Berlin: Auf dem Weg in die Zitadellenökonomie

Berlin: Auf dem Weg in die ZitadellenökonomieWir schreiben das Jahr 2010 und der Oktober rückt immer näher. Und mit ihm die unweigerlichen Erinnerungssendungen, Jubelveranstaltungen und Sachbuchvorstellungen zum 20. Jahrestag der sogenannten Wiedervereinigung. Den Reigen der Bilanzen hat ausgerechnet der telegraph (ostdeutsche zeitschrift) eröffnet. In knapp zwanzig Beiträgen wird eine linke Rückschau auf zwei Dekaden vereinigtes Deutschland präsentiert. In der taz (Grundhaltung bewahrt) und dem Neuen Deutschland (Linke ostdeutsche Opposition) gab es zwei wohlwollende Rezensionen von Peter Nowak. Das Thema Stadtentwicklung und Verdrängung durfte dabei nicht fehlen:

In der aktuellen Ausgabe ist der Mix aus Theorie und Praxis gelungen. Dort zieht der Stadtsoziologe Andrej Holm eine ernüchternde Bilanz von 20 Jahre Stadtsanierung in Prenzlauer Berg: „All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber ,recht haben’ ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider.“ (taz)

Der Stadtsoziologe Andrej Holm beschreibt die Entwicklung des Prenzlauer Berg vom kulturanarchistischen Utopia der frühen Wendejahre zur Hochburg der Bionade-Bourgeoisie aus Sicht der Bewohner mit geringem Einkommen. Nicht alle starben aus Gram über ihre aus ökonomischen Zwängen verlassenen Wohnungen, wie der Fotograf Peter Woelck. Aber an den Stadtrand wurden viele verdrängt. »All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber Recht haben ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider«, so Holms bitteres Resümee. (Neues Deutschland)

Meine Rückschau auf zwanzig Jahre Stadterneuerung in Berlin Prenzlauer Berg gibt es auch hier zu lesen.

Auf dem Weg in die Zitadellenökonomie – 20 Jahre Stadterneuerung in Prenzlauer Berg

von Andrej Holm

In der taz vom 17. März diesen Jahres war ein Nachruf auf den kurz zuvor verstorbenen Peter Woelck zu lesen: „Seine Fotos waren realistischer, als es der sozialistische Realismus erlaubte, für den Überlebenskampf im Kapitalismus war Peter Woelck auch nicht geschaffen. Am 1. März ist er verarmt gestorben“. Nicht alle kannten Peter Woelck, doch die Fotos in den Fenstern seiner Erdgeschosswohnung Kastanienallee, Ecke Schwedter Straße war vielen ein Begriff. Anfang der 1980er Jahre wies ihm die KWV die Wohnung zu. Petra Ahne wird 26 Jahre später in der Berliner Zeitung schreiben: „Er baute eine Heizung ein und hängte Fotos, die er gemacht hatte, in die Fenster. Ein Vorschlag der Wohnungsverwaltung, das würde doch hübsch aussehen, sagte man ihm. Von außen betrachtet war seine neue Wohngegend trist. Das Leben spielte sich eher hinter den heruntergekommenen Fassaden ab. Illegale Konzerte, Lesungen, Feste.“

Peter Woelck, Absolvent der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, dokumentierte zu DDR-Zeiten den Bau von Hochspannungswerken, fotografierte das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt und die Renovierung des Französischen Doms. Zu Hause feierte er Partys, manchmal ging er in die KvU, im Sommer 1989 reist er aus… ein typische Künstlerbiographie in Prenzlauer Berg. Nach ein paar Wochen Westberlin wollte er zurück – den Schlüssel für die Wohnung hatte er noch. Seine Fotos erinnerten bis vor einem Jahr inmitten der pastellfarbenen Häuserfassaden von Prenzlauer Berg an die graue Lebendigkeit der Vergangenheit. „Was in den nächsten Jahren in der Gegend passierte, kann man mit einem Wirbelsturm vergleichen, und Peter Woelck in seiner kleinen Erdgeschosswohnung mit dessen unbewegtem Zentrum. Eigentlich ist es ein Wunder, dass der Sturm erst jetzt droht, auch ihn wegzufegen.“ (Berliner Zeitung, 01. August 2009).

