Albumcover von Kode9 & The Spaceape, 2006
Die Vergangenheit in der Zukunft
Am Wochenende fand das diesjährige Exkurs-Festival der Studenten der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen statt. Aus aktuellem Anlass der zunehmend de-subventionierten Kultur- und Theaterlandschaft organisierte man in diesem Jahr statt des üblichen Diskurs-Festivals das Exkurs-Festival, um Position zu beziehen, zu diskutieren und zu intervenieren. Mit dem temporären Theaterbau, errichtet auf einer freien Grünfläche nahe der Innenstadt, wurde zunächst eine architektonische Rückeroberung des öffentlichen Raums demonstriert. Die Logen konnten in den Wochen zuvor frei gestaltet werden und wurden – statt im Innenraum des Theaters – an den Außenwänden angebracht und scheinen mit dem eindringlichen Blick auf die vorbeigehenden Passanten selbige stets darauf anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass unsere Kultur in Gefahr ist, unter dem Pflaster einbetoniert zu werden, ohne dass der Strand jemals entdeckt wird.
- Logen des temporären Theaterbaus
Solche Aktionen haben mich schon immer magnetisch angezogen. Kunst im öffentlichen Raum ist ja außerhalb von Berlin mittlerweile rarer gesät als so manche Reissorten. Im Zuge der Vortragsreihen erschien am Samstag der Schriftsteller und Philosoph Guillaume Paoli im Theaterbau, um einen Vortrag mit dem Titel “Die Gegenwart hat keine Zukunft” zu halten. Paoli ist kein geringerer als der Mitbegründer der legendären Glücklichen Arbeitslosen und neuerdings Hausphilosoph des Leipziger Centraltheaters. Während seines Vortrages ging es vor allem um die Zurückeroberung von Zeit und man wurde das Gefühl nicht los, dass es sich eigentlich um ein Plädoyer gegen lineare Lebensabfolgen handelte. Nicht selten kam er auf Studenten zu sprechen, die ihn in seiner „philosophischen Sprechstunde“ in Leipzig aufsuchten, um vom Leid ihrer paradoxen Lebenslauf-Planungen zu berichten. Außerdem seien kausale Ketten in Bezug auf das soziale Leben meistens eine Illusion, eine Konstruktion zur Komplexitätsreduktion unserer chaotischen Welt. In der Erinnerung ist immer alles logisch, Zusammenhangsloses wird mit dem Kausalitätskleber miteinander verbunden.
Guillaume Paoli im temporären Theaterbau
Zukunftsvisionen, so behauptet jedenfalls der Philosoph, sind nur selten so eingetreten wie erwartet. Vielmehr seien gerade auch solche umstürzlerische Ereignisse wie der 1. Weltkrieg oder die heutige Wirtschaftskrise stets überraschend eingetreten. Die Vorstellung von Zeit der Aymara, einem indigenen Volk in Chile, von denen der Philosoph zu Beginn erzählt, scheint da wesentlich plausibler. Die Zukunft liegt für sie in der Vergangenheit, es existiert kein lineares Zeitverständnis. Denn: Die Vergangenheit kann man sehen, die Zukunft nicht. Stimmt. Sogar Zukunftsforscher müssen diesen Aspekt einräumen, wie in einem interessanten Interview hier zu lesen ist.
In der Musik von Burial jedenfalls, kann man die Vergangenheit in der Gegenwart hören, auch wenn sie leicht verändert und verfremdet erscheint. Subtiles Plattenknistern, hochgepitchte Stimmensamples und gebrochene 2 step-Beats erzählen von einer Vergangenheit, deren untergegangene Utopien erst durch die Musik wieder zum Vorschein kommen.
Kommen wir zur Kritik an der Gegenwart. Es geht um die weitreichenden Folgen unserer, sich immer mehr zur Null-Risiko-Gesellschaft entwickelnden Gesellschaft, deren Katalysator der Technikfortschritt ist. Vor allem der immer weiter voranschreitende Einfluss der Pränataldiagnostik in unsere Lebenswelt sollte kritisch gesehen werden. Dazu fallen mir die dystopischen Bilder der gezüchteten Embryone in Huxleys „Schöne neue Welt“ ein. Aber auch in anderen gesellschaftlichen Feldern lassen sich Beispiele finden. Paoli spricht von Schriftstellern, die sich schon vor dem ersten geschriebenen Wort fragen, was genau die Zielgruppe ist, welcher Verlag passen könnte oder wie hoch die Auflage sein wird. Zum Schluss weist der Sprechstundenphilosoph darauf hin, wie viele Menschen zum Beispiel auf Konzerten mittlerweile lieber mit dem Handy filmen und sich alles später auf Youtube anschauen, statt es live zu erleben. So würden wir alle doch nur Hersteller von Erlebniskopien. Ein schöner Begriff. Aber: Wer erlebt interessante, affektuelle Erlebnisse und Ereignisse nicht gerne nochmal?
Text und Fotos: Phire