Der ganz große Aufreger ist mittlerweile vom Tisch.
Marktradikale Mitglieder der AfD-Programmkommission [konkret im Bundesfachausschuss Drei - BFA3 - mit den Themenfeldern "Finanzen, Steuern, Wirtschaft (Finanz-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Alterssicherung und Wirtschaftspolitik)") hatten in dem ursprünglichen Entwurf für ein AfD-Parteiprogramm (das erste; bislang gibt es lediglich Wahlprogramme) unter anderem eine Abschaffung der gesetzlichen Unfallversicherung und ebenso der Arbeitslosenversicherung gefordert.
Das war in der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden, u. a. auch von mir: "AfD-Programmentwurf: Libby Langfingers Dschihad gegen den Sozialstaat".
Es war wohl weniger mein Aufschrei als vielmehr die Empörung in den Medien und in der Öffentlichkeit (und vermutlich auch in der breiten Masse der Parteimitglieder), die zu einem Umdenken geführt und den Bundesvorstand bewogen hat, diese Version NICHT als Vorlage für den Stuttgarter Programmparteitag (30.04./01.05.2016) einzuspeisen.
Der neue Programmentwurf, über den wir dann in Stuttgart abstimmen werden, liegt uns Parteimitgliedern noch nicht vor. Das ARD-Hauptstadtstudio ist aber bereits in seinen Besitz gekommen und berichtet darüber heute (21.03.2016) unter der leicht irreführenden Überschrift (denn zum Parteiprogramm wird das Papier ja erst nach der Beschlussfassung der Mitglieder) "Einblicke in das Parteiprogramm. Was die AfD will".
Für den vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, worüber NICHT berichtet wird, nämlich über die o. a. "Reformvorschläge". Man darf also wohl davon ausgehen, dass jetzt die Kapitel VI. ("Soziale Sicherheit in Not und Alter") und VII. ("Arbeitsmarkt weniger verwalten und mehr befreien") ganz weggefallen sind oder zumindest gewaltig "entschärft" wurden.
Das heißt aber natürlich nicht, dass die Grundsatzdebatte um die staatliche Sozialversicherung damit beendet wäre. Die wird weitergehen: Überall in der Welt, wo es solche Versicherungen gibt und in Deutschland sowieso. Aber auch innerhalb der AfD werden die Marktradikalen immer wieder versuchen, eine Beschneidung des Sozialstaates in den Forderungskatalog unserer Programmatik aufnehmen oder einzuschmuggeln.
Womit es dann auch legitim ist, dass ich meinerseits diese Grundsatzdebatte hier fortsetze.
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Wenn Sie sich jetzt fragen, warum Sie nirgends etwas darüber gelesen haben, dass die AfD den ehemaligen Vorsitzenden ("Chairman") der US-amerikanischen Notenbank als Programmberater eingestellt hat, darf ich mir auf die Schulter klopfen: Dann habe ich Sie nämlich in der Überschrift erfolgreich aufs Glatteis geführt. ;-)
Ben Bernanke (Wikipedia; sein 2. Vorname ist "Shalom"; aber darum geht es hier nicht, und das ist auch ansonsten denkbar unwichtig ;-) ) hat selbstverständlich rein gar nichts mit der Alternative für Deutschland (AfD) zu tun.
Gleichwohl wäre die Partei gut beraten, seine geld- bzw. gleichgewichtspolitische Analyse ernst zu nehmen.
Bernanke, und mehr noch sein Vorgänger Alan Greenspan, waren seinerzeit massiv angegriffen worden, weil sie durch die Geldmengenausweitung des Federal Reserve System (Fed) die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 ff. (mit)verursacht hätten. Beide exkulpierten sich mit der Behauptung, dass sie gar nicht an der gewaltigen Ausweitung der US-Hypothekenkredite schuld gewesen seien, sondern dass diese aus ausländischen Spareinlagen finanziert worden seien, aus einer "saving glut" (Sparschwemme; auf Englisch manchmal auch im Plural als "savings glut" geschrieben). Deswegen seien, trotz Erhöhung der Ausleihezinsen der US-Notenbank, die Kreditzinsen auf einem niedrigen Niveau und die Nachfrage entsprechend hoch geblieben.