Der Sturm von dem Petra Ahne hier schreibt, hat die Gestalt eines Hausbesitzers: „Der Beklagte wird verurteilt, die Mietwohnung im Erdgeschoss des Anwesens Kastanienallee 36A (…) herauszugeben (…) die streitgegenständliche Wohnung wird (…) nach Abschluss der Rückbauarbeiten nicht mehr in der jetzigen Gestalt vorhanden sein“. Der von der KVW dreißig Jahren zuvor verlegte Hauseingang sollte nun wieder direkt durch die Wohnung von Peter Woelck führen. Außerdem würde der Mieter seine Wohnung zu Gewerbezwecken nutzen und ein Photostudio betreiben. Gründe genug für eine Kündigung des Mietvertrages. Die Wohnung wurde inzwischen von Freunden des Photographen leergeräumt, an der improvisierten Finissage Ende Februar 2010 mit seinen Fotos an den kahlen Wänden der leergeräumten Wohnung konnte er nicht mehr teilnehmen – Peter Woelck lag schon im Krankenhaus und ist wenige Wochen später dort gestorben.

Nicht immer verknüpft sich der Verlust der Wohnung auf solch tragische Weise mit dem Ende des Lebens – doch die Geschichte steht stellvertretend für die die Veränderung in Prenzlauer Berg und den anderen Ostberliner Innenstadtviertel. Für die prägenden Lebensentwürfe der Wendezeit ist die Zeit abgelaufen und die Modernisierungswellen haben nicht nur die Fassaden der Häuser aufgehübscht. Die Bewohnerstrukturen wurden völlig ausgetauscht. Zur Aufhebung der Sanierungsgebiete wurden „abschließende Sozialstudien“ durchgeführt – die Ergebnisse sind deutlich: trotz oder vielleicht auch gerade wegen eines massiven Einsatzes von öffentlichen Geldern für die Stadterneuerung leben 20 Jahre nach der Wende nur noch knapp 20 Prozent der früheren Bewohner/innen in den Gebieten.

20 Jahre Stadterneuerung und Verdrängung

Anfang der 1990er Jahre wurden große Gebiete der Ostberliner Innenstadt als Sanierungsgebiete förmlich festgelegt um die dortigen Mängel an der Bausubstanz zu beheben. Allein in Prenzlauer Berg wurden fünf Gebiete mit insgesamt über 30.000 Wohnungen unter die städtebaurechtlichen Sonderregelungen von Sanierungssatzungen gestellt. Den Grundsätzen der ‘behutsamen Stadterneuerung’ verpflichtet, wurde auch der „Erhalt der Zusammensetzung der Sozialstruktur“ als Sanierungsziel aufgenommen. Während die baulichen Erneuerungsziele weitgehend erreicht wurden, sind die sozialen Ansprüche der Stadterneuerung in Ostberlin gescheitert.

Bereits 2009 wurde die Sozialstudie für das Sanierungsgebiet Kollwitzplatz veröffentlicht. Vom Büro für Stadtplanung, -forschung und -erneuerung (PFE) erstellt, gibt diese Studie Auskunft über wesentliche Entwicklungen der Sozialstruktur seit Beginn der Erneuerungsaktivitäten. Die vormals gemischte Nachbarschaft des Kollwitzplatzgebietes wurde in 15 Jahren Stadterneuerung durch ein sozial weitgehend homogenes westdeutsches Mittelklassemilieu abgelöst. Die statistischen Indizien für Verdrängung und Aufwertung wurden in den öffentlichen Diskussionen als Kollwitzplatz-Effekt kleingeredet und eine Übertragbarkeit auf andere Sanierungsgebiete bezweifelt. Doch jetzt liegen die Zahlen für die Spandauer Vorstadt in Mitte und das Sanierungsgebiet Winsstraße vor und bestätigen die Trends vom Kollwitzplatz. An ausgewählten statistischen Daten können die Besonderheiten der neuen Nachbarschaften in den Sanierungsgebieten beschrieben werden.

