Bericht zur Tagung "Braucht es eine neue Wissenschaftskultur?" der nationalen Akademien D/A/CH, 7. Juli 2014

Am 7. Juli fand an der Universität Zürich die Tagung „Braucht es eine neue Wissenschaftskultur?“ der nationalen Akademien der Schweiz, Österreichs und Deutschlands statt.

Was habe ich gelernt? Was ist mir aufgefallen?

Wie misst man eine Forschungsleistung? Was ist ein guter Forscher? Was zeichnet gute Forscher aus?

Wissenschaftskultur

Ich möchte dementsprechend unter „Wissenschaftskultur“ im Folgenden die Gesamtheit derjenigen Werte und Prinzipien verstehen, an denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Umgang miteinander orientieren.

Damit unterstelle ich nicht, dass sich alle Forscherinnen und Forscher jederzeit und überall bei ihrer Forschung und Lehre an die Grundregeln der Wissenschaftskultur hielten. Aber das Entscheidende ist, dass es solche Regeln gibt, die von ihnen als gültig anerkannt werden müssen, wenn sie der „Scientific Community“ angehören wollen.

Anerkannte Werte und Prinzipien der Wissenschaft, trotz ganz unterschiedlichen Fachrichtungen wie Germanistik oder Maschinenbau.

Kernelement: Vertrauen

Die Wissenschaft als gemeinsame Leistung unzähliger Forscherinnen und Forscher basiert ganz wesentlich auf Vertrauen, und alle Faktoren, die das Vertrauen zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in die Ergebnisse ihrer Arbeit stärken, gehören meines Erachtens zu den Kernelementen der Wissenschaftskultur. Prof. Sigmar Wittig (in Vertretung von Prof. Jörg Hacker), Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina

  • Ehrliche Kommunikation der Resultate, z.B. Ergebnisse vollständig präsentieren und nicht nachteiliges weglassen
  • Grösstmögliche Nachvollziehbarkeit eigener Forschungsergebnisse durch transparente Darstellung der Vorgehensweise und möglichst offene Zugänglichkeit der verwendeten Forschungsdaten
  • Fairer Umgang mit wissenschaftlichen Beiträgen anderer, unabhängig von deren Reputation, z.B. keine Gutachten erstellen, bei vorhandenen eigenen Interessenkonflikten
  • Skeptische Haltung: Fähigkeit zu zweifeln ein Leben lang kultivieren – und dieser Zweifel sollte nicht nur die Resultate anderer betreffen

Werte und Prinzipien: Bericht der internationalen Akademien, 2012

Die InterAcademy Council (IAC) und des InterAcademy Panels (IAP) – globale Netzwerke nationaler Wissenschaftsakademien – hat 2012 den Bericht „Responsible Conduct in the Global Research Enterprise“ („Verantwortungsvolles Verhalten im weltweiten Forschungsbetrieb“) verfasst.

[Ich möchte] nachdrücklich auf eine Veröffentlichung des InterAcademy Council und des InterAcademy Panels aus dem Jahre 2012 hinweisen, deren Lektüre allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern uneingeschränkt empfohlen werden kann.

Eine gute Wissenschaftskultur ist von enormer Bedeutung.

Ansonsten wäre der Erfolg des weltweiten Gemeinschaftsprojekts „Wissenschaft“ grundsätzlich bedroht.

Die Selbstorganisation der Wissenschaft funktioniert nur, wenn die Forscherinnen und Forscher sich Werten wie Fairness, Transparenz und Objektivität verpflichtet fühlen.

Unsere Tagung fände nicht statt, wenn es mit der Umsetzung des von mir skizzierten Berufsethos im Alltag von Forschung und Lehre zum Besten bestellt wäre.

Peer Review (Begutachtung)

Die heutige Wissenschaft ist ohne Peer Review nicht denkbar. Forschungsanträge und Publikationen werden durch andere Forscher begutachtet und beurteilt.

Der Peer Review ist etwa 250 Jahre alt und wurde von den „Philosophical Transactions“, dem offiziellen Publikationsorgan der Royal Society (London), im Jahr 1752 eingeführt. Um die Aufnahme zweifelhafter Manuskripte in die „Transactions“ zu vermeiden, wurden Mitglieder der Royal Society um Gutachten gebeten. Da fast alle Mitglieder Peers, also geadelte Angehörige des Oberhauses waren, entstand so der Ausdruck Peer Review. Nach heutigem Verständnis sind Peers ebenbürtige Fachkolleginnen und -kollegen.