Bereits vor der Krise hatte Ben Bernanke über die weltweite Sparschwemme gesprochen, so etwa am 10.03.2005 in seinem Fachvortrag "The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit". (Auch später hat Bernanke über diesen Sachverhalt referiert; vgl. näher in meinem Blott "Der Investitionsbegriff in der Volkswirtschaftslehre: Theologie oder Rumpelstilzchen-Invokation?".)
Am 19.10.2009 hielt er einen Vortrag über "Asia and the Global Financial Crisis". Darin schlug er folgende Maßnahmen vor, um zukünftige weitere große Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen zu verhindern (meine Hervorhebungen):
"The United States must increase its national saving rate. Although we should deploy, as best we can, tools to increase private saving, the most effective way to accomplish this goal is by establishing a sustainable fiscal trajectory, anchored by a clear commitment to substantially reduce federal deficits over time. For their part, to achieve balanced and sustainable growth, the authorities in surplus countries, including most Asian economies, must act to narrow the gap between saving and investment and to raise domestic demand. In large part, such actions should focus on boosting consumption. Admittedly, just as increasing private saving in the United States is challenging, promoting consumption in a high-saving country is not necessarily straightforward. One potentially effective strategy is to reduce households' precautionary motive for saving by strengthening pension systems and increasing government spending on health care and education. Of course, such measures are likely to improve welfare and productivity as well as to contribute to more balanced, robust, and sustainable economic growth."
Auf Deutsch also in etwa (teilweise zusammenfassend übersetzt):
"Die USA müssen die nationale Sparquote steigern [um ihr Leistungsbilanzdefizit zu reduzieren]. Das lässt sich am ehesten dadurch bewerkstelligen, dass die US-Regierung ihr Haushaltsdefizit abbaut. Die Regierungen der Überschussländer [namentlich erwähnt Bernanke die asiatischen Länder, aber selbstverständlich gelten seine Ausführungen vom Grundsatz her auch für Deutschland] müssen die Lücke zwischen [finanzieller] Sparleistung und [realwirtschaftlichen] Investitionen verringern und die Binnennachfrage erhöhen. Das ist nicht unbedingt leicht zu erreichen (genauso wenig, wie den Amerikaner das Sparen beizubringen). Aber EIN Weg zu diesem Ziel wäre es, das Motiv für das Vorsorgesparen der Haushalte zu schwächen, indem die Altersversicherungssysteme gestärkt und die Regierungsausgaben für Gesundheitsfürsorge und Ausbildung gesteigert werden. So würden nicht nur die Wohlfahrt und Produktivität gesteigert, sondern zugleich ein ausgeglicheneres, robusteres und nachhaltigeres Wirtschaftswachstum erreicht."
Ben Bernanke argumentiert hier also wie folgt (die USA, bzw. die Defizit-Länder allgemein, lasse ich beiseite):
- Die Bevölkerung in den Überschussländern spart zu viel. Mindestens teilweise tun die das, weil sie für die Wechselfälle des Lebens vorsorgen wollen [und in Asien mangels Sozialstaat auch müssen].
- Die Regierungen (in den asiatischen Überschussländern, wo die staatliche Fürsorge deutlich weniger entwickelt ist als in Europa) sollten den Sozialstaat ausbauen. Das würde die dortigen Menschen dazu bringen, weniger zu sparen und mehr zu konsumieren.
- Dadurch müssten (und könnten) diese Länder weniger exportieren, was zu einer Verminderung der Exportüberschüsse und damit der internationalen Ungleichgewichte führen würde. (Bzw. sie würden mehr importieren, was auf dasselbe hinausliefe.)
Aber auch Deutschland hat einen gigantischen Exportüberschuss (und Leistungsbilanzüberschuss), und damit (automatisch) entsprechend hohe (Geld-)Ersparnisse.
Für ein präzises Gegensteuern der Politik müsste man natürlich wissen, WER, d. h. welche Bevölkerungsschichten, diese Ersparnisse (die zu internationalen Ungleichgewichten und damit letztendlich potentiell zu Finanzkrisen führen) ansammelt:
- Die Unternehmer? Dann wären die Gewinne zu hoch; man könnte entgegenwirken, indem man die Löhne steigert. Das wäre natürlich in einer freien Marktwirtschaft Sache der Gewerkschaften, nicht der Regierung. Aber die Regierung könnte die Tarifpartner auf diesen Sachverhalt hinweisen und in diese Richtung drängen.
- Die Arbeitnehmer? Dann sollte die Regierung versuchen, die zu einem gesteigerten Konsum anzuregen. Und auf keinen Fall Maßnahmen ergreifen, die zu einer Konsumzurückhaltung der Arbeitnehmer führen würden.