Auffallend ist die Dominanz der Altersgruppen von jüngeren Erwachsenen (18 bis 45 jährige), die mit etwa 65 Prozent die Alterstrukturen im Gebiet prägen. Der Berliner Vergleichswert dieser Altersgruppe liegt bei 28 Prozent. Auch im Sanierungsgebiet Winsstraße stellen die ‘jungen Erwachsenen’ mit 54 Prozent den größten Anteil der Bevölkerung. In Folge selektiver Fort- und Zuzüge hat sich insbesondere die Anzahl und der Anteil von Rentner/innen, Kindern und Jugendlichen verringert. Trotz der steigenden Geburtenzahlen – im Feuilleton als Babyboom in Prenzlauer Berg gefeiert – liegt der Anteil von Haushalten mit Kindern (unter 15 Jahren) am Kollwitzplatz mit 23 Prozent immer noch deutlich unter den Werten von Anfang der 1990er Jahre (1992: 34 Prozent). In der Winsstraße erreicht der Anteil von Haushalten mit Kindern mit 34 Prozent inzwischen wieder den Stand von Anfang der 1990er Jahre.

Gravierende Veränderungen sind auch im Bereich des Bildungsstatus der Bewohnerschaft zu verzeichnen. Der Anteil von Akademiker/innen (Hochschul- und Fachhochschulabschlüsse) und Studierenden unter den über 18jährigen hat sich am Kollwitzplatz auf 66 Prozent erhöht. Im Sanierungsgebiet Winsstraße beträgt dieser Anteil sogar fast 77 Prozent (1992: 17,5 Prozent). Auffallend in diesem Zusammenhang ist der zeitliche Verlauf dieser Veränderungen: der bildungsstrukturelle Statussprung hat sich im Wesentlichen in den 1990er Jahren vollzogen. In der Kollwitzplatzstudie heißt es: „Seit 2002 hat sich das Bildungsprofil des Sanierungsgebietes nicht wesentlich geändert – obwohl über 50% der Befragten erst danach in das Sanierungsgebiet gezogen sind. Dies als Indiz dafür zu werten, dass die seitdem stattgefundenen Fluktuationsprozesse seitdem offenbar im Wesentlichen innerhalb ähnlich strukturierter Gruppen mit ähnlichen Bildungsbiographien stattfinden.“ (PFE 2008: 1)

Invasion der Besserverdienenden

Konträr zu der zeitlichen Etablierung des neuen Bildungsprofils der Nachbarschaften verlief die Einkommensentwicklung in den Sanierungsgebieten. Nach einer schrittweisen Angleichung der durchschnittlichen Haushaltseinkommen an den gesamtstädtischen Durchschnittswert bis zum Jahr 2003, haben sich die Einkommenszahlen der Sanierungsgebiete in den letzten Jahren zu deutlich überdurchschnittliche Werte entwickelt. Lagen die Monatseinkommen der Haushalte 1993 (zu Beginn der Stadterneuerungsaktivitäten) bei etwa 75 Prozent des Berliner Vergleichswertes, stiegen sie bis 2003 auf etwa den Berliner Durchschnitt an und lagen 2007 im Vergleich dazu bei 140 Prozent.

Zwischen 1992 und 2007 sind durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen am Kollwitzplatz (trotz Verringerung der Haushaltsgröße) von knapp 900 Euro auf über 2.300 Euro gestiegen. Im Sanierungsgebiet Winsstraße wurden sogar noch leicht höhere Werte festgestellt (die auf den etwas größeren Anteil von Haushalten mit zwei und mehr Personen zurückzuführen ist). Die Sanierungsgebiete in Prenzlauer Berg haben sich innerhalb der letzten 20 Jahre von den ärmsten Vierteln der Stadt zu wohlhabenden Nachbarschaften entwickelt.

