“Bolivien hat mehr als jedes Land in der westlichen Hemisphäre Armut und Ungleichheit in den letzten zehn Jahren reduziert”, und “Evo Morales hat beweisen, dass Sozialismus die Ökonomie nicht zwangsläufig beschädigt” wird in einigen, nicht nur alternativen Publikationen derzeit bejubelt. Maßnahmen waren: Erhöhung des Mindestlohns um 87 %, Verdoppelung der Investitionen in die Schulen und das Gesundheitswesen, die Senkung des Renten-Eintrittsalters von 65 auf 60 Jahre. Die Regierung bezahle diese Programme durch eine Anhebung der Steuern auf Öl-Gewinne von 18 % auf 82 %. Hauptsächlich mit dieser Erhöhung habe das Land seine Schulden abbauen und den weltweit größten Überschuss generieren können. Nach Schätzungen hat Bolivien jetzt die am schnellsten wachsende Wirtschaft in diesem Jahr (und voraussichtlich auch in den Folgejahren), glaubt man den Angaben des IWF. Zu schön um wahr zu sein?
Eine rosige Zukunft für Bolivien? Manche wollen es gerne glauben. Zumindest geht es wirtschaftlich bergauf. – Fotomontage © US Uncut via Facebook (freigegeben zur Weiterverbreitung)
Kritiker behaupten, die Einnahmen sprudelten nicht alleine aufgrund einer Besteuerung von Gas- und Öl-Gewinnen, man müsse miteinrechnen, dass die gesamte Gasindustrie vor wenigen Jahren kurzerhand verstaatlicht worden sei damit diese Gewinne zu 100% konfisziert. Auch den anderen postiven Meldungen stehen noch zahlreiche Mißstände entgegen, die einer allzu euphorischen Bewertung widersprechen. Bolivien ist immer noch das zweitkorrupteste und das zweitärmste Land Südamerikas. (die rote Laterne hat jetzt der Nachbar Paraguay)
Der Rauswurf der DEA*, der unter anderem als Akt der Befreiung von amerikanischen Imperialismus gefeiert wurde, leistete jedoch einer ansteigenden Korruption und Gesetzeslosigkeit Vorschub.
[*Die Drug Enforcement Administration (DEA, „Drogenvollzugsbehörde“) ist eine US-amerikanische, dem Justizministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Strafverfolgungsbehörde mit dem Ziel, die illegale Herstellung von Drogen und den Drogenhandel in den USA zu unterbinden.]
Um die innere Sicherheit im Land ist es schlecht bestellt. Es wird immer noch von Menschenhandel, Verschleppung und Entführungen berichtet, nicht selten seien lokale Polizeikräfte darin verstrickt. Von “Express-Entführungen”, bei denen ankommende Touristen abgefangen werden, um ihnen unter Waffengewalt die Herausgabe von Kreditkarten und PIN-Nummern abzupressen, wird seit einiger Zeit gewarnt. Drogenkonsum und besonders -Exportumsätze steigen derzeit laut offizieller Meldungen wieder an. Die Infrastruktur und Gesundheitsversorgung sind trotz aller Verbesserungen mangelhaft, viele Menschen leben immer noch in bitterer Armut oder auf der Straße.
M.Aguirre aus Bolivien schreibt bei “US Uncut” als Kommentar zum obigen Artikelbild: “Evo hat zu viel Geld verschwendet, um Arbeitsplätze mit Doktoren und Ingenieuren aus Cuba und Venezuela zu besetzen. Jetzt haben viele Fachkräfte in unserem Land plötzlich keinen Job mehr. Es ist die Ära der Idiotie und Ignoranz in Bolivien.”
Das Land ist verkehrsmäßig bisher nur sehr schlecht erschlossen. Laut Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es in Bolivien bisher nur etwa 3.000 km asphaltierte Straßen, viele Schotterpisten und Landstraßen sind gefährlich, Fahrten in der Dunkelheit lebens-gefährlich, der Schienenverkehr marode, die Mobilität der ärmeren Teile der Bevölkerung gering.
