Ist das heute Gesundheitswesen nicht nachhaltig? Was war bemerkenswert? Wer war anwesend? Was habe ich gelernt?
Am 4. Dezember 2012 veranstalteten die Akademien der Schweiz das Symposium «Ein nachhaltiges Gesundheitssystem für die Schweiz» am Inselspital in Bern. Es war am gleichen Ort wir die Informationsveranstaltung «Medikamentenentwicklung und MS» der MS-Gesellschaft, nur diesmal im grossen Hörsaal.
Es war eine interessante Veranstaltung. Ich muss da gleich anfügen, dass ich wahrscheinlich ziemlich der einzige «Zivilist» war. Alle anderen waren aus beruflichen Gründen anwesend. Eine weitere Ausnahme gab es. Die Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss.
Die Veranstaltung war folgendermassen aufgebaut:
- Analyse der Probleme
- Lösungsansätze
- Angehen und Umsetzen der Massnahmen
Die Akademien haben Studien erstellen lassen und Dokumente geschrieben. Das Programm, die Studien und Dokumente sind bei den Akademien Schweiz im Dossier Ein nachhaltiges Gesundheitssystem zusammengestellt.
Nachfolgend Punkte sind mir aufgefallen. Es sind meine persönlichen Punkte und nicht alle sind fachlich relevant.
Unnötige Behandlungen
Ein Drittel aller Diagnosen und Behandlungen seien in der Medizin unnötig. Jede medizinische Fachrichtung soll 10 offensichtlich unnötige Behandlungen benennen, diese nicht mehr durchführen, beispielsweise der PSA-Test. Meistens hilft es, wenn diese unnötigen Behandlungen nicht mehr vergütet werden.
Unnötige Behandlungen und Diagnosen kosten nicht nur, sondern sie schaden auch. Ein körperlicher Eingriff ist immer mit Gefahren verbunden. Bei unnötigen Behandlungen sieht das Nutzen/Schaden-Riskio sehr schlecht aus.
Infras-Studie
Interessanterweise haben die Studie «Ineffizienzen im Schweizer Gesundheitssystem» extern vergeben. Die Studie wurde vom Beratungsunternehmen Infras durchgeführt.
Behandlungskosten
Im Publifocus von TA-Swiss wurde festgestellt, dass die Bürger und Patienten keine Ahnung über die Kosten von medizinischen Behandlungen haben. Stimmt. Ich kenne die Kosten von medizinischen Eingriffen nicht. Man könnte nun denken, die Patienten bekommen die TARMED-Rechnungen und dort steht es. Doch diese Rechnungen decken nicht den ganzen Behandlungsbetrag ab, der direkte kantonale Beitrag an die Spitäler ist nicht enthalten. Die Transparenz der Kosten würde das Kostenbewusstsein stärken. Es wurde bemerkt, dass sich Patienten beim Kennen der wahren Kosten sich für teure Behandlungen schämen würden.
Pharmasklaven
Im Publifocus haben einige Bürger zum Ausdruck gebracht, dass sie die Ärzte als Sklaven der Pharmaindustrie wahrnehmen.
Podiumsdiskussion
Es wurden zwei Podiumsdiskussionen unter der Moderation von Iwan Rickenbacher durchgeführt. Ich habe zum ersten Mal eine Podiumsdiskussion live miterlebt. Der Moderator überlegte sich im voraus spannende Fragen. Das ist sehr bequem für das Publikum.
Aufs Podium eingeladen waren ein Ökonom aus dem Tessin (Luca Crivelli), ein Medizinprofessor aus Genf (Arnaud Perrier), eine Ständerätin (Christine Egerszegi-Obrist, Präsidentin der Gesundheitskommission) und ein Pflegevertreter aus dem Jura.
Sprachlich war es interessant. Jeder hat, bis auf den Tessiner, in seiner Muttersprache diskutiert. Auf eine deutsche Frage, eine französische Antwort. Das System hat sehr gut funktioniert. Gut schweizerisch.
Die Arbeitsplätze im Gesundheitswesen gaben zu reden. In der Schweiz gibt es über eine halbe Million Arbeitsplätze im Gesundheitswesen. Der Gesundheitsbereich ist also ein sehr bedeutender Arbeitgeber.
Die Ständerätin Egerszegi zählte die Projekte dieser Legislatur auf:
- KVG-Aufsichtsgesetz (Wie werden Prämien berechnet?)
- E-Health
- Heilmittelgesetz
- Managed Care, neuer Anlauf
- Risikoausgleich
- Steuerung der Ärzte («Ärztestopp»)
- Vertragsfreiheit
- Kostenbeteiligung
Iwan Rickenbacher hat die Podiumsdiskussionen souverän geleitet.
Vergleich mit dem Ausland von Andrew Street
Als Starredner war der angesehene englische Gesundheitsökonom Andrew Street eingeladen. Er verglich die europäischen und amerikanischen Gesundheitssysteme. Dabei wurde deutlich, wie sich die Gesundheitssysteme unterscheiden: Anzahl Spitalbetten pro Person, Wartezeiten, Gesundheitskosten, Beliebtheit, Herkunft der Ärzte und Pflegenden, Datenerhebung, …
Im Gesundheitswesen hat es die Tendenz, wie anderswo auch, dass verfügbare Kapazitäten ausgenutzt werden. In Deutschland hat es sehr viele Spitalbetten, in England wenig. In Deutschland gibt es viel mehr Spitalaufenthalte.
