Berlin Alexanderplatz oder Mord und Totschlag

Eigentlich mag ich die Art von Blogbeiträgen nicht, in denen Menschen mit ihrer Betroffenheit hausieren gehen. Deshalb habe ich auch für meine Verhältnisse ziemlich lange gezögert, über Jonny zu schreiben. Aber es geht mir nicht aus dem Kopf, wenn ich darüber nachdenke, steigen mir die Tränen hoch. Ja, ich fühle mich betroffen, es schmerzt mich ungemein, dass am vergangenen Sonntagmorgen ein junger Mensch zu Tode getreten wurde. Es ist keineswegs die erste Gewalttat in der Nähe des Alexanderplatzes – denn es war nicht am Alex, wie es immer heißt. Jonny wurde in der Rathausstraße umgebracht, nur wenige Schritte entfernt ist das Rote Rathaus, von dem aus Berlin regiert wird. Und einige Schritte weiter in die andere Richtung ist der S- und U-Bahnhof Alexanderplatz, wo täglich tausende Menschen ankommen, abfahren, umsteigen. Und alles überragt der Fernsehturm, der eben auch nicht auf dem Alexanderplatz steht, sondern daneben, auf einem derzeit durch endlose Bauarbeiten und Umgestaltungen ziemlich ungemütlichem Terrain zwischen Rotem Rathaus- und Karl-Liebknecht-Straße.

Kerzen und Blumen erinnern an Jonny, der hier in der Berliner Rathausstraße zu Tode getreten wurde

Kerzen und Blumen erinnern an Jonny, der hier in der Berliner Rathausstraße umgebracht wurde

Die Gewalt sei relativ gesehen nicht größer als an anderen Ort in Berlin heißt es – und das wird tatsächlich so sein. Wo viele Menschen sind, kann viel mehr passieren. Und hier sind viele. Sehr viele. Als Anwohnerin wird es mir gelegentlich zu viel, obwohl ich durchaus weiß, dass ich auch deswegen hier her gezogen bin – ich wollte im Herzen einer internationalen Metropole wohnen. Man kann nicht in die Mitte von Berlin-Mitte ziehen und darüber beklagen, dass hier immer was los ist. Und die vielen Touristen. Und die vielen Berliner, die sich hier treffen, eben weil der Platz ein zentraler Treffpunkt ist. Dem Alfred Döblin schon Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts in seinem Roman Berlin Alexanderplatz ein großartiges literarisches Denkmal gesetzt hat. Um die Häuser pfiff hier schon immer ein kalter Wind. Es gab viele Menschen und viel Lärm und jeder musste sehen, wo er blieb. Auch Döblins Franz Biberkopf wurde übel mitgespielt. Gewalt und Verbrechen sind nichts Neues in dieser Gegend, die gehörten schon immer mit dazu. Viele Menschen, viele Konflikte.

Aber so etwas darf trotzdem nicht passieren. Dass ein junger Mann, der mit Freunden feiern gegangen ist, von einer wildgewordenen Horde niedergeschlagen und so lange getreten wird, bis er stirbt. Einfach so – es gab keinen Anlass. Das Opfer war zur falschen Zeit am falschen Ort, wie man so sagt. Ein fataler Zufall. Aber es war eben kein Unfall. Es ist kein Reifen geplatzt, kein Gerüst umgestürzt, kein Blumentopf vom Balkon gefallen. Sondern es wurde vielleicht ohne Vorsatz, aber doch mit Absicht ein Mensch so lange getreten, bis er starb.

Ich habe einen Sohn in Jonnys Alter. Der auch gern mal mit Freunden feiern geht. Genau in dieser Gegend. Warum auch nicht – wir haben schon immer in “gefährlichen” Gegenden gewohnt, in Lichtenberg, in Prenzlauer Berg, in Friedrichshain. Ich habe mich immer sicher gefühlt. Sogar in Marseille, wo ich vor gut 20 Jahren mal für ein Jahr Austauschstudentin war. Meine französischen Kommilitonen waren entsetzt, als ich arglos erzählte, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit noch allein mit dem Bus fuhr – oder schlimmer noch, allein spazieren ging. Einheimische taten so etwas offenbar nicht – aber ich wollte ja was sehen von der Stadt und behielt meine Gewohnheiten bei – mir ist nie etwas passiert.