In anderen Worten, die Begutachtung durch andere Forscher des gleichen Gebiets wurde eingeführt, weil die Herausgeber der Fachzeitschrift die Qualität der Forschung nicht mehr selbst beurteilen konnten. Die Spezialisierung war zu weit fortgeschritten.

Der Peer Review ist ein Qualitätskontrollsystem der Wissenschaft.

Bibliometrie/Scientometrie

Wie misst man gute Forschung?

Aktuell, vereinfacht gesagt, man zählt die Anzahl Publikationen, abgestuft nach dem Renommee der Fachzeitschriften und zählt die Anzahl Zitationen.

Sehr lohnenswert für Zitationen ist das Mitverfassen von Konsensberichten und Richtlinien. Solche Publikationen werden sehr häufig zitiert.

Alternative Qualitätsmessungen, wie Resonanz in sozialen Medien, haben auch ihre Tücken. „Tweets und Likes“ sind einfach zu erstellen.

Meine Meinung

Wenn der Gemessene die Messung kennt, versucht er die Messwerte positiv zu beeinflussen, auch durch Tricks und Manipulation. Gute und einfache Messsysteme können so schnell wertlos werden.

Geheime Messverfahren sind jedoch keine Lösung. Ohne Transparenz sind die Messresultate nicht vertrauenswürdig und kaum brauchbar.

Doch wie wäre es, wenn es unterschiedliche Messverfahren gäbe und diese zufällig gewichtet würden? Also die Einführung des Zufalls (Randomisierung). Wenn etwas objektiv sein soll, es aber schwierig ist, so kann der Zufall gute Dienste leisten. In der Medizin werden beispielsweise seit Jahrzehnten randomisierte, doppelblinde Studien durchgeführt.

Ansehen, Anreizsysteme

[Als wäre] die Wissenschaft ein reiner Wettkampf dessen einziges Ziel darin besteht, möglichst viele Gegner zu schlagen. Ist der internationale Wettbewerb ein reiner Selbstzweck, in dem es allein ums Prestige geht? Sollte die Funktion der Wissenschaft nicht eher darin bestehen, einen gut ausgebildeten und motivierten Nachwuchs heranzuziehen und gesellschaftlich relevantes Wissen zu erzeugen? Prof. Marcel Weber, Département de philosophie, Université de Genéve

Was motiviert Forscher? Wie werden Forscher für gute Arbeiten belohnt?

Belohnungssystem der Wissenschaft

„Die Wissenschaftssoziologen Bruno Latour und Steve Woolgar haben 1979 in ihrem einflussreichen Buch ‚Laboratory Life‘ ein Modell dieses Belohnungssystems entwickelt. Darin postulieren sie, dass dieses System im Wesentlichen aus so genannten „cycles of credibility“ (Reputationszyklen) besteht. Ein solcher Abschluss stattet eine junge Wissenschaftlerin oder einen jungen Wissenschaftler mit einem Startkapital aus. Die Währung dieses Startkapitals ist „credibility“ oder wissenschaftliche Reputation. Wenn die Nachwuchswissenschaftlerin nun eine Stelle in einem Labor oder einer Arbeitsgruppe antritt, investiert sie dieses Kapital, und zwar den gesamten Betrag. Sie kann das Startkapital vermehren, indem sie Papers produziert. Gelingt ihr das über längere Zeit nicht, ist das Startkapital aufgefressen. Publish or perish [„Publiziere oder krepiere“], wie man sagt. Ein Reputationszyklus kommt an sein Ende, wenn unsere Forscherin eine neue Stelle antritt, oder ein eigenes Forschungsprojekt erhält, und so weiter.

Auch etablierte Forschende machen nach Latour und Woolgar nichts anderes: Sie investieren und reinvestieren laufend ihre wissenschaftliche Reputation und versuchen diese so zu vermehren. Der Reputationsmechanismus sorgt für eine angemessene Ressourcenallokation, für eine Arbeitsteilung und er ist auch Garant für die Qualität von Daten.“1

Karriere

Das Thema Karriere hat an der Tagung weitaus am meisten Raum eingenommen. Alle Vorträge gingen in irgendeiner Form auf das Thema ein. Wie lange dauert die Anstellung? Befristung auf ein, zwei Jahre oder unbefristet? Wer bekommt eine Chance? Wer wird Professor?