Es wäre dann auch nicht etwa so, dass lediglich staatliche durch private Vorsorge abgelöst würde, ohne dass es quantitative Veränderungen gäbe (also nicht "linke Tasche - rechte Tasche"). Denn:
Private Versicherungen können, anders als die gesetzlichen Sozialversicherungen, nicht im Umlageverfahren arbeiten. Die müssen (gewaltige) Rücklagen bilden, aus deren Erträgen sie dann die Versicherungsleistungen finanzieren.
Das würde ganz besonders für die Arbeitslosenversicherung gelten, weil dort die Leistungen gar nicht aktuarisch (versicherungsmathematisch) seriös berechnet werden können: Eine gewaltige Konjunkturkrise kann alle Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf der Basis früherer Werte über den Haufen werfen.
Mit anderen Worten: Der im ursprünglichen AfD-Programmentwurf geforderte Abbau der gesetzlichen Sozialversicherung würde die inländische Nachfrage weiter drosseln. Will die deutsche Volkswirtschaft dann die Arbeitsplätze erhalten, ginge das nur über eine weitere Steigerung der Exporte. Das würde die internationalen Ungleichgewichte weiter verschärfen.
Außerdem würde die "Reform" der Unfall- und Arbeitslosenversicherung in der Form, wie sie in dem jetzt verworfenen Programmentwurf geplant war (nämlich als ein Raubzug gegen die Arbeitnehmer, denen der Arbeitgeberanteil weggenommen worden wäre) die Gewinne und damit die finanziellen "Sparleistungen" auf der Unternehmerseite weiter steigern.
Die realwirtschaftlichen Investitionen der Unternehmer lassen jedoch schon jetzt zu wünschen übrig. Diese Situation würde sich verschärfen, wenn die Kaufkraft der Arbeitnehmer durch den Entzug der Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung noch mehr beschnitten würde.
Der gleiche Einwand gilt natürlich gegen das kapitalgedeckte Zusatzsparen für die Altersversorgung (sog. Riester-Rente), welche der deutsche Staat den Arbeitnehmern mehr oder weniger aufzwingt. Auch diese Ersparnisse wandern, wie ich (in meiner Analyse "Rentenreich" aus dem Jahr 2004) und andere das bereits damals vorausgesehen hatten, NICHT in realwirtschaftliche Investitionen. Sondern in (Konsum-)Kredite an das Ausland.
Das hat irgendwo sogar der geistige Ur-Vater der Riester-Rente, Prof. Hans-Werner Sinn gesehen: Dass die deutschen Ersparnisse nicht (wie er und andere 1998 in einem Gutachten für die Bundesregierung erwartet hatten) als gesteigerte Investitionen in die deutsche Wirtschaft geflossen waren, sondern als Exportkredite in amerikanische Granitküchen. Wo sie dann 2007/2008 in Rauch aufgingen.
Aus meiner Sicht sollte man das abschaffen, und die gesetzliche Rentenversicherung wieder stärken. Alles andere ist Betrug. Eine evtl. demographische Krise würde nämlich die Erträge der kapitalgedeckten privaten Versicherungen vom Grundsatz her in der gleichen Weise schmälern wie in einer umlagefinanzierten Versicherung. In der Realität aber noch stärker, weil bei der staatlichen Versicherung die Aufteilung des Bruttoinlandsprodukts auf Jung und Alt bis zu einem gewissen Grade zu Gunsten der Alten beeinflussen kann; private Versicherungen können das nicht.
Mutatis mutandis gelten meine o. a. Ausführungen auch für den Mindestlohn. Dessen Wegfall
- steigert die Gewinne der Arbeitgeber (und/oder auch die Ersparnisse derjenigen Konsumenten, welche für die Arbeitsleistung der Mindestlöhner ohne den ML "zu wenig" bezahlen würden) und
- schwächt die Kaufkraft der Mindestlöhner und damit die inländische Konsumnachfrage.
Wenn also unser Co-Vorsitzender Prof. Jörg Meuthen den Mindestlohn ablehnt, dann wüsste unsereiner schon ganz gerne, wie er die o. a. außenwirtschaftlichen Zusammenhänge beurteilt.
ceterum censeo
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der ist nicht "weltoffen":Der hat den A.... offen!Textstand vom 21.03.2016