macht - er kommt mit seinen Bekannten zusammen, beklatscht sich ein bisschen und wird um zehn Uhr schläfrig. Der Berliner ist ein Sklave seines Apparats. Er ist Fahrgast, Theaterbesucher, Gast in den Restaurants und Angestellter. Mensch weniger. Der Apparat zupft und zerrt an seinen Nervenenden, und er gibt hemmungslos nach. Er tut alles, was die Stadt von ihm verlangt nur leben ... das leider nicht.

Der Berliner schnurrt seinen Tag herunter, und wenn er fertig ist, dann ist es nur Mühe und Arbeit gewesen. Weiter nichts. Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele. Früher war Berlin einmal ein gut funktionierender Apparat. Eine ausgezeichnet angefertigte Wachspuppe, die selbsttätig Arme und Beine bewegte, wenn man zehn Geldstücke oben hinein warf. Heute kann man viele Millionen hineinwerfen, die Puppe bewegt sich kaum - der Apparat ist eingerostet und arbeitet nur noch träge und langsam. Manchmal wird in Berlin sogar gestreikt. Warum fragt man sich? So genau weiß das keiner. Manche Leute sind dagegen, und manche Leute sind dafür. Warum? So ist es nun mal eben.

Die Berliner sind einander spinnefremd. Wenn sie sich nicht irgendwo vorgestellt sind, knurren sie sich in der Straße und in den Bahnen an, denn sie haben miteinander nicht viel Gemeinsames. Sie wollen voneinander nichts wissen, und jeder lebt ganz für sich. Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker. In der Sommerfrische sieht der Berliner jedes Jahr, dass man auch auf der Erde leben kann. Er versuchte vier Wochen, es gelingt ihm nicht - denn er hat es nicht gelernt und weiß nicht, was das ist: leben - und wenn er dann wieder glücklich auf dem Anhalter Bahnhof landet, blinzelt er seiner Straßenbahnlinie zu und freut sich, dass er wieder in Berlin ist. Das Leben hat er vergessen.

Die Tage klappern, der Trott des täglichen Getues rollt sich ab und wenn wir nun hundert Jahre dabei wären, wir in Berlin, was dann -? Hätten wir irgend etwas geschafft? gewirkt? Etwas für unser Leben, für unser eigentliches, inneres, wahres Leben, gehabt? Waren wir gewachsen, hätten wir uns aufgeschlossen, geblüht, hätten wir gelebt -?

Berlin! Berlin!

Als der Redakteur bis hierher gelesen hatte, runzelte er leicht die Stirn, lächelte freundlich und sagte wohlwollend zu dem vor ihm stehenden jungen Mann: "Na, na, na! Ganz so schlimm ist es denn aber doch nicht! Sie vergessen, dass auch Berlin doch immerhin seine Verdienste und Errungenschaften hat! Sachte, sachte! Sie sind noch jung, junger Mann!"

Und weil der junge Mann ein wirklich höflicher junger Mann war, wegen seiner bescheidenen Artigkeit allgemein beliebt und hochgeachtet, im Besitz etwas eigenartiger Tanzstundenmanieren, die er im vertrauten Kreis für gute Formen ausgab, nahm er den Hut ab, blickte gerührt gegen die Decke und sagte fromm und fest: "Gott segne diese Stadt."

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