Grossbritannien hat ein nationales und zentrales Gesundheitssystem (NHS). Behandlungen werden vom staatlichen Institut auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft (NICE). Gemäss Andrew Street ist das britische Gesundheitssystem ziemlich gut: Es ist relativ billig und die Bevölkerung ist zufrieden.
Fusionen
England hatte das Problem, dass es zu viele Spitäler gab. Spitäler schliessen ist politisch sehr heikel. England hat einen Trick angewandt. Anstatt die Spitäler zu schliessen, haben sie die Spitäler fusioniert. Spätestens bei der nächsten Gebäuderenovierungen wurden die Spitäler durch die Verwaltungen «optimiert». Die Bevölkerung hat nichts gemerkt und es gab keinen Aufschrei. Der Prozess war langsam.
Übergewicht
Eine grosse Herausforderung des britischen Gesundheitssystems ist das Übergewicht. Es gibt viele dicke Leute. Diabetes ist eine Folge davon.
Datenlage
Die Schweiz schnitt in einem Bereich sehr schlecht ab: bei der Datenerhebung und Auswertung. In der Schweiz sind praktisch keine Daten vorhanden. Keine aussagekräftigen Statistiken können erstellt werden.
- War die Behandlung erfolgreich? (Effektivität)
- Was wollen die Patienten bei einer Krankheit? Höhere Lebensqualität oder längeres Leben? (Qualität)
- Was ist der Kosten/Nutzen der Behandlungen? (Wirtschaftlichkeit)
- Wie zufrieden sind die Patienten? (Zufriedenheit)
- Welcher Krebs tritt wie häufig auf? Was sind die Verläufe? Welche Behandlungen geben die besten Aussichten? (Krebsregister)
- Wieviel wird mit den Fallpauschalen (DRG) gespart? Was sind die Effekte dieser Abrechnung? (Anreize)
- Uvm.
Kurz: Es mangelt an Feedback (Rückmeldung).
Ohne Rückmeldung kein Lerneffekt.
Positionspapier «Nachhaltige Medizin»
Der Basler Medizinprofessor Daniel Scheidegger illustrierte engagiert die vorhanden Probleme im Gesundheitswesen. Er stellte das Positionspapier der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) vor.
Beitrag der Medizin zur Gesundheit
- 50% Kultur, Bildung
- 20% Umwelt
- 20% Genetische Faktoren
- 10% Medizinische Versorgung
In anderen Worten: Der Einfluss der Medizin wird überschätzt. Hinweise: Die Zahlen sind nur ungefähr..
Die Erwartungen der Bevölkerung an die Medizin sind nicht realistisch. Vieles ist unmöglich. Nur in wenigen, seltenen Fällen ist Heilung möglich. Die Pflege steht in der Praxis im Vordergrund.
Was wollen die Patienten? Will ein Krebspatient zwei Wochen länger leben oder die letzten zehn Tage zu Hause bei seinen Grosskindern verbringen?
Personal
Die Schweiz hat zu wenig Ärzte. Die Schweiz hat zu wenig Krankenschwestern. Die Antwort des Marktes: Import. Dank der Attraktivität der Schweiz ist dies möglich. Ein viertel aller Ärzte kommt aus dem Ausland. Wie lange noch?
Müssen eigentlich alle die medizinischen Tätigkeiten von Ärzten ausgeführt werden? Sollten nicht auch Pflegerinnen Medikamente verschreiben können? Warum eigentlich hat der Arztberuf so viel mehr Ansehen als der Pflegeberuf? Ist es angemessen nach einem ETH-Studium zum Apotheker nachher nur Medikamentenschachteln zu verkaufen?
Teilnehmer
Eine Teilnehmerliste lag auf. 249 Personen waren angemeldet. Die Liste zeigt die verschiedenen Akteure in der Gesundheitspolitik. Die Teilnehmer kommen aus allen Ecken und Enden des Gesundheitsbereiches:
- Ärzte (FMH, SSO)
- Spitäler (Uni, Kantonale, Hirslanden Klinik, St. Anna, H+, uvm.)