Aufwertung der Quartiere und Austausch der Bewohnerschaft

Der beschriebene Wandel der Sozialstrukturen in den Sanierungsgebieten von Prenzlauer Berg kann nicht durch sozialen Aufstieg der Bestandsbewohner/innen erklärt werden sondern muss auf den massiven Austausch der Bewohnerschaft zurückgeführt werden. Untersuchungen der Wohndauer in der Wohnung bzw. dem Gebiet verweisen auf nur geringe Anteile von Altmieter/innen. Nur ein knappes Viertel der Bewohner/innen am Kollwitzplatz wohnten auch schon vor Beginn der Stadterneuerung im Sanierungsgebiet oder den umliegenden Nachbarschaften. Bezogen auf die Wohnung liegt der Anteil bei nur 15 Prozent. Auch die Entwicklung im Sanierungsgebiet Winsstraße war durch einen massiven Bevölkerungsausstausch geprägt. Hier sind es nur 16 Prozent, die bereits 1990 im Gebiet gewohnt haben und bezogen auf die jetzige Wohnung sogar nur 8 Prozent.

Rückblickend auf den Ausgangspunkt der Stadterneuerung erscheinen die Sanierungsergebnisse als paradox, waren es doch die sozialen Verhältnisse und Veränderungswünsche der damaligen Bewohner/innen, die zur Grundlage und Legitimation der Stadterneuerung herangezogen wurde. Die Gebiete wurden aufgewertet – doch die einstige Zielgruppe der Stadtentwicklung ist verschwunden. Das Sanierungsziel des „Erhalts der Zusammensetzung der Sozialstruktur“ wurde verfehlt und auch die versprochenen Beteiligungselemente der Stadterneuerung erscheinen angesichts der massiven Austauschprozesse als wenig erfolgreich. Daniela Dahn sprach Anfang der 1990er Jahre angesichts der Restitutionsverfahren und Grundstückskäufe durch westdeutsche Anleger von einem „gigantischen Ost-West-Vermögenstransfer“ und befürchtete, das die nun steigenden Mieten der Ostdeutschen direkt nach Westdeutschland abgeführt würden. Zu diesem dauerhaften Ost-West-Ausbeutungsgefälle ist es nicht gekommen, jedenfalls nicht in den Ostberliner Altbauviertel. Die meisten Ostdeutschen wurden durch zuziehende Westdeutsche ersetzt, so dass nun westdeutsche Mieter/innen die Gewinne westdeutscher Eigentümer/innen in Ostberlin finanzieren. Statt der klassischen Ausbeutungskolonie haben sich Strukturen einer Siedlerenklave herausgebildet,die nicht nur die Beherrschung, sondern die weitgehende Besetzung der eroberten Räume voraussetzt. Annett Gröschner bemüht in ihren Erzählungen daher nicht zu unrecht den Vergleich zu den Reservaten der Eingeborenen in den Siedlungsgebieten der USA, wenn sie die letzten Ostberliner/innen in Prenzlauer Berg porträtiert:

„Die öffentliche Wahrnehmung des Prenzlauer Berg ist inzwischen besetzt durch eine Mittelstandsgesellschaft, die eine perfekte Fassade aufgebaut hat, die derjenigen der sanierten Häuser ähnelt (den Keller sieht ja niemand). Man gibt sich aufgeklärt, wählt grün, bekommt im fortgeschrittenen Alter noch die gesellschaftlich geforderten und geförderten zwei Kinder, engagiert sich in privaten Kindergärten und Schulen und bildet Baugruppen, um sich den Traum vom Eigenheim gemeinsam zu erfüllen. Dabei werden jahrhundertealte Bäume abgeholzt, die Trinker von ihren Plätzen vertrieben, den Hinterhofwohnungen vergeht das Licht. Ja, es gibt sie noch, die Indianer in ihren Reservaten, die den Touristen Kunststückchen vorführen, in der Kittelschürze über die Straße in die Kaufhalle huschen oder sich dem Trunk hingeben. Die Reservate aber werden knapp.“ (Annett Gröschner 2010: Leute, die ihre Hunde Stalin nannten, in: Literature, 1/2010)

