Benedikt XVI. geht – Dr. Ratzinger bleibt

B16Heute Abend um 20:00 Uhr des 28. Februar 2013 endet gemäß sei­ner Ankündigung für Dr. Ratzinger seine Stellvertreterschaft des Jesus Christus. Der Vicarius Iesu Christi tritt auf­grund eige­ner Entscheidung zurück: Ein zwei­fel­los kir­chen­recht­lich zuläs­si­ger Schritt, der den­noch die Gläubigen tief scho­ckiert, denn ein sol­cher Schritt lag bis­lang außer­halb der (katho­li­schen) Vorstellungskraft, wie Kardinal Meisner dies kurz nach der Rücktrittsankündigung for­mu­liert hat.

Etwas Unfassbares ist gesche­hen – etwas, das nie­mand bis­lang erlebt und kei­ner der Gläubigen, für die alles um den Nachfolger Petri hei­lig ist, für rea­lis­tisch gehal­ten hat. Diesen Job kün­digt man nicht nach eige­nem Gutdünken wie irgend­eine andere beruf­li­che Tätigkeit. Der Fels, auf dem die Christus-Gemeinde gebaut sein soll, ero­diert.

Auch wenn es Gründe für den Rücktritt geben mag, wobei das Märchen von der ange­grif­fe­nen Gesundheit mitt­ler­weile kaum noch einer hören mag, so hat der Berliner Kardinal Woelki die his­to­ri­sche Dimension des Rücktritts auf den Punkt gebracht: das Amt des “Heiligen Vaters” wird ent­mys­ti­fi­ziert, es wird ent­zau­bert. Es wird von katho­li­scher Seite nicht zu Unrecht eine “Verweltlichung des Papstamtes” befürch­tet. Für alle hin­ge­gen, die nicht der katho­li­schen Ideologie anhän­gen, ist es eine gute Nachricht: ein wei­te­rer Schritt in der Entzauberung der (zumin­dest euro­päi­schen) Welt ist getan und die Bühnenbilder des Sakralen wer­den bei­sei­te­ge­scho­ben, so dass sich der pro­fane Kern, zumal in sei­ner gesam­ten “unhei­li­gen” Erbärmlichkeit, zeigt.

Zu sehen ist ein Mann, der der Welt mora­li­sche Werte erhal­ten und neu ver­mit­teln, “das Böse” bekämp­fen und gegen “Beliebigkeit” und der gegen eine “Diktatur des Relativismus wollte. Einer, der der Welt vor­hält, nur die Ichbezogenheit als Maßstab zu ken­nen, der ankämp­fen will und der doch “das Böse” schon im eige­nen Haus, in der eige­nen Kirche vor­fin­det. Zu sehen ist eine Organisation, in der weni­ger der Heilige Geist weht als ein bru­ta­ler Machtkampf tobt, in der intri­giert und Seilschaften gebil­det wer­den, in der es nur um Posten, Einfluss und Beziehungen geht, und in der “Sodom und Ghomorra” exis­tent ist. Die “eine, hei­lige, katho­li­sche und apos­to­li­sche Kirche” ent­zau­bert sich selbst und führt sich dem Erdkreis vor als ein Unternehmen ohne jeg­li­che Unternehmenskultur, ohne effi­zi­ente Organisation und ohne ein fähi­ges Management.

Was im Vatikan, in Teilen der Kurie tat­säch­lich los ist, ist in den letz­ten Tagen deut­li­cher gewor­den: der 300-seitige Untersuchungsbericht zur soge­nann­ten Vatileaksaffäre der drei als Sonderermittler ein­ge­setz­ten Kardinäle soll Brisantes und schier Unglaubliches zu ent­hal­ten: von einem gehei­men “Schwulennetzwerk” im Vatikan, von Sexorgien, von Erpressbarkeit von Kardinälen auf­grund ihrer “sexu­el­len Orientierung” ist die Rede. In dem Bericht sol­len Informationen für den Verstoß gegen gleich meh­rere christ­li­che Gebote ent­hal­ten sein, dar­un­ter auch gegen das Gebot, nicht frem­des Eigentum zu begeh­ren. Hinzukommt ein bru­ta­ler Machtkampf im Vatikan, den der Theologe auf dem Stuhl Petri, der als “Schöngeist” bezeich­net wird, nicht unter Kontrolle bekom­men hat. Der Corriere della Sera hat unmit­tel­bar nach der Rücktrittsankündigung Anfang Februar berich­tet, dass Dr. Ratzinger in der Vergangenheit bereits wie­der­holt ange­deu­tet habe, dass er sich durch die Machenschaften im Vatikan über­for­dert fühle.