- Hochschulen (Uni BE, Uni ZH, ZHAW, HSG, Berner Fachhochschule)
- Forschung (SAMW, SAGW, Akademien Schweiz)
- Versicherungen (SUVA, santésuisse, CSS, Assura)
- Pharma (Interpharma, MSD, Janssen-Cilag, GSK, sanofi-aventis, Medtronic, Johnson & Johnson, Takeda Pharma, vips Vereinigung der Pharmafirmen in der Schweiz, B. Brown Medical)
- Politik (kantonale Gesundheitsdirektoren/Regierungsräte [TI, ZG], GDK, Ständerätin, Altbundesrätin)
- Verwaltung & Behörden (BAG, swissmedic)
- Patientenvertreter (Patientenstelle, Patientensicht, Krebsliga)
- Banken (Credit Suisse)
- Forschungs- und Beratungsunternehmen (infras, Ernst Basler + Partner, Künzi Beratungen, Lenz, Integria Consult, 4econonmics, Büro Vatter, Köhler, Stüdeli & Partner, Züllig Consulting)
- Weitere (Schweizerisches Rotes Kreuz, Paraplebigker Zentrum)
- Personalverbände (Physiotherapie, Interverband für Rettungswesen IVR-IAS)
- Dienstleistungen (Swisscom)
- Presse (Schweizerische Ärztezeitung, Patientensicht)
- Ausländische Institute (IQWiG)
Die obigen Organisationen sind mir ins Auge gestochen. Ich habe die Zusammenstellung nicht systematisch vorgenommen.
Die bekannten Persönlichkeiten waren:
- Ruth Dreifuss, Alt-Bundesrätin
- Christine Egerszegi-Obrist, Ständerätin, Präsidentin der Gesundheitskommission
- Thomas Cerny, Krebsspezialist Kt. Spital St. Gallen, ehemaliger Arzt von Kurt Felix
- Jacques de Haller, Abtretender FMH-Präsident
- Carlo Conti, Präsident der Gesundheitsdirektoren Konferenz (GDK) der Kantone
- Trix Heberlein, Alt-National- und Alt-Ständerätin ZH
- Iwan Rickenbacher, ehemaliger Generalsekretär der CVP
- Thomas Cueni, der Cheflobbyist von Interpharma war auf der Liste. Sein Namensschild blieb liegen und ich konnte ihn auch nirgends sehen.
Das Essen war in der Veranstaltung inbegriffen und so haben alle gemeinsam gegessen und geredet. Für mich war es das erste Mal mit einem ehemaligen Regierungsmitglied im gleichen Raum zu sein.
Optische Eindrücke
Rolf Iten von Infras war der grösste, dünn und lang, einen Kopf grösser als der Rest. Jacques de Haller ist eine mächtige Erscheinung, gross und massig. Christine Egerszegi war die kleinste. Ruth Dreifuss gehörte auch zu den eher kleineren. In Natura stechen einem diese Unterschiede direkt ins Auge. Auf Porträtphotos ist mir dies noch nie aufgefallen.
Wie weiter?
Die Akademien Schweiz haben ihren Plan (Roadmap) mit sieben Zielen bis 2017 vorgestellt. Wer soll was machen? Fünf Jahre sind in der Politik keine lange Zeit. Speziell bei einem so umstrittenen Thema. Alle sind im Grundsatz dafür, sobald es aber konkret wird wollen sie eine Ausnahme.
Die vorgestellten Ziele sind:
- Die Zahl gut ausgebildeter Gesundheitsfachleute, die am richtigen Ort zum Einsatz kommen, ist genügend gross und gesichert.
- Die Versorgungsmodelle entsprechen dem Bedarf und den Bedürfnissen.
- Die Steuerung des Gesundheitssystems beruht auf relevanten Daten und adäquaten Strukturen.
- Es existieren neue Finanzierungsmodelle, die Fehlanreize verhindern.
- Medizinische Leistungen in Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation werden nur vergütet, wenn sie den WZW-Kriterien genügen.
- Die Forschung liefert die notwendigen Grundlagen, um das Gesundheitssystem nachhaltig zu gestalten.
- Sowohl Public Health als auch die Eigenverantwortung des Bürgers sind gestärkt.
WZW steht für Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit.
Alle Ziele sind wichtig. Das 5. Ziel ist am «medizinischsten». Das Ziel 3 für bessere Daten und mehr Transparenz ist ein notwendiger Schritt. Mehr Forschung wäre sicher gut. Das Ziel 4 zur Verhinderung von Fehlanreizen ist gut.
Über diese Ziele und ihre Massnahmen könnte noch viel mehr geschrieben werden. Meine Zeit als Blogger ist beschränkt. Genug für jetzt.
Schlussbemerkung
Das Schweizerische Gesundheitswesen steht vor grossen Herausforderungen. Bemerkenswert ist, dass sich die Akademien sich diesem Thema angenommen haben. Sie haben sich die Aufgabe selbst übertragen. Sie haben kein Mandant und keinen Auftrag. Ich finde es gut, dass sich die Akademien der Wissenschaften Schweiz sich dem Thema angenommen haben.
Am Anlass war die Pharmaindustrie gut vertreten. Wahrscheinlich besser als die Patienten selbst. Die Interessengruppe der «Steuerzahler» habe ich überhaupt nicht gefunden.
Die Veranstaltung war interessant. Die Vorträge waren gut und die Themen relevant. Der Starredner Andrew Street hat eine packende Präsentation geboten. Die Podiumsdiskussion war spannend. Es war interessant die Personen hinter den Namen zu sehen.Die Teilnahme hat sich für mich gelohnt.
Referenzen
- Ein nachhaltiges Gesundheitssystem, Akademien Schweiz
- Nachhaltige Medizin – Facette einer nachhaltigen Gesellschaft, Schweizerische Ärztezeitung, 2012;93:49