Reichlich und viel gestaltet sich heute wie ein Fettfleck. Wie jener berühmte Fettfleck, den Ingo Schulze in seinem herausragenden Essay zitiert - ein Fettfleck, von dem Schulze wiederum aus einem Essay von Franz Fühmann erfuhr. Der meinte, dass die Kritik im Lande DDR einem solchen Fleck auf den unsichtbaren Kleidern des Kaisers gleiche. Keiner sage nämlich, dass es da gar keine Kleider gibt. Der kindliche Ausruf Aber er hat ja gar nichts an! bleibe gänzlich aus. Anstelle dessen bekrittele man den einen oder andere Dreck- oder Fettfleck, den man auf dem unmerklichen Gewand entdecke. Eine solche Kritik an unsichtbarem Gestrick sei nicht weniger als eine Posse.
Schulze schreibt, das diese Kritik des vermeintlichen Fettflecks nur Kritik vortäusche. Simulierte Opposition sei das. Pseudokritik, die "affirmativer als jede Lobpreisung oder Rechtfertigung des Bestehenden" ist. Denn es wird grundsätzlich anerkannt, was gar nicht vorhanden ist.
Solchen Fettbefleckungen sieht man sich heute fast dauerhaft gegenübergestellt. Kein richtiges Leben im falschen, hätte ein bekannter Soziologe zu seiner Zeit präzisiert. Die Kritik mit dem Fettfleck auf einem Gewand, das offenbar für jedermann sichtbar ist, obgleich es nicht da ist, dürfte aber bildhafter sein, als Parabel mehr Gewicht erzielen, als die oft trockene Analytikersprache des oben ungenannten Soziologen.
Schulze arbeitet sich in seinem Büchlein - der überarbeitete Abdruck einer Rede, die er hielt - an dem ab, was unser aller Alltag ist. Als Beispiel: So wie ich vom Fettfleck las, sah ich mich ins hessische Schulsystem geschmissen, in dem ich nun seit knapp zwei Monaten als Elternbeirat walte. Klar war mir, dass ich dort keine Bäume ausreißen werde, dass mein Beitrag nur gering sein würde, vielleicht überhaupt nicht beitragen würde. Nun sehe ich, dass es ein Kampf gegen Worte ist, wenn Lehrer von "funktionierenden Schülern" reden und Rektoren Eltern als Kunden titulieren - es ist ein Kampf gegen Willkür, gegen absichtlich leer gehaltene Schulkassen, gegen all die scheußlichen neoliberalen Agenden im Schulalltag; ein Kampf gegen ein Bildungssystem, in dem Schüler wettbewerberisch in Stellung gebracht werden, in dem Lehrer überfordert sind, wenig ermutigen, aber leicht entmutigen, wenn sie von der grauen Zukunft sprechen, die einem widerfährt, falls sich die Zensuren nicht endlich merklich bessern.
"Im Übrigen meine ich, dass die Mauer abgerissen werden sollte", wäre der ursprünglichste Satz jedweder Kritik in der DDR gewesen, meint Schulze weiter. Dieser Satz wäre die Wurzel, lateinisch: die radix, wovon sich das Beiwort radikal ableitet - jede Kritik hätte mit diesem Satz einhergehen müssen; jede Kritik hätte also radikal sein müssen, wenn sie als Kritik aufrichtig sein wollte. Das wäre aber stets unrealistisch gewesen, denn wer hätte das schon durchgehalten? Doch die Kritik an Alltagsproblemen innerhalb der DDR hätte bedeutet, dem Bestehenden in die Arme zu fallen - erst wenn man das mit der Mauer gesagt hätte, wäre der Kritik der würdige Rahmen verpasst worden. Und so müsste ich als Elternbeirat immer wieder nach- oder vorschieben, darlegen und zwischen die Zeilen streuen, dass ich im Übrigens meine, dass das hessische Schulsystem reformiert und vom codex neoliberalis befreit werden müsse. Weil ich das aber nicht durchhalte und weil ich mich wahrscheinlich als Diskussionspartner ins Abseits leitete, kann ich das nur selten und in ausgewählten Augenblicken tun - und so benenne auch ich nur Fettflecken auf einem Gewand, von dem jeder eigentlich sehen müsste, dass es nicht zu sehen ist, von dem aber jeder vorgibt, es zu erblicken.
Neulich ein Gespräch mit meiner Stellvertreterin. Ich wurde grundsätzlich, meinte sinn- nicht wortgemäß, dass ich im Übrigen meine, dass das System marode sei - absichtlich marodisiert natürlich, denn der schlanke Staat, dieses neoliberale Schlagwort, meint ja auch gertenschlanke Schulen. Es ging um die Renovierung des Klassenzimmers. Die Schule finanziert dergleichen nicht - sie wird von der Landesregierung finanziell kurzgehalten, sodass andere, existenziellere Dringlichkeiten schon nicht bezahlt werden können. Höchstens und vielleicht und eventuell, wenn viele Eltern intervenieren, dann könnte sich was machen lassen. Ich vermute, man würde die billigste Farbe bezahlen und dann könnte man sehen, wer sich einsprenkelt und volltupft. Womöglich finde sich dann jemand, sagte man mir in jenem Gespräch, irgendein Elternteil, das das Malen übernehmen würde. Ich sagte, dass ich nicht gewillt bin, die Schule und die hiesige Bildungspolitik aus der Verantwortung schleichen zu lassen, um dann die Eltern mit dem zu behelligen, was Aufgabe der öffentlichen Hand wäre, nicht des privaten Engagements einiger Eltern - das war sozusagen mein ceterum censeo an jenem Tag. Nein, sagte die Stellvertreterin, sie denke viel da pragmatischer. Was ist eigentlich das Gegenteil von Pragmatik? Ist es Starrheit? Gar Starrsinn? Ist es ideologische Borniertheit? Verkrustet?