Weiter spielt das Scheitern des Dr. Ratzinger bei sei­nen Bemühungen um eine Reform der Vatikanbank (die die offi­zi­elle Bezeichnung “Institut für die reli­giö­sen Werke” trägt) eine wesent­li­che Rolle. Hierbei soll er ins­be­son­dere von Kardinalstaatssekretär Bertone aus­ge­bremst wor­den sein. Diese skan­dal­um­wit­terte Bank wird nach wie vor inter­na­tio­na­len Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Steuerflucht nicht gerecht. Erneuerungsprozesse sind geschei­tert und die Berufung des Deutschen Malteser-Ritters und Managers von Freyberg scheint eher eine Verlegenheitslösung zu sein.

Kardinalstaatssekretär Bertone hat es im zeit­li­chen Zusammenhang mit der Ernennung des neues Chefs der Vatikanbank geschafft, noch in den aller­letz­ten Tagen sei­ner Amtsführung einen sei­ner wich­tigs­ten Kritiker aus dem Aufsichtsrat zu ent­fer­nen, der schon vor einem Jahr gewarnt hat, dass Bertone kei­nes­wegs für eine Reform der Vatikanbank ein­trete und nicht plane, sich den inter­na­tio­na­len Standards zu unter­wer­fen.

Gewissermaßen im Gegenzug hat Dr. Ratzinger, eben­falls in sei­nen letz­ten Amtstagen, einen Monsignore Balestrero am ver­gan­ge­nen Freitag ent­las­sen, der im Staatssekretariat eine ein­fluss­rei­che Rolle spielte und zudem maß­geb­lich an den Beziehungen der Vatikanbank ins Ausland betei­ligt war. Er wird auf den Posten eines Gesandten in Kolumbien degra­diert. Sein Name ist nach Angaben von “La Repubblica” in dem 3ooseitigen Untersuchungsbericht ent­hal­ten.

Einem Irrtum dürfte unter­lie­gen, wer nun annimmt, Dr.Ratzinger werfe das Handtuch und ziehe sich in einen Altersruhestand zurück. Das ist vom lang­jäh­ri­gen Chef der Kongregation für die Glaubenslehre, der für die “Reinhaltung” der katho­li­schen Ideologie zustän­dig war, und der sich beru­fen fühlt, einer zuneh­mend ungläu­bi­ger wer­den­den Welt den rich­ti­gen, sprich: den “katho­li­schen” Weg zu wei­sen, nicht zu erwar­ten. Zu einem Rückzug passt bereits nicht, dass er just an jenem 17. Dezember, als ihm die­ser Bericht vor­ge­legt wurde, sei­nen Rücktrittsentschluss gefasst haben soll.

Eine Rückkehr in das Private plant er ohne­hin nicht, wie er bei sei­ner letz­ten Audienz als “Summus Pontifex Ecclesiae Universalis” (Oberster Priester der Weltkirche) am 27. Februar auf dem Petersplatz mit­ge­teilt hat. Ähn­lich hat er sich auch am ver­gan­ge­nen Sonntag bei sei­nem letz­ten Angelus-Gebet im Amt geäu­ßert. Und sei­nen Kritikern wie dem pol­ni­schen Kardina Dziwisz, dem Intimus des vor­he­ri­gen Papstes, ent­geg­nete er: “Ich ver­lasse nicht das Kreuz, ich bleibe auf eine neue Weise beim gekreu­zig­ten Herrn”. So redet kei­ner, der sich resi­gniert zurück­zieht.