Ich bin auch keine übertrieben ängstliche Mutter – im Grunde vertraue ich darauf, dass meine Kinder sich nicht mutwillig in gefährliche Situationen begeben. Aber wenn man nun in eine gefährliche Situation gerät, ohne sie provoziert zu haben? Das Furchtbare an den Vorfällen wie diesem ist ja, dass die Gefahr plötzlich da ist: Plötzlich taucht einer (oder mehrere) auf, der auf Krawall aus ist und die Situation eskaliert. Wie mehrfach bei den so genannten U-Bahn-Schlägern, die ohne besonderen Anlass auf ein ahnungsloses Opfer losgehen und es so lange attackieren, bis es liegen bleibt – tot oder noch halblebendig. Was geht in einem vor, der auf einen Menschen, der schon am Boden liegt, immer weiter eintritt? Was ist bei so einem falsch im Kopf? Warum gibt es keine Hemmung, keinen noch so mickrigen Rest an Mitgefühl, kein Gewissen, kein Bewusstsein dafür, dass derjenige auf den er gerade eintritt, genauso ein Recht auf Leben hat wie er selbst? Unbegreiflich, aber derzeit rennen hier offenbar mehrere Typen dieses Kalibers herum und ich will ihnen nicht begegnen, weder im Dunkeln noch im Hellen.

Nein, es ist nicht so, dass ich keine Ahnung hätte, woher der Hass, woher die Gewalt kommt. Da muss man sich unsere Gesellschaft nur mal mit offenen Augen ansehen: Das Leben ist nicht für alle gleich schön. Für viele ist es hart und anstrengend, für manche ist es richtig mies. Die vergleichsweise gemütlichen Zeiten sind vorbei, der Druck steigt, einige wenige Reiche werden immer reicher, die Massen verarmen – jeder muss sehen, wo er bleibt, genau wie zu Franz Biberkopfs bzw. Alfred Döblins Zeiten.

Und nicht alle finden das schlecht – die Leute werden erpressbarer und arbeiten zu mieseren Konditionen, und wer den ganzen Tag damit beschäftigt ist, sich über Wasser zu halten, muckt nicht auf. Der ist nicht nur zu verängstigt, sondern auch zu müde dazu. Genau das macht Deutschland derzeit ja so wettbewerbsfähig, deshalb gibt auch in unserer Regierung auch eine Menge Politiker, die genau das gut finden.

Das ist natürlich zum Kotzen, und mir kommt es hoch, wenn die Berliner Politprominenz nach dieser “unfassbaren Tat” ihre Krokodilstränen vergießt. Und gleich wieder nach mehr Polizei und Video-Überwachung ruft. Ja, vielleicht ist es leichter, die Täter zu fassen, wenn man sie hinterher auf dem Videoband sieht. Aber den Opfern hilft das in dem Moment, in dem sie Hilfe bräuchten, auch nicht. Und mehr Polizei hilft auch nicht, wenn man eine ganze Gesellschaft darauf konditioniert, dass man die Ellbogen ausfahren und kein Mitleid mit Verlierern haben muss, weil es nun mal erstrebenswert ist, ein Gewinner zu sein. Wer es sonst nicht schafft, fühlt sich am Ende nur noch überlegen, wenn er jemanden, der am Boden liegt, zu Tode treten kann.

Was selbstverständlich kein Grund ist, das zu tun. Egal, wie mies es dem einen oder anderen gehen mag, ist kein Grund dafür, einem anderen Menschen das anzutun, was Jonny angetan wurde. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Es gibt viele Menschen, die es echt schwer haben, und nicht zum Arschloch werden. Und es gibt jede Menge Arschlöcher, die gar nicht wissen, wie es ist, wenn es einem richtig schlecht geht. Aber wie man es dreht und wendet – es wäre besser, wenn es weniger Arschlöcher geben würde, und noch viel besser wäre es, wenn Menschen weniger Anlass hätten, Arschloch zu werden. Aber dazu müsste man die Verhältnisse ganz allgemein ändern. Selbst wenn man die Täter fasst und sie durch die Mühlen der deutschen Justiz gedreht werden, wird die Welt davon nicht besser – Jonny kommt nicht wieder und alle, die ihn kannten und liebten werden ihn weiterhin vermissen. Aber die Politik wird es schon entsprechend verkaufen, wenn dem geltenden Recht genüge getan wurde. Der Staat scheut in der Regel weder Kosten noch Mühen, wenn es darum geht, Mörder dingfest zu machen. Da wird zum Teil schon fast absurder Aufwand getrieben. Interessanterweise ist er aber ziemlich knickerig, wenn es darum geht, Verbrechen zu verhindern oder gar Opfer von Verbrechen zu unterstützen – das wird dann nämlich unter “individuelles Pech” verbucht. Und dafür ist der Staat nicht zuständig.



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