Die aktuelle Personalpolitik bringt verschiedene Probleme:

  • Unmöglichkeit der Karriereplanung durch Kurzfristigkeit (kurze befristete Verträge) und Zufälligkeiten, mehr als in anderen Berufen
  • Spätes Ausscheiden aus dem universitären Betrieb, z.B. mit 40 Jahren, also bereits nach grossen „persönlichen Investitionen“
  • Bevorzugung von Männern

Erstaunlicherweise sind diese Probleme nicht neu. Sie sind schon seit fast 100 Jahren bekannt. Max Weber schrieb in „Wissenschaft als Beruf“, 1919:2

Ob es einem […] Privatdozenten, vollends einem Assistenten, jemals gelingt, in die Stelle eines vollen Ordinarius und gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach Hazard ist. Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt. […] Das akademische Leben ist also ein wilder Hazard.

Warum also ist nichts gegangen? Vielleicht, weil die Motivation jener, die es geschafft haben, plötzlich erlahmt, da sie dann Privilegien und Macht abgeben müssten. Als Professor sind einem fünf ergebene Assistenten lieber, als zwei unabhängige, eigenständige Assistenzprofessoren.

Gleichberechtigung, Frauenförderung

Prof. Brigitte von Rechenberg, Veterinärmedizinerin, ging in ihrem Vortag auf die Chancengleichheit in der Forschung ein. Vieles was sie sagte ist auch gültig ausserhalb der Forschung.

Plakative Kernsätze:

  • Die Attraktivität sinkt bei Frauen mit zunehmendem Erfolg, bei Männern steigt sie.
  • Karriereratgeber für Frauen beschreiben in der Regel „Wie sich Frauen am besten wie Männer verhalten können“.

Probleme

Obwohl alle Fachrichtungen sich zu den gemeinsamen Prinzipien der Forschung stützen, haben die verschiedenen Fachrichtungen interessanterweise ganz unterschiedliche Probleme:

In einigen Disziplinen ist der „Missbrauch“ („Dual Use“) von Forschungsresultaten ein Problem.

Prof. Peter Meier-Abt, der Präsident der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften warf ein, dass auf ein Problem (der Medizin) in den Vorträgen überhaupt nicht eingegangen wurde: der Forschungsmüll („Waste-Problem“). Nicht verwertbare Ergebnisse. Resultate ohne Aussagekraft. Verschwendete Forschungsressourcen, (Siehe Blogartikel).

Forschungsmüll entsteht z.B durch

  • Nicht reproduzierbare Resultate,
  • Zu kleine Studien,
  • Forschungsfragen, die bereits geklärt sind.

In der Medizin wird nur rund die Hälfte der durchgeführten Studien publiziert, wobei Studien mit „positiven“ oder schmeichelhaften Resultaten rund doppelt so häufig publiziert werden wie Studien mit negativen Resultaten, (siehe Blogartikel).

Fazit

Es war eine interessante Fachveranstaltung. Ich habe einiges gelernt, auch zu Dingen, die ich gar nicht erwartet hatte, z.B. Gleichberechtigung.

Persönlich hat mich die argumentative Herleitung des Philosophieprofessors beeindruckt. Wahrscheinlich ein Merkmal seiner Disziplin: der Philosophie. Fasziniert hat mich auch die streitbare Art von Brigitte von Rechenberg. Einen Spiegel vorhalten und den Finger auf den wunden Punkt legen. Bei beiden hat nur schon die Art und Weise des Vortrags Freude gemacht.

Das Kennenlernen des Belohnungsmodells der Wissenschaft war sehr interessant.

Enttäuschend war für mich, dass es eigentlich den Hauptteil der Veranstaltung um „Stühle“ ging. Wer bekommt welchen Platz. Ich bin von der medizinischen Forschung geprägt und bin mit Peter Meier-Abt einer Meinung, dass wesentliche Probleme der aktuellen Wissenschaftskultur an der Tagung nicht angesprochen wurden. Diese Veranstaltung kann deshalb nur ein Anfang gewesen sein.


  1. Prof. Marcel Weber, Département de philosophie, Université de Genéve ↩

  2. Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“. In: Mommsen, Wolfgang J.; Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe. Bd. I/17. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1994, S. 3ff. ↩


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