Öffentliche Förderung der Verdrängungsökonomie

Die Ursachen des Bevölkerungsaustausches sind nicht allein auf eine mangelhafte Beratung oder eine inkonsequente Anwendung der sanierungsrechtlichen Instrumente zurückzuführen. Vielmehr müssen die Gründe der Gebietsaufwertung in den ökonomischen Anreizen für die weitgehenden Modernisierungsarbeiten und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen gesehen werden. Waren es in der Anfangsphase der Sanierung (bis etwa 1996) vor allem Fördermittel für Modernisierungsarbeiten im Rahmen des Programms „Soziale Stadterneuerung“, die einen hohen Ausstattungsstandard der Modernisierungsarbeiten begründeten, waren es in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die enormen Abschreibungsmöglichkeiten im Rahmen der Sonder-AfA. Vor allen westdeutsche Anleger nutzten die Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in Ostdeutschland. Losgelöst von damals realisierbaren Mieterwartungen wurden zum Zwecke der Abschreibung möglichst umfangreiche Modernisierungsarbeiten durchgeführt, die sich heute als hohe Ausstattung in steigenden Mietpreisen niederschlagen. Nach dem Ende der Abschreibungsmöglichkeiten dominierten Umwandlungsmodernisierungen, deren Geschäftsmodell für Investor/innen darin besteht, etwa die Hälfte der Wohnungen in den Sanierungsobjekten bereits vor Beginn der Bauarbeiten an Erwerber von Eigentumswohnungen zu verkaufen. Die mit der Sanierungssatzung verbundene Abschreibungsmöglichkeiten (nach § 7h EStG) werden dabei teilweise (als Kaufanreiz) an die Käufer/innen der Wohnungen weitergereicht.

Die Geschichte der Stadterneuerung ist also vor allem als eine jahrelange öffentliche Förderung privater Investitionen anzusehen. Zunächst wurden direkte Fördermittel an private Eigentümer/innen gegeben, die so einen hohen Standard realisieren konnten und nach auslaufen der Bindungsfristen (meist 15 bis 20 Jahre) hohe Mieteinnahmen erwarten können. Schon jetzt bieten die mietpreisgebundenen Wohnungen in den Förderhäusern nur eine geringe Entlastung bei der Versorgung einkommensschwacher Haushalte, da die Mietpreise in der Regel über den Bemessungsgrenzen der KdU-Richtlinien für Hartz-IV-Empfänger/innen liegt. Insgesamt wurden im Zeitraum von 1993 bis 2001 über 6.000 Wohnungen im Rahmen umfassender Maßnahmen des Programms „Soziale Stadterneuerung“ mit knapp 400 Mio. Euro direkt gefördert.

Im Rahmen der Sonderabschreibungsbedingungen für Investitionen in Ostdeutschland konnten Sanierungskosten für weitere 6.000 Wohnungsmodernisierungen komplett abgeschrieben werden. Geschätzter Umfang dieser indirekten Förderung liegt bei 350 Mio. Euro. Seit 1999 gelten nur noch die ‘normalen’ Abschreibungskonditionen in Sanierungsgebieten von (10 Prozent je Jahr). Mit Stand Ende 2007 wurden für etwa 5.000 Wohnungsmodernisierungen (Erneuerung von 2000 bis 2007) in den Sanierungsgebieten die entsprechenden Investitionsbescheide erteilt. Diese indirekte Förderung der Stadterneuerung schlägt mit weiteren 400 Mio. Euro zu Buche. Die Gesamtsumme der indirekten steuerlichen Investitionsförderung in den Sanierungsgebieten beläuft sich für den bisherigen Sanierungszeitraum (1993-2007) auf etwa 750 Mio. Euro. Insgesamt wurde der weitgehende Austausch der Bevölkerung in den Sanierungsgebieten von Prenzlauer Berg demnach mit öffentliche Gelder in der Höhe von über 1 Mrd. Euro mitfinanziert.

