Bericht zur Informationsveranstaltung «Medikamentenentwicklung und MS» der MS-Gesellschaft

Was wurde vorgetragen? Was war bemerkenswert? <!–break–!>

Der Neurologe Dr. Christian Kamm vom Inselspital Bern, Wissenschaftlicher Beirat der MS-Gesellschaft, erzählte in zwei Vorträgen über die aktuellen und die nächsten kommenden MS-Medikamente. Der Anlass fand am 6. Oktober 2012 im Inselspital Bern statt.

Zuerst führte er kurz in die obligaten Grundlagen ein: Verlaufsformen (CIS, RR, SP, PP), MRI-Bilder (weisse und schwarze Punkte, kontrastmittelaufnehmende Läsionen), die verfügbare Basistherapie.

Erhältliche Medikamente: Tysabri®, Gilenya®

Als erstes Medikament begann er mit Natalizumab (Tysabri®) von Biogen Idec. Dieses ist das wirksamste MS-Medikament. Die besten Resultate werden damit erzielt. Dieses Medikament ist das spezifischste MS-Medikament. Es ist zugleich auch das Medikament mit den grössten Sicherheitsbedenken. Etwa bei jedem 500. mit Tysabri® trat PML auf. PML wird durch den JC Virus verursacht. Über die Hälfte der Personen tragen den Virus in sich. Mit einem «normalen» Immunsystem ist das JC Virus harmlos. Wird jedoch das Immunsystem geschwächt, z.B. durch ein immunsuppresives Medikament wie Tysabri®, kann die Gehirnentzündung PML auftreten. Eine PML-Erkrankung verläuft meistens tragisch, über 20% sterben und viele Überlebende haben bleibende Behinderungen. Bisher sind weltweit über 280 Menschen an dieser schweren Krankheit erkrankt, das ergibt etwa 55 PML-Tote. PML wurde interessanterweise während den Zulassungsstudien nicht erwähnt, sondern erst als es bereits zugelassen war traten die ersten Fälle auf. Im Vortrag zeigte er eine Risikoanalyse für die verschiedene Gruppen, siehe Bild.

JC-Virus PML-Risiko bei Natalizumab (Tysabri®)JC-Virus PML-Risiko bei Natalizumab (Tysabri®); Stand Mai 2012; Quelle: Multiple Sclerosis Research Blog, Gavin Giovannoni; eigene Eindeutschung

Er erwähnte, dass in der Schweiz Immunsuppressiva wie Mitoxantron selten eingesetzt werden.

(Übrigens: Im obigen Bild sind in den farbigen Kästen die Vorkommensraten laiengerecht angegeben. Häufigkeiten als «1 in 90» zu schreiben ist intuitiv verständlich. «11.1/1000» sagt technisch das gleiche aus.)

Weiter ging es mit Fingolimod (Gilenya®, FTY-720) von Novartis. Die Wirksamkeit von Fingolimod liegt zwischen den Beta-Interferonen und Natalizumab (Tysabri®). Fingolimod ist er seit kurzem auf dem Markt. Interessanterweise ist Gilenya in der Schweiz als Erstlinienmedikament zugelassen im Gegensatz zur EU und den USA, wo es nur als Zweitlinienmedikament zugelassen ist. (Ob wohl die Nähe von Novartis einen Einfluss hatte?) Dr. Christian Kamm erwähnte, dass er mit dem neuen Medikament noch sehr zurückhaltend umgeht. Bei neuen Medikamenten ist immer zuerst Vorsicht angebracht bis erste Erfahrungswerte aus der Praxis vorhanden sind. Noch unbekannte Nebenwirkungen können auftreten. Die USA und die EU werden das Medikament wohl nicht ohne Grund nur als Zweitlinienmedikament zugelassen haben.

Fingolimod bedarf wegen den verschiedenen Nebenwirkungen einer ärztlichen Überwachung. Fingolimod ist kein spezifisches Medikament für das zentrale Nervensystem und es wirkt auf den ganzen Körper ein, im Gegensatz zu Natalizumab (Tysabri®). Spezifische Medikamente werden bevorzugt, da sie gezielter wirken und nicht ebenfalls an anderen Orten im Körper «nebenwirken».

Es ist bekannt, dass Fingolimod schädlich für den Fötus ist. Es darf deshalb, vor und während einer Schwangerschaft nicht eingenommen werden.

Neue Medikamente: BG-12, Aubagio®, Fampyra®

Nach der Pause stellte er die nächsten drei erwarteten Medikamente vor: BG-12 (Fumarsäure), Teriflunomide (Aubagio®), Fampridin (Fampyra®). Die Patienten wollten sofort wissen, wann die neuen Medikamente dann kommen. Der Referent erklärte, dass die neuen Medikamente zuerst von der Zulassungsbehörde geprüft werden müssen und die weiteren Entscheidungen von den Zulassungsbehörden getroffen werden. Es könnte auch sein, dass ein Medikament durchfällt und gar nicht kommt, wenn es zu grosse Sicherheitsbedenken gibt.

BG-12 (Fumarsäure, Dimethylfumarat, Fumarat, Fumarsäuredimethylester) von Biogen Idec ordnete er von der Wirkung bei mit Fingolimod (Gilenya®) ein. Er betonte aber, dass leider keine Studie mit einem direkten Vergleich vorliegt. BG-12 ist ein orales Medikament und ist eine Abwandlung eines Psoriasis-Medikamentes. Das Medikament ist im wesentlichen eine Neuverpackung eines bereits existierenden Medikamentes. Es werden die nötigen Studien erstellt und danach ein hoher Preis angesetzt (500€ pro Monat). Das bisherige und das neue Präparat können durch Ärzte Off-Label verschrieben werden.