Zweiteilung Boliviens und Inlandsmigration, Verarmung des Westens – Bolivien “Media Luna” – Grafik: © CC BY-SA 3.0
Es zeichnet sich eine Zweiteilung (West/Ost) des Landes ab, die auch durch eine innenpolitische Spaltung widergespiegelt wird. (1) “Die ehemals wohlhabenden und bevölkerungsreichen westlichen Regionen im Hochland (Departamentos Chuquisaca, Cochabamba, Oruro, La Paz und Potosí), in denen sich auch die Hauptstadt Sucre und der Regierungssitz La Paz befinden, sind nach dem Niedergang des Bergbaus verarmt und verlieren seit Jahren durch Binnenmigration Bevölkerung an die östlichen, ganz oder teilweise im Tiefland gelegenen Departamentos (Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija). Dort haben sich in den letzten Jahren durch die Erschließung der Öl- und Gasreserven sowie durch eine moderne, teilweise industrialisierte Land- und Forstwirtschaft profitable, wachsende Industrien und ein wohlhabendes Bürgertum entwickelt. Die vier Tiefland-Departamentos Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija werden in der politischen Diskussion oft zusammenfassend als Media Luna („Halbmond“) bezeichnet, da ihre Form auf einer Landkarte von Bolivien an eine Mondsichel kurz vor Halbmond erinnert.
Die Departamentos des Media Luna, insbesondere Santa Cruz, fordern die Beibehaltung und den Ausbau des in den 1980er-Jahren eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems und des Großgrundbesitzes.”
(Siehe Wikipedia/Bolivien)
Ob der Weg Boliviens so beispielhaft ist und die Zukunft des südamerikanischen Landes wirklich so rosig, wie das obige Positiv-Bild suggeriert, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie die inländischen Krisenherde gemeistert werden und ob die immer wieder aufflammenden sozialen Unruhen, die teilweise rassistische Tendenzen der Bevölkerungsteile gegeneinander hervorbringen, zur Spaltung und Lagerbildung innerhalb der Zivilgesellschaft Boliviens führen werden oder nicht.
Mit einem PR-Feldzug versucht derweil der wiedergewählte Präsident Morales seine Landsleute um sich zu scharen und sich zum Nationalhelden aufzuschwingen. Mit neuem Selbstbewußtsein und wirtschaftlicher Stärke ausgestattet, will sich Bolivien unter seiner Führung seine verlorene Küste von Chile zurückholen, mit “friedlichen Mitteln”, wie versichert wird. Vor über 130 Jahren hatte Bolivien den eigenen Küstenstreifen im sog. “Salpeterkrieg” an Chile verloren. Im 3.800 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Titicacasee übt bereits eine national-stolze Marine für den Tag, an dem Bolivien wieder einen Meereszugang mit Hafen verteidigen kann. Ein eigener, souveräner Hafen wäre dringend nötig, wenn Bolivien wirtschaftlich weiter wachsen will, argumentiert man und hofft, dass am Verhandlungstisch in Den Haag der Nachbar Chile dazu bewegt werden kann, entsprechende Zugeständnisse zu machen. (2)
Neben der propagandistischen Bedeutung und Stärkung nationaler Identität durch die “Maritime Sache” und der prognostizierten positiven wirtschaftlichen Entwicklung, wird man die gerade wiedergewählte Regierung Evo Morales auch daran messen müssen, ob es gelingt, die Schwächen ihres Staatswesens in den Griff zu bekommen. Und ob so etwas, das man ansatzweise als “soziales Netz” bezeichnen kann, sich entwickeln könnte. Bisher kommt vom Wachstum und dem “neuen Reichtum” des Landes trotz der Erfolgs-Schlagzeilen bei vielen Menschen rein gar nichts an.
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Quellen – weiterführende Links
Fotomontage Bolivien – Foto: © US Uncut via Facebook (freigegeben zur Weiterverbreitung)
IWF Zahlen März 2014 Country Report No. 14/77
(1) “Electoral Reform, Regional Cleavages, and
Party System Stability in Bolivia” von Miguell Centellas, http://journals.sub.uni-hamburg.de/giga/jpla/article/view/42/42)
(2) ARD-Weltspiegel – Bolivien: Kriegsmarine auf dem Titicacasee
weitere Quellen:
“Evo Morales has proved that socialism doesn’t damage economies. Bolivia’s re-elected president has dumbfounded critics in Washington, the World Bank and the IMF. There are lessons for Britain’s left here..” http://bit.ly/11jrsOg
“Bolivia’s Economy Under Evo in 10 Graphs” – http://bit.ly/1tuWVJH