Sanierungseffekt Eigentumswohnungen

Die aktuellen Entwicklungen in den Sanierungsgebieten zeigen, dass die öffentlichen Investitionen der vergangenen Jahre einen sich selbst tragenden Prozess der immobilienwirtschaftlichen Verwertung angeschoben haben. Dort wo sich lagebedingt auch ohne zusätzliche Anreize hohe Verkaufspreise realisieren ließen, haben sich Eigentümer/innen durch vorfristige Zahlung der Ausgleichsbeträge (die für die öffentlichen Investitionen an der Infrastruktur in den Sanierungsgebieten von den Eigentümer/innen verlangt wird) von den Auflagen der Sanierungssatzungen freigekauft. Bis Ende 2007 wurden für über 300 Grundstücke vorfristig die Sanierungssatzungen aufgehoben, das sind etwa 18 Prozent aller Grundstücke in den Sanierungsgebieten von Prenzlauer Berg. Vorteil für Umwandlungseigentümer/innen ist die Befreiung der sanierungsrechtlichen Kaufpreisüberprüfung, die Spekulation mit Grundstücken durch eine Verkehrswertbindung verhindern sollte. Der Anteil der vorfristigen Auslösungen aus den Sanierungssatzungen unterscheidet sich zwischen den Sanierungsgebieten in Prenzlauer Berg.

Die mit Abstand meisten vorzeitigen Ausgleichszahlungen wurden am Kollwitzplatz in Anspruch genommen Über 100 Grundstücke (23 Prozent) wurden dort vor Aufhebung des Sanierungsgebietes aus den Sanierungssatzungen entlassen. Der höchste Anteil an Ausgleichszahlungen ist im Gebiet Teutoburger Platz zu verzeichnen, dort wurden 27 Prozent aller Grundstücke vorzeitig aus den Sanierungssatzungen entlassen. Die anderen Sanierungsgebiete weisen deutlich geringere Anteile vorfristiger Entlassungen aus. Konkrete Zahlen zum Umwandlungsgeschehen in den Sanierungsgebieten liegen nicht vor. Aus den noch ausstehenden Ausgleichszahlungen können jedoch Rückschlüsse auf den wachsenden Anteil von Eigentumswohnungen gezogen werden, da die Bescheide an alle Eigentümer im Gebiet verschickt werden. Übersteigt die Anzahl der Bescheide die Anzahl der Grundstücke, ist dies ein Indiz für eine Aufteilung der Häuser in Einzeleigentum. Differenz zwischen der Anzahl der Bescheide und der Anzahl der Grundstücke in einem Gebiet entspricht der Anzahl von Eigentumswohnungen in diesen Beständen. In den Sanierungsgebieten von Prenzlauer Berg  können über diese Weg über 9.000 Eigentumswohnungen festgestellt werden – das entspricht  etwa 27 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes.

Der Anteil an Eigentumswohnungen variiert zwischen den einzelnen Sanierungsgebiete. Mit jeweils über 30 Prozent nehmen die Gebiete Helmholtzplatz und Winsstraße hierbei eine Spitzenposition ein. Die vergleichsweise geringen Anteile an Eigentumswohnungen in den Gebieten Kollwitzplatz und Teutoburger Platz relativieren sich mit Blick auf die höheren Zahlen bei den bereits aus den Sanierungssatzungen gelösten Grundstücken. Auch dort muss als ein Motiv die von Kaufpreiskontrollen befreite Umwandlung in Eigentumswohnungen angenommen werden. Übertragen wir den Durchschnitt von Eigentumswohnungen je Grundstück der Häuser mit noch ausstehenden Ausgleichszahlungen, dann ergibt sich ein anderes Bild. Im Durchschnitt aller Sanierungsgebiet sind bereits über eine Drittel des Wohnungsbestandes in Einzeleigentum aufgeteilt. In den Sanierungsgebieten hat sich im Laufe der vergangenen Jahre eine Eigentumssegment von über 11.000 Wohnungen herausgebildet. Die größte Anzahl von Eigentumswohnungen ist mit über 4.500 umgewandelten und neugebauten Eigentumswohnungen im Sanierungsgebiet Helmholtzplatz festzustellen. Das Gebiet mit dem höchsten Anteil an Eigentumswohnungen ist mit 40 Prozent das Sanierungsgebiet Teutoburger Platz. Mit Ausnahme einer geringeren Eigentumsquote im Sanierungsgebiet Bötzowstraße (20 Prozent) weisen alle anderen Gebiete einen Eigentumsanteil von über 30 Prozent auf.