Teriflunomide (Aubagio®) wird von Sanofi-Aventis hergestellt. Die Wirkung ist mit den Beta-Interferonen vergleichbar. Der Wirkmechanismus ist im Detail nicht bekannt. Das Medikament wurde vor einem Monat in den USA zugelassen. Das Medikament kann mit Aktiv-Kohle ausgewaschen werden.

Fampridin (Fampyra®) wird von Biogen Idec hergestellt und ist ein symptomatisches Medikament. Es verbessert nur die Symptome und hat keinen Einfluss auf Schübe. Es soll die Nervenleitung verbessern.

Er zeigte eine Übersichtsgrafik1 mit der Wirksamkeit aller vorgestellten Medikamenten. Er betonte, dass eine solche Grafik eigentlich «verboten» wäre, da die Medikamente nicht gegeneinander getestet wurden, sondern nur gegen Placebo. Ein direkter Vergleich in einer wissenschaftlichen Studie fehlt leider.

Fragerunde

Zum Abschluss beantwortete der Oberarzt Dr. Kamm Fragen. Er ging gut auf die Fragen ein. Ein Auswahl:

Frage aus dem Publikum: «Ist es sinnvoll vom agressiveren Natlizumab (Tysabri®) auf Fingolimod (Gilenya®) zu wechseln?»
Zusammengefasste Antwort: «Das könnte durch aus Sinn machen. Mit Finolimod hat man jedoch noch wenig Erfahrungen. Es hängt stark von den Präferenz des Patienten ab.»

Meine Frage: «Zu MS-Medikamenten werden viele Studien durchgeführt. Was ist das Kriterium, ob eine Studie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wird?»
Zusammengefasste Antwort: «Alles was irgendwie interessant scheint. Studien mit negativen Resultaten werden weniger veröffentlicht. Diese Studien werden langsam als wichtiger angesehen um zu wissen was nicht funktioniert.»

Frage aus dem Publikum: «Warum hat ein Placebo Nebenwirkungen?» Zusammengefasste Antwort: «Ein Placebo zeigt den natürlichen Verlauf der Krankheit. Somit werden die «normalen» Ereignisse erfasst. Das Placebo ist wichtig, damit es als Referenz zum Wirkstoff dienen kann. Placebos können Wirkungen entfalten.»

Meine Frage: «Ist eine Vergleichsstudie zwischen den verschiedenen MS-Medikamenten geplant?» Zusammengefasste Antwort: «Eine solche Studie wäre wünschenswert und im klinischen Alltag hilfreich. Universitäten können leider solche grossen Studien aus finanziellen Gründen nicht selber durchführen. Die Pharmaindustrie wird jedoch kaum an einer solchen Studie interessiert sein und eine solche Studie nicht zahlen. Das ist zu Bedauern.»

Bemerkungen

Ich fand gut wie Dr. Christian Kamm ausführlich auf die Nebenwirkungen der verschiedenen Medikamente eingegangen ist. Der Vortrag war insgesamt informativ und leicht verständlich.

Eine technische Bemerkung: Er erklärte die p-Werte («Signifikanz») der Studien als «relevante Ergebnisse». Ich finde diese Erklärung irreführend, da man daraus ableiten könnte, dass die Resultate mit guten p-Werten automatisch klinisch relevant seien, also von Patienten und Ärzten bemerkt werden. Das darf man aber nicht, denn die p-Werte sind eine statistische Grösse. Sie sagen, wie wahrscheinlich ein Resultat durch Zufall zu Stande kam. Klinische und statistische Signifikanz sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Klinisch nicht relevante Ergebnisse können statistisch signifikant sein. Ein solches Resultat sagt aber nichts aus, denn beide müssen signifikant sein.

Der Anlass wurde erfreulicherweise ohne Sponsoren der pharmazeutischen Industrie durchgeführt.

Der Redner legte seine Interessenbindungen/Interessenkonflikte dem Publikum leider nicht offen. Die Offenlegung wird von den FMH-Richtlinien (SAMW Richtlinie «Zusammenarbeit Ärzteschaft-Industrie») gefordert. Der Autor folgte nicht dem guten Beispiel von Prof. Dr. Kappos.

Das erste Mal wurde bei einer solchen Informationsveranstaltung ein Fragebogen zur Qualitätsauswertung verteilt. Das ist eine der Forderung der öffentlichen Hand, denn der Anlass erhielt eine Unterstützung der öffentlichen Hand. (Den Pharmasponsoren wurde jeweils zu Beginn eines Informationsanlasses gedankt. Warum geschieht dies bei einer öffentlichen Unterstützung nicht?)

Warum wird eine Qualitätsanalyse nicht bei pharmagesponserten Anlässen durchgeführt?

Dies sind meine subjektiven und unabhängigen Eindrücke der Veranstaltung. Ich hoffe diese Zusammenfassung war nützlich.


  1. Ich hätte gerne eine solche Grafik gezeigt. Ich konnte jedoch nichts finden, weder eine Grafik noch die Rohzahlen. Wenn mir jemand weiterhelfen kann, bitte bei mir melden. ↩


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