Die unsichtbaren Kleider nicht zu sehen, dazu zu stehen, sie nicht sehen zu können, verortet einen in Hilflosigkeit. Man wird für blöd, mindestens aber für sonderbar erklärt, wenn man stur dabei bleibt - oder man rutscht ins Affirmative, weil man sein ceterum censeo nicht mehr anbringt. Wenn man mit einem Lehrer über das Wie und Ob pädagogischer Maßnahmen diskutiert, dann bejaht man solche Maßnahmen nicht nur: man bejaht solche Maßnahmen in der Schule, wie sie aktuell ist, wie sie gestaltet und abgewirtschaftet wird. Ein Konsens innerhalb des falschen Lebens ist immer auch das affirmative Zugeständnis dieses verfälschten Entwurfes. Schon wenn man über die Gestaltung des Pausenhofes in einer solchen Schule in einem solchen System spricht, erkennt man den status quo an, erkennt man ein System an, das neoliberal zum Himmel stinkt.
Fettflecken auf transparentem Gewebe begegnen uns überall. Wenn wir derzeit davon berichtet bekommen, wie innerhalb der Sozialdemokratie die Kanzlerfrage gestellt wird, dann handelt es sich auch hier alleinig um Fettflecken, die uns als Alternative gereicht werden. Die K-Frage ist in ihrer Metaphysik nichts weiter als eine F-Frage. Denn die zur Wahl gestellte Person, gleich welchen Namens, ist nicht als Alternative gedacht, nicht als Kind, das Aber er hat ja gar nichts an! ruft. Der potenzielle Kanzler ist nur ein verschobener, an andere Stelle eingewirkter Fettfleck. Überparteilich gestaltet sich die Wahl der potenziellen Kanzler nicht anders. Wo landet der Fleck? Ganz rechts als konturloser Wust an Fettspritzer, indem der Kanzler diese Kanzlerin bleibt oder nicht völlig rechts als fettiges Gekleckse, indem der Kanzler aus der Sozialdemokratie kommt?
Überall diese öligen, schmierigen Flecken, die wir Kritik taufen - aber das Gewand wird als gegeben vorausgesetzt. Es existiert dabei in keiner wahrnehmbaren Dimension, gleichwohl ist die Zustimmung einem eindimensionalen Denkmuster geschuldet. Dieses "eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformationen systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden", schreibt Herbert Marcuse - jener Denker, der wie kein anderer in unsere Zeit passt. Das Gewand ist eine Hypothese und wer es nicht hypothetisch annimmt und sich demgemäß sprachlich und inhaltlich ausrichtet, verwirft diese Hypothese und beraubt sich damit des Fundaments jedes Dialogs, nimmt sich selbst die Worte, macht sich unverstanden. Das hypothetische Gewand ist eine totalitäre Diktatur, es nicht zu erkennen, verstößt gegen den Sittenkodex dieses Diktats. Beanstandete Fettflecken nerven die Schneider und Designer unsichtbarer Gewänder durchaus, denn sie rauben Zeit und Nerven und werden als querulantisch eingestuft. Aber gleichzeitig ist das Deuten solcher Flecken ja auch der Beweis dafür, dass man das Kleid sieht. Sagt man Fettfleck, so sagt man damit ja auch: ich sehe das Gewand! Da ist es! Ich sehe es so unglaublich gut, dass ich sogar diesen einen Fleck darauf entdeckt habe!
Schulzes Essay trage ich nun bei mir, wie eine tiefe Erkenntnis. Die ist mir jedoch insofern nicht neu, was er schreibt, habe ich so oder ähnlich vorher schon empfunden oder gewusst. Aber es ist, wie er selbst schreibt: Das Selbstverständliche ist uns so selten geworden, dass wir die Nennung des Selbstverständlichen in uns saugen, wie einen kostbaren und raren Schatz. Aber er hat ja gar nichts an! ist für uns eine so profunde Einsicht, dass wir uns verneigen vor denen, die es sich trauen, die kaiserliche Nacktheit zu benennen. Dabei ist es nur das Offenkundige. Dieses Selbstverständliche verleugnet: das ist die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern. Aber er hat ja gar nichts an!, denke ich mir heute mehrmals täglich zur eigenen Ermutigung und Erbauung, wenn es mal wieder mit Leuten zu tun hatte, die bloß Fettflecken bemängeln und fleißig an ihnen herumtupfen - die sie nicht verreiben, denn Fettflecken tupft man ausschließlich.
Sehen sie denn nicht, dass sie ins Leere tupfen?
"Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie - für demokratiekonforme Märkte" von Ingo Schulze erschien bei Hanser Berlin.