Diese für Berlin ungewöhnlich hohe Quote an Eigentumswohnungen in Wohngebieten bestätigt die hohe Attraktivität der Altbaugebiete in Prenzlauer Berg für Besserverdienende und ist zugleich ein deutliches Indiz für die hohe Neuvermietungsmieten im Gebiet. Selbst für Haushalte mit hohen und regelmäßigen Einkommen sind die Mietpreise oft so hoch, dass sie eine dauerhafte Perspektive im beliebten Wohngebiet mit dem Erwerb einer Eigentumswohnung sichern wollen. Selbst in Luxuswohnprojekten wie dem Marthashof in der Schwedter Straße mit Quadratmeterpreisen von deutlich über 3.000 Euro/qm haben 80 Prozent der Erwerber/innen bereits vorher in Prenzlauer Berg gewohnt. Auch viele Baugruppen argumentieren ihren Kaufentscheid mit den steigenden Mieten in den Nachbarschaften und sehen im Eigentumserwerb die einzige Lösung für eine langfristige Wohnperspektive in den Aufwertungsgebieten.

Dieser private Lösungsansatz setzt überdurchschnittliche ökonomische Ressourcen (Vermögen und Einkommen) voraus und bestätigt die Annahme eines zunehmend geschlossenen Wohnungsmarktes in den Sanierungsgebieten. Aus der Perspektive der Gentrification-Forschung werden hier die klassischen Prinzipien der immobilienwirtschaftlichen Inwertsetzung und Verdrängung sichtbar. Der Zuzug und dauerhafte Verbleib in den Gebieten wird zur Zeit – anders als in den Modernisierungsphasen der 1990er Jahre – fast ausschließlich von den ökonomischen Ressourcen der Bewohner/innen und Wohnungssuchenden bestimmt. Ökonomisch benachteiligte Haushalte sind unter diesen Bedingungen von einem Zuzug in die Sanierungsgebiete faktisch ausgeschlossen.

Wir Bleiben Alle! Proteste gegen Verdrängung

Verdrängungsprozesse waren für Stadtteilbewegungen in Prenzlauer Berg und ihre Forderungen das zentrale Thema. Wir Bleiben Alle! forderten die Mieter/-innen von Berlin-Prenzlauer Berg Anfang der 1990er Jahre, als die ersten Mieterhöhungen nach der Wende staatlich verordnet und die Aufwertungsvorboten in der Nachbarschaft sichtbar wurden. Wir Bleiben Alle! war auch die Vision der Betroffenenvertretungen in den Sanierungsgebieten in der Auseinandersetzung mit dem staatlichen Sanierungsapparat. , als es ab Mitte der 1990er Jahre darum ging, Mietobergrenzen für Modernisierungsarbeiten durchzusetzen. Letztendlich ein Kampf gegen Windmühlen. Die Mieten steigen spätestens beim Mieterwechsel, das postulierte Alle der Forderungen wohnte bald nicht mehr in den Nachbarschaften und Bleiben wollte vor allem das Milieu der Zugezogenen. Mit dem Ende der Sanierungsgebiete müssen auch die Betroffenvertretungen aufgelöst werden und ihre bisher vom Bezirk bezahlten Räume verlassen. Peter Woelck ist überall. All die Aufwertungs-Warnungen und Verdrängungs-Prognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber „Recht haben“ ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider.

(erschienen im telegraph, Nr. 120/121)



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