Seine letz­ten Entscheidungen im Amt wir­ken denn auch nicht wie Handlungen eines alten, geschwäch­ten und müden Mannes, son­dern ener­gisch und ziel­stre­big: die Ände­run­gen über die Vorziehung des Konklaves – wohl um Kardinalstaatssekretär Bertone nicht mehr viel Handlungsspielraum zu las­sen, die Anordnung an die drei Kardinäle, den 300-seitigen gehei­men Untersuchungsbericht als­bald dem Nachfolger vor­zu­le­gen und zu erläu­tern, die Entscheidung, künf­tig an einer ruhi­gen Stelle inner­halb des Vatikans woh­nen, wenige hun­dert Meter vom Nachfolger ent­fernt (man mag es als stän­dige Mahnung oder Drohung an den Nachfolger wer­ten) und die Tatsache, dass sein lang­jäh­ri­ger engs­ter Mitarbeiter, Georg Gänswein – vor kur­zem noch inner­halb der katho­li­schen Hierarchie zum Kurienerzbischof beför­dert – sowohl für den neuen als auch für den alten Papst tätig sein soll (er wird Präfekt des Päpstlichen Hauses und Dr. Ratzingers Sekretär blei­ben).

Von Müdigkeit ist da nichts zu bemer­ken, son­dern eher von einer Konzentration auf das Wesentliche, auf das Grundsätzliche. Während das ope­ra­tive Tagesgeschäft offen­bar einem robus­ten Jüngeren über­las­sen wer­den soll – einem der eher Politiker und Geschäftsführer ist, als das das ein Theologe über­haupt sein könnte. Diesen Bereich ver­mochte er nicht erfolg­reich zu hän­deln – aber das ist auch nicht sein Metier.

Dr. Ratzinger macht also wei­ter: beim vor­letz­ten Angelus-Gebet for­derte er von den Katholiken, sei­ner in den letz­ten Jahren ver­kün­de­ten Linie treu zu blei­ben. Kirche und Gläubige soll­ten “sich neu Gott zuwen­den, um Hochmut und Egoismus zu begeg­nen”. Dies bedeute einen “spi­ri­tu­el­len Kampf, weil der Geist des Bösen ver­sucht, uns vom Weg zu Gott abzu­brin­gen”, sagte er. In sei­ner Ansprache wäh­rend der Aschermittwochsmesse kri­ti­sierte er “reli­giöse Heuchelei” und for­derte ein Ende von “Individualismus und Wetteifer” inner­halb der katho­li­schen Kirche. “Das Gesicht der Kirche wird manch­mal von Sünden gegen die Einheit der Kirche und Spaltung zwi­schen den Geistlichen geschä­digt”, beklagte er. Dabei werde das “Zeugnis” der Kirche “umso bedeut­sa­mer sein, umso weni­ger wir unse­ren Ruhm suchen”. Das klingt nach den Formulierungen in sei­ner Freiburger Rede 2011, als er zu mehr Religiosität auf­rief und als Folge der geschicht­li­chen Säkularisierungen etwas Positives für die katho­li­sche Kirche sah: “Die von ihrer mate­ri­el­len und poli­ti­schen Last befreite Kirche kann sich bes­ser und auf wahr­haft christ­li­che Weise der gan­zen Welt zuwen­den, wirk­lich welt­of­fen sein.”

Eine Evangelisierung steht an, und eine “Entweltlichung” der Kirche, wie er es schon in der Freiburger Rede 2011 her­vor­ge­ho­ben. Der Mainzer Kardinal Lehmann hat dies jüngst unter­stri­chen, als er im Zusammenhang mit dem Papst-Rücktritt zu einer Orientierung auf das “Fundament eines leben­di­gen Glaubens” auf­ge­ru­fen hat: “Darum hat uns auch Papst Benedikt XVI. mit sei­nem zen­tra­len Werk über das Leben Jesu und mit den Gesammelten Schriften ein Erbe geschenkt und hin­ter­las­sen, das auch für die Kirche der Zukunft wich­ti­ger ist als ein Aktivismus jeg­li­cher Art.”

Das ist das Programm des Dr. Ratzinger, und dafür wird er seine Arbeit im “Weinberg des Herrn” fort­set­zen, wenn auch an ande­rer Stelle und mit ande­ren Mitteln. Dr. Ratzinger zieht sich auf ein in der katho­li­schen Organisation nicht vor­ge­se­he­nes Wächteramt zurück. Sein Einfluss wird enorm groß sein; auch des­halb ist dem Theologen und Kirchenkritiker Horst Herrmann zuzu­stim­men, der dar­auf hin­ge­wie­sen hat, dass auch der nächste Papst den Reformstau nicht über­win­den wird.

Den kri­ti­schen Kräften inner­halb der katho­li­schen Kirche dürf­ten die Vorgänge in Rom jedoch Auftrieb geben: wenn schon der Papst die Stellvertreterschaft des diva­ni­sier­ten Jesus durch Eigenkündigung been­den darf und nicht mehr die Entscheidung des Allmächtigen abwar­tet, ihn von sei­ner Position abzu­be­ru­fen, warum soll dann in allen ande­ren Bereichen, etwa hin­sicht­lich der Ehescheidung, der Geburtenregelung und Verhütung, der Berufung von aus­schließ­lich Männern zur Priesterschaft, dem Zölibat, der Sterbehilfe, der Homosexualität alles beim Alten blei­ben? Wenn schon der oberste Katholik Vernunftgründe dafür anführt, seine Entscheidung an die des von den Katholiken ange­be­te­ten Gottes zu set­zen, warum sol­len dann nicht auch an ande­ren Stellen Vernunftgründe in der katho­li­schen Kirche Einzug hal­ten?

Dass der Rücktritt vom Amt des Stellvertreters an einem 28. Februar erfolgt, mag Zufall sein – aber bei einem in der Theologie und der Geschichte der katho­li­schen Kirche so tief ver­wur­zel­ten Mann wie Dr. Ratzinger mag man nicht an Zufall glau­ben.

Am 28. Februar des Jahres 380 erließ der römi­sche Kaiser Theodosius das Edikt Cunctos popu­los, mit dem per staat­li­cher Anordnung die christlich-trinitarischen Religion zur ein­zig wah­ren katho­li­schen Religion erklärt wurde. Damit wurde das Ergebnis des Konzils von Nicäa zur allein­ver­bind­li­chen Grundlage des allein zuläs­si­gen Glaubens gemacht, und zwar nicht von Theologen, son­dern von den für die Innenpolitik zustän­di­gen staat­li­chen Organen, ohne vor­her­ge­hende Konsultationen mit kirch­li­chen Vertretern, wie antike Kirchenhistoriker berich­tet haben. Waren anfangs Andersgläubige noch “nur” der Strafe der Äch­tung und Verbannung aus­ge­setzt, wur­den in den fol­gen­den Jahren durch wei­tere Edikte des Theodosius die noch vor­han­de­nen heid­ni­schen Kulte ver­bo­ten, durch Eheverbote (etwa mit Juden) tief in die pri­vate Sphäre ein­ge­grif­fen sowie der Abfall vom (wah­ren) Christentum unter Strafe gestellt, die Häresie zum Verbrechen erklärt. Durch diese und eine Vielzahl wei­te­rer staat­li­cher Akte wurde das katho­li­sche Christentum zur Staatsreligion erho­ben.

Will Dr. Ratzinger mit der Wahl des Rücktrittsdatums zei­gen, dass es so wie bis­her mit der katho­li­schen Kirche tat­säch­lich in einem grund­sätz­li­chen Sinne nicht mehr wei­ter­ge­hen kann? Gewiss soll es zwar mit einer kon­ser­va­ti­ven Ausrichtung wei­ter­ge­hen, aber mit einer Konzentration auf das Religiöse und nicht auf das Weltliche drum herum?

Der Mann, der ange­tre­ten ist, den zuneh­men­den “Unglauben” zu bekämp­fen, hat aber durch sein Wirken dazu beige­tra­gen, und zwar wesent­lich auch mit sei­nem Rücktritt, die katho­li­sche Kirche und die katho­li­sche Religion zu ent­mys­ti­fi­zie­ren. Danke, Herr Dr. Ratzinger.

Walter Otte

[Erstveröffentlichung